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Versteckte Jahre 

Der Mann, der meinen Großvater rettete

von Anna Goldenberg

ISBN: 9783552073708
Erscheinungsdatum: 23.07.2018
Verlag: Zsolnay, Paul
Sammlung: 35 Bücher unter 35
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Format: Taschenbuch
Umfang: 192 Seiten
Preis: € 22,70
Kurzbeschreibung des Verlags

Wien-Leopoldstadt, Sep­tem­ber 1942: Hansis El­tern und sein jün­ge­rer Bru­der müs­sen ins Sam­mel­la­ger, um nach There­sien­stadt um­ge­sie­delt zu wer­den. Gleich­zei­tig ver­lässt der 17-jäh­rige Hansi das Haus. Im Flur nimmt er den gel­ben Stern ab, steigt in die Straßen­bahn und fährt zum Kin­der­arzt Josef Feldner. Sei­ne Fa­mi­lie wird Hansi nie mehr wie­der­se­hen. Bis zum Ende des Krie­ges ver­steckt und ver­sorgt „Pepi“ den jun­gen Mann in sei­ner Woh­nung. Auch spä­ter bleibt Hansi mit sei­nem Ret­ter ver­bun­den, sie früh­stücken täg­lich mit­einan­der, fah­ren ge­mein­sam auf Ur­laub. Hans‘ Enke­lin, Anna Gol­den­berg, die Enke­lin von Hans und Hel­ga Feld­ner-Bustin, re­kon­stru­iert diese sin­gu­läre Fami­lien­ge­schichte als große Re­por­tage und als Por­trät eines Hel­den, der nie einer sein wollte.

FALTER-Rezension

Lücken der Erinnerung

Anna Goldenberg in FALTER 4/2025 vom 22.01.2025 (S. 25)

Eva Ribarits erzählt in Schu­len gerne die Sache mit dem Heu­ri­gen. Riba­rits kam 1943 als Toch­ter jüdi­scher Flücht­linge in Lon­don zur Welt. Als sie vier Jahre alt war, folg­ten die El­tern, über­zeugte An­hän­ger des Kom­mu­nis­mus, den Auf­ru­fen der KPÖ, nach Wien zu­rück­zu­keh­ren. Dort woll­ten sie den Sozia­lis­mus voran­trei­ben -doch statt­des­sen lan­de­ten sie mit­ten in der des­illu­sio­nier­ten Nach­kriegs­ge­sell­schaft. "Die Leu­te ha­ben den Krieg und ihre Ideo­lo­gie ver­lo­ren", sagt Riba­rits. "Das hast du in ihren Ge­sich­tern gesehen."
Die Familie fiel auf, auch op­tisch. Eva und ihre Schwes­ter hat­ten dunk­les, fast krau­ses Haar. "Ich habe ge­spürt, dass man mir feind­lich ge­gen­über­stand", sagt sie. Als Jüdin, als Kom­mu­nis­ten­kind, als ver­meint­lich Fremde. "Wir wä­ren als Fa­mi­lie nie zu ei­nem Heuri­gen ge­gangen."

Mit ihren Erfahrungen als Flücht­lings­kind könne sie zu den jun­gen Men­schen, de­nen sie über ihr Le­ben und das ihres Va­ters er­zählt, eine Ver­bin­dung auf­bauen, führt Riba­rits aus. Und viel­leicht sei das ja 80 Jahre nach Kriegs­ende eine Mög­lich­keit, zu ver­mit­teln, wa­rum es wich­tig ist, sich mit der NS-Zeit im All­ge­mei­nen und dem Holo­caust im Spe­ziel­len zu be­schäf­ti­gen. Vor al­lem in einer Ge­sell­schaft, die längst nicht mehr so homo­gen ist wie in den 50er-Jah­ren, als sich die Fa­mi­lie Nürn­ber­ger - so hieß Riba­rits' Fami­lie - nicht in Heu­rige traute. Es gibt in Wien kaum mehr eine Schul­klas­se, in der nicht zu­min­dest eine Per­son eine Flucht­ge­schichte hat.

Ribarits bezeichnet sich selbst als der "ein­ein­halb­ten" Gene­ra­tion zu­ge­hörig. Ihrer Mut­ter Hilde ge­lang 1937 die Flucht nach Eng­land mit­hilfe eines ge­fälsch­ten Pas­ses. Ihr Va­ter Arthur über­lebte die Kon­zen­tra­tions­la­ger Dachau und Buchen­wald und konnte 1939 nach Eng­land aus­rei­sen. Schon ihr Va­ter, ein um­trie­bi­ger, red­se­li­ger Mensch, er­zählte zu Leb­zei­ten jün­ge­ren Freun­den be­reit­wil­lig seine Ge­schichte.

Nicht nur Menschen wie Nürnberger, die als Er­wach­sene wäh­rend der NS-Zeit ver­folgt wur­den, sind längst ge­stor­ben; die so­ge­nann­te erste Ge­ne­ra­tion, also jene Men­schen, die sich über­haupt aus ers­ter Hand an die Ver­fol­gung er­in­nern kön­nen, ist ver­schwin­dend klein ge­wor­den. Erinnern.at, das Pro­gramm von Öster­reichs Agen­tur für Bil­dung und Inter­na­tio­na­li­sie­rung (OeAD), das für Leh­ren und Ler­nen über den Holo­caust und die NS-Zeit ver­ant­wort­lich ist und Zeit­zeu­gen­be­suche or­gani­siert, lis­tet nur noch zwölf Per­so­nen, die für Schul­be­suche zur Ver­fü­gung ste­hen. Zwei sind 1932 ge­bo­ren, alle an­de­ren frü­hes­tens 1936, wa­ren also, so wie auch Eva Riba­rits, wäh­rend der Kriegs­jahre (Klein)Kinder.

Die Erinnerung an die NS-Zeit befindet sich an einem Wende­punkt, am Über­gang vom kom­mu­ni­ka­ti­ven zum kul­tu­rel­len Ge­dächt­nis. Die münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen ein­zel­ner Per­so­nen wer­den durch ihren Nach­lass er­setzt, durch Auf­zeich­nun­gen und Nach­er­zäh­lun­gen. Mate­rial gibt es genug. Der Holo­caust und die NS-Zeit sind das wohl am bes­ten auf­ge­ar­bei­te­te Er­eig­nis der jün­ge­ren Ge­schichte.

Allein die Shoah Foundation an der University of Southern Cali­for­nia hat über 50.000 Inter­views mit Über­leben­den auf­ge­nom­men. Auch dank der auf per­verse Wei­se akri­bi­schen Büro­kra­tie der Nazis sind vie­le Doku­mente er­hal­ten ge­blie­ben. Ge­rade in Öster­reich gibt es zu­dem kaum einen Straßen­zug, der von der NS-Zeit nicht be­rührt wurde. Das Bun­des­denk­mal­amt lis­tet rund 2100 so­ge­nannte Opfer­orte auf. Kriegs­ge­fan­genen-und Zwangs­ar­beits­lager, KZ-Außen­stel­len und Eutha­na­sie-Stand­orte.

Aber wird das alles reichen? In einem Land, in dem eine Par­tei, die von ehe­ma­li­gen SS-Män­nern ge­grün­det wurde, dem­nächst den Kanz­ler stel­len könnte? In dem laut re­prä­sen­ta­ti­ver Um­frage des Doku­men­ta­tions­ar­chivs des öster­rei­chi­schen Wider­standes (DÖW) vom Vor­jahr 42 Pro­zent fin­den, Dis­kus­sio­nen über den Holo­caust und den Zwei­ten Welt­krieg soll­ten be­endet wer­den? Ge­rade des­halb scheint es so wich­tig wie nie, der nächs­ten Gene­ra­tion zu ver­mit­teln, wie es zum größ­ten Mas­sen­mord der Mensch­heits­ge­schichte kam.

Der österreichische KZ-Überlebende Hermann Langbein über­zeugte das Unter­richts­minis­te­rium da­von, 1978 den "Re­fe­rent­en­ver­mitt­lungs­dienst für Zeit­ge­schichte" zu star­ten. Mit dem so­ge­nann­ten Bio­gra­phical Turn in der Ge­schichts­for­schung, der ab den 1980ern auto­bio­gra­fische Schil­de­run­gen auf­wer­tete, stieg auch das Inter­esse an den Er­zäh­lungen von Opfern.

Es folgten die Waldheim-Affäre 1986, das Ein­ge­ständ­nis der Mit­schuld Öster­reichs an den NS-Ver­bre­chen durch den dama­ligen Bun­des­kanz­ler Franz Vra­nitz­ky von der SPÖ 1991 und die Grün­dung der Shoah Foun­da­tion durch den US-Re­gis­seur Steven Spiel­berg 1994. Mit der Kon­se­quenz, dass Zeit­zeu­gen­be­suche aus der zeit­ge­schicht­li­chen Bil­dung nicht mehr weg­zu­den­ken sind.

Dabei beruht das Konzept auf einem un­schar­fen Be­griff. Was ist das über­haupt, ein Zeit­zeuge? Im Eng­li­schen wird statt­des­sen ent­we­der von wit­ness, dem Zeu­gen, oder sur­vi­vor, dem Über­le­ben­den, ge­spro­chen. Von wel­cher Zeit sol­len die Über­le­ben­den Zeug­nis ab­legen -der ver­gan­ge­nen oder der ak­tuel­len? Der Be­griff scheint eine Brücke zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart zu schla­gen. Für den His­to­ri­ker Daniel Schuch von der Uni­ver­si­tät Jena dient die Fi­gur des Zeit­zeu­gen einem Er­lö­sungs­ver­spre­chen, und zwar "einer ver­bes­ser­ten Zu­kunft ohne Hass, Vor­ur­tei­le und In­dif­fe­renz". Von den Über­le­ben­den wird eine mo­ra­li­sche Bot­schaft er­wartet.

Doch viel wichtiger ist ein anderer Aspekt. "Wenn sie ein­mal an­ge­fan­gen ha­ben zu fra­gen, dann fällt ihnen im­mer mehr ein, das sie noch wis­sen wol­len", be­rich­te­te die jü­di­sche NS-Über­le­bende Ger­traud Fletz­ber­ger in ei­nem Inter­view über einen Schul­be­such, der vier Stun­den dau­erte. Fletz­ber­ger, Jahrgang 1932, ent­kam 1938 mit einem Kin­der­trans­port nach Schwe­den. "Je mehr sie fra­gen, umso mehr Ab­gründe, über­trie­ben ge­sagt, ma­chen sich auf."

Fragen zwingt zum Nachdenken - und zum Her­stel­len ei­ner Ver­bin­dung zu sich selbst. Es ent­steht so­mit eine "Er­zäh­lung von Ge­schichte als Ver­knüp­fung un­seres Ichs mit der Welt", so der Schwei­zer Wis­sen­schaft­ler Peter Gaut­schi. Die USC Shoah Foun­da­tion ex­peri­men­tiert mit inter­ak­ti­ven Videos, die mit­tels Sprach­er­ken­nungs­soft­ware die Fra­gen er­ken­nen und ein au­then­ti­sches Zeit­zeu­gen­ge­spräch simu­lieren. "Da sind wir kri­tisch", sagt Pat­rick Sie­gele, der Erinnern.at lei­tet. "Es sug­ge­riert et­was, das es nicht gibt. Dahin­ter steckt näm­lich nicht die Be­geg­nung mit einem ech­ten Men­schen, son­dern mit einer Ma­schine, die der Lo­gik von Algo­rith­men folgt."

Bei den persönlichen Gesprächen hingegen geht es um das Ler­nen aus Le­bens­ge­schich­ten. Er­zäh­len die Über­le­ben­den vom er­zwun­ge­nen Um­zug, vom Ver­lust eines Freun­des oder viel­leicht ein­fach nur da­von, ge­fro­ren zu ha­ben, weckt das Asso­zia­tio­nen bei den Schü­lern. Durch ge­teil­tes Er­leben ent­ste­hen Ver­bin­dungen.

So kann auch Eva Ribarits bei den Schülerinnen und Schülern an­docken. Die Flucht, das Fremd­sein, das Trauma der El­tern, das sind The­men, die auch im 21. Jahr­hun­dert noch prä­sent sind. "Die Kin­der fra­gen oft, ob ich lie­ber in ei­nem an­de­ren Land ge­lebt hätte", sagt Ribarits.

Erinnern.at, das als Ein­rich­tung des Bundes Holo­caust­ver­mitt­lung or­gani­siert und för­dert, setzt nun auf Men­schen wie Riba­rits, die Er­zäh­lun­gen ihrer El­tern und teils auch Groß­el­tern wei­ter­geben - die so­ge­nannte zwei­te und drit­te Gene­ra­tion. Schließ­lich lässt sich auch hier Authen­ti­zi­tät her­stel­len, und, vielvleicht noch wich­ti­ger, die Mög­lich­keit, Fra­gen zu stel­len. Ein sol­ches Pro­jekt mit Schul­be­su­chen von Nach­kom­men wird seit ver­gan­ge­nem Jahr auch wis­sen­schaft­lich be­gleitet.

"Nachkommengespräche können auch eine gute Mög­lich­keit sein", sagt Daniela Lackner. So viel Er­fah­rung hat sie da­mit noch nicht ge­macht, fügt sie hin­zu. Lackner ist Leh­re­rin für Ge­schichte, poli­ti­sche Bil­dung und Eng­lisch an der BAfEP 10, der Bun­des­bil­dungs­an­stalt für Ele­men­tar­päda­go­gik in Wien-Favo­riten. Im Schul­jahr 2022/23 star­tete sie erst­mals ein Ge­denk­pro­jekt mit einer Schüler­gruppe.

Gemeinsam erarbeiteten sie einen Er­in­ne­rungs­weg durch Favo­riten: Sechs Sta­tio­nen gab es, da­run­ter den ehe­ma­li­gen Humboldt-Tempel, eine Syna­goge mit 700 Sitz­plät­zen, die wäh­rend der No­vem­ber­po­grome 1938 zer­stört wurde, und den Ba­ranka-Park, einst Lager­platz für Roma, Sinti und Lo­vara. Einen Ge­denk­stein im Böh­mi­schen Pra­ter setzte die Schu­le selbst. Die Schü­ler über­setz­ten die In­halte auf Bos­nisch/Kroa­tisch/Ser­bisch, Rus­sisch, Ara­bisch und Türkisch.

Für eine Begegnung mit dem 1933 ge­bo­re­nen Kurt Hill­mann, der die NS-Zeit als so­ge­nann­ter "Misch­ling" über­lebte, reiste die Grup­pe da­mals nach Ber­lin. "Kaum hat er den Raum be­tre­ten, ist es ganz still ge­wor­den", er­innert sich Lackner. "Er hat­te noch gar nichts ge­sagt." In den Fol­ge­pro­jek­ten wird Lack­ner auf sol­che Be­geg­nun­gen wohl ver­zich­ten müs­sen. Was sind die Alter­na­tiven?

Je weniger Zeitzeugen sprechen, desto größ­ere Be­deu­tung er­hal­ten die Orte der Ver­fol­gung. Schließ­lich ver­mit­teln auch sie Au­then­ti­zi­tät, sind ein Zeug­nis der Zeit. Und sie hel­fen, Men­schen mit unter­schied­li­chen Ge­schich­ten zu ver­bin­den. In Lack­ners Grup­pen liegt der An­teil von Schü­lern mit Mi­gra­tions­hin­ter­grund bei gut 80 Pro­zent. Im­mer wie­der, er­zählt Lack­ner, höre sie dann von ei­ni­gen Schü­lern, dass sie sich für die Er­inne­rung an die NS-Zeit nicht wirk­lich ver­ant­wort­lich füh­len. "Das ist nicht un­se­re Ge­schichte, wir wa­ren nicht be­teiligt."

Oft wird dann erst einmal gemeinsam erarbeitet, welche Rolle ihre Her­kunfts­län­der wäh­rend der NS-Zeit spiel­ten. Wa­ren es Ver­bün­dete von Nazi-Deutsch­land, so wie die Tür­kei? Wur­den auch dort Kriegs­ver­bre­chen ver­übt, wie auf dem Bal­kan? Ver­or­tet man die Ge­schich­te im ei­ge­nen Grät­zel, im ei­genen Schul­bezirk, ent­steht etwas Ver­bin­den­des. "Dann ist es plötz­lich ihre Ge­schichte, weil sie davor­stehen", sagt Lackner.

Historische Orte haben eine eigene Kraft. Die meisten Men­schen, die das erste Mal die Ge­denk­stät­te des ehe­ma­li­gen Kon­zen­tra­tions­la­gers Maut­hau­sen be­su­chen wür­den, seien über­wäl­tigt von dem An­blick, sagt Gudrun Bloh­berger, die päda­go­gi­sche Lei­te­rin der Ge­denk­stät­te. Die Größe des Are­als, wie es auf dem Hü­gel thront, weit­hin sicht­bar, die lieb­li­che Land­schaft rund­he­rum. "Die Men­schen se­hen, dass es eine wahre Ge­schichte ist." Gut 4300 Ver­mitt­lungs­pro­gram­me fin­den je­des Jahr dort so­wie in den ehe­ma­li­gen Außen­la­gern Melk und Gusen statt.

Bei den Rundgängen ist der ehe­ma­li­ge Fuß­ball­platz der SS eine der ers­ten Sta­tio­nen. Heute ist dort nur noch eine Wiese, im Früh­ling blü­hen Wild­blu­men. Alte Auf­nah­men zei­gen, dass es Zu­schauer­tri­bü­nen gab. Men­schen aus der Um­ge­bung sa­hen also regel­mäßig zu. Der Fuß­ball­platz war mit einem Stachel­draht vom ehe­ma­li­gen Sani­täts­lager des KZ ab­ge­trennt, je­nen Ba­racken, in denen nicht mehr ar­beits­fä­hige Men­schen unter­ge­bracht wur­den. "Wir be­zeich­nen es heute als Ster­be­lager", sagt Blohberger.

Wer zum Fußballspiel kam, sah also ins Lager hinein. Tä­ter, Opfer und Zu­se­her tra­fen auf kleins­tem Raum auf­ei­nan­der. Wie konnte das sein? "Vie­le Be­su­cher ver­muten, dass die lo­kale Be­völ­ke­rung ge­zwun­gen wurde, die Spiele an­zu­se­hen", er­zählt Gudrun Bloh­berger. "Da­für gibt es in der Ge­schichts­schrei­bung aber keine Indizien."

Der Ort zwingt zur Auseinandersetzung und zum Fra­gen­stel­len, an die Ge­schichte und an sich selbst. "Kon­takt­zonen der Ge­schichts­ver­mitt­lung" nennt die öster­rei­chi­sche Kul­tur­wis­sen­schaft­lerin Nora Stern­feld sol­che An­läsvse und Räume in ihrem gleich­nami­gen Buch -und wirft die Fra­ge auf, wel­ches Ver­hal­ten dort an­ge­messen ist.

Sie zitiert einen Überlebenden des KZ Bergen-Belsen: "An­ge­mes­se­nes Ver­hal­ten an diesem Ort - was ist das? Als ich hier war, wurde hier ge­mor­det und ge­stor­ben. Das war das an­ge­mes­sene Ver­hal­ten in Bergen-Belsen "

Die meisten jungen Menschen, die erstmals kommen, seien eher ängst­lich und an­ge­spannt, er­zählt Bloh­ber­ger. Da­bei dürf­ten Be­su­cher ohne­hin al­les sa­gen und fra­gen. Ver­gleicht bei­spiels­weise je­mand Gaza mit einem KZ, wird die Grup­pe ein­ge­bun­den. Wer denkt an­ders? Wie kommt die Per­son zu die­ser An­sicht?"Wir brau­chen Ver­glei­che, um uns in der Ge­schichte orien­tie­ren zu kön­nen", sagt Bloh­berger. "Aber wir müs­sen heraus­ar­bei­ten, was heute an­ders ist."

Das ist auch Eva Ribarits wichtig. Wenn sie den Schüler­in­nen und Schü­lern er­zählt, dass sie als Kind die Ab­leh­nung ihrer Um­ge­bung spür­te, fügt sie im­mer hin­zu, dass sich die Zei­ten ge­än­dert ha­ben. Die Ge­sell­schaft ist nun di­ver­ser und offe­ner. Auch beim Heurigen.
 

Die vielen Leben der Helga Feldner-Busztin

Anna Goldenberg in FALTER 44/2024 vom 30.10.2024 (S. 19)

Das muss es gewesen sein", sagte meine Groß­mut­ter. Sie stand vor einem gel­ben Wohn­haus in Tere­zín. Das ehe­ma­lige Garni­son­städt­chen im Nor­den Tsche­chiens hieß einst The­re­sien­stadt, in der NS-Zeit war hier ein Kon­zen­tra­tions­lager. 1943 hat­ten die Nazis meine da­mals 14-jährige Groß­mutter Helga aus Wien dort­hin ver­schleppt, weil sie Jüdin war. Durch di­ver­se glück­liche Fü­gun­gen über­leb­te sie bis zur Be­frei­ung über zwei Jahre später.

Und nun befanden wir uns wieder an diesem Ort. Es war Au­gust 2013, ich sollte über un­seren ge­mein­samen Aus­flug eine Re­por­tage schrei­ben. Helga, da­mals 84, brauchte keine Moti­va­tion meiner­seits, die eher trost­losen Straßen zu er­kunden. Im Gegen­teil. Die Ka­ser­nen­fens­ter, die Kir­che, der Markt­platz, das Stadt­tor - wenn sie etwas wie­der­er­kannte, er­zählte sie be­reit­willig.

Auch über L414, das ehemalige Mädchen­heim, vor des­sen Fas­sade wir nun stan­den. Auf Stroh­säcken hat­ten sie ge­schla­fen, die Bett­wan­zen wa­ren eben­so eine Qual ge­wesen wie der stän­di­ge Hun­ger. Im­mer war sie auf der Suche nach Ess­barem, seien es Reste oder Herunter­ge­fallenes.

Das Eingangstor des gelben Wohn­hauses war un­ver­sperrt, sie trat ein. Das Haus schien be­wohnt, aber ver­wahr­lost, Spinn­weben, Tau­ben, Ge­rüm­pel. Selbst­be­wusst stieg Helga den Halb­stock hi­nauf und blickte aus dem Fenster.

Ja, das sei es gewesen. Sie war zu­frie­den, wei­ter ins Haus vor­drin­gen wollte sie dann doch nicht.

Lange Jahre hatte ich meine Großmutter nur als Groß­mut­ter ge­se­hen. Und die­sen Job er­füllte sie in mei­nen Kin­der­au­gen sehr gut: Sie holte mich von der Volks­schule ab, hat­te stets Süßig­kei­ten da­bei und strickte bunte, warme Socken. Ihre Ge­schenk­e waren groß­zü­gig; wer krank wur­de, be­kam min­des­tens einen täg­lichen Anruf.

In anderen Belangen war sie aber eher untypisch. Sie nahm bis Mitte 80 an Aerobic-Stun­den im Fit­ness­cen­ter teil und ach­tete auf ihr Ge­wicht. Sie war schonungs­los ehr­lich und sprach aus, wenn sie den Lebens­wan­del ande­rer nicht gut­hieß. Weh dem, der rauchte! Außer­dem ar­bei­te­te sie bis in ihr 90. Lebens­jahr hinein als Ärztin.

Erst als ich älter wurde, begann ich, über den Zu­sam­men­hang mit ihrer Ver­gan­gen­heit nach­zu­den­ken. Der Hun­ger hat­te wohl ihr eigen­ar­ti­ges Ver­hält­nis zum Es­sen ge­prägt, die Lü­gen des NS-Regimes viel­leicht das Be­dürf­nis nach Wahr­haf­tig­keit. Und die­ser Ehr­geiz stammte mög­li­cher­wei­se von je­nem Er­leb­nis, das sie stets zu den schlimms­ten ihres Le­bens zähl­te: der Tag im Früh­jahr 1938, als sie, ge­rade ein­mal neun Jahre alt, aus ihrer Volks­schul­klas­se ge­wor­fen wur­de, weil sie Jüdin war.

Allen zu beweisen, dass sie kein Mensch zwei­ter Klas­se sei, das trieb sie an. Im Nach­kriegs­wien lernte sie mei­nen Groß­va­ter Hansi ken­nen, sie 16, er 19. Den Holo­caust hat­te er hier über­lebt, weil ihn sein ehe­ma­li­ger Schul­arzt ver­steckt hat­te; die El­tern und der jün­gere Bru­der wa­ren im KZ er­mor­det worden.

Hansi hatte gerade sein Medizinstudium begonnen, Helga ging noch zur Schule. Doch weil sie gleich­auf sein wollte, brach sie die Schule ab, be­suchte statt­des­sen einen Ma­tura­kurs - und pa­ral­lel die Medi­zin­vor­lesungen.

Vereint im Willen, aus diesem Leben, in dem schon so viel zer­stört wor­den war, et­was zu ma­chen, blie­ben Hansi und Helga 50 Jahre lang ein Paar. Helga wurde Ober­ärz­tin, sie be­kamen vier Kin­der und zo­gen aus der Ge­mein­de­woh­nung in ein Haus.

Was sie erlebt hatten, war präsent und doch nicht. Bei den Abend­es­sen sprach man eher über medi­zi­ni­sche Fäl­le als über die Ver­gan­gen­heit. Doch die Fa­mi­lie kannte die Ge­schich­ten, tru­gen die Kinder doch Namen der er­mor­de­ten Ver­wand­ten, und auch wir En­kel­kin­der wuss­ten, dass mein Groß­vater im Werk­zeug­kel­ler unter dem Lino­leum­boden ein manns­großes Ver­steck ge­baut hatte.

Der Holocaust hatte seinen selbst­ver­ständ­li­chen Platz im Hinter­grund des Le­bens. Sie sei nun ein­mal nicht senti­men­tal, sagte Helga. Aber viel­leicht hat­te sie nicht den Raum, um sich aus­zu­drücken. Den be­kam sie sehr spät. Erst Ende der 1980er-Jahre war die öster­rei­chi­sche Öf­fent­lich­keit be­reit, sich mit der Tä­ter­schaft wäh­rend der NS-Zeit zu be­schäf­ti­gen. 1998 gab Helga ihr ers­tes län­ge­res Inter­view - der von Steven Spiel­berg ge­grün­de­ten US-ameri­ka­ni­schen Shoah Foun­dation.

Nach und nach kamen in Österreich immer mehr enga­gier­te Men­schen, die sie be­frag­ten und ein­luden. Be­son­ders gerne ging sie an Schu­len. Wie­der und wie­der er­zähl­te Helga dort ihre Ge­schichte. Mit ihrem ruhi­gen, aber be­harr­li­chen Ehr­geiz machte sie sich an die neue Le­bens­auf­gabe. Sie ge­noss die ehr­li­che Auf­merk­sam­keit und die in­teres­sier­ten Fragen.

Ihre letzte Schulklasse besuchte sie heuer im März.

Posted by Wilfried Allé Sunday, November 2, 2025 9:46:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Trump, Putin und ihre Marionetten 

von Helmut Brandstätter

ISBN: 9783218014830
Erscheinungsdatum: 24.09.2025
Verlag: Kremayr & Scheriau
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Sonstiges
Format: Hardcover
Umfang: 296 Seiten
Preis: € 26,00
Kurzbeschreibung des Verlags

Der russische Überfall auf die Ukraine läutete 2022 eine Zeiten­wende ein, doch mittler­weile ste­hen wir be­reits vor einem Zei­ten-Ende: Vor­bei ist eine 80 Jahre dau­ernde Peri­ode, in de­nen der Wes­ten Euro­pas auf die USA als lo­ya­len Part­ner in wirt­schaft­li­chen wie ge­sell­schaft­lic­hen Bel­an­gen bauen konnte. Statt­dessen formt sich vor unse­ren Augen eine neue auto­kra­tische Achse zwi­schen Trump und Putin, die die auf­ge­klärte EU und ihre Ide­ale zu zer­rei­ben droht – von außen und von innen. 
Mithilfe willfähriger rechter Parteien in Euro­pa spal­ten sie die Werte von Frei­heit und Rechts­staat und wol­len so die euro­pä­ische Allianz zer­stören. Die kom­men­den Jahre wer­den ent­schei­dend da­für sein, ob das euro­pä­ische Werk für Frie­den und Ver­söh­nung, das als Fol­ge des Zwei­ten Welt­kriegs ins Le­ben ge­ru­fen wurde, be­ste­hen bleibt. Helmut Brand­stätter nimmt uns mit hin­ter die Ku­lis­sen des Euro­pä­ischen Par­la­ments und deckt die Mecha­nis­men auf, mit denen Trump, Putin und Euro­pas Rechte die EU zer­set­zen wol­len – und zeigt, wie sich Euro­pa da­ge­gen wehren kann.

FALTER-Rezension

Einblicke in Lügenmaschinen

Margaretha Kopeinig in FALTER 44/2025 vom 29.10.2025 (S. 19)

Helmut Brandstätter liefert in seinem neuen Buch Argu­­mente und Fak­­ten, wie Pro­­pa­­ganda und Des­­in­for­­ma­­tion auto­­ri­­tä­rer Füh­­rer ent­l­arvt wer­­den kön­­nen. Er gibt einen tie­­fen Ein­b­lick in Russ­­lands ideo­­lo­­gische Streit­kräfte im Kampf um Köpfe. Der EU-Ab­­ge­­ord­n­ete (Re­new Eu­rope) ana­­ly­­siert kreml­­nahe Me­­dien, den Out­­put der "Troll­­fa­­bri­­ken" und die Flut an Lü­­gen und "Fake News". Er zeigt auf, wie da­­mit ge­­sell­­schaft­­liche Kon­­flikte im Wes­ten ge­schürt und rechte Par­teien da­bei als Be­schüt­zer natio­naler Inter­es­sen und des "ge­sun­den Men­schen­ver­stands" posi­tio­niert werden.

Brandstätter zerstreut Hoff­nun­gen so man­cher, Russ­land werde sich nach Ver­hand­lungen mit einem Teil der Ukra­ine zu­frie­den ge­ben. Nein. Aus den Sprach­roh­ren des Kremls er­fährt man an­de­res. Wladis­law Sur­kow, einst en­ger Be­ra­ter Putins, sagte erst kürz­lich dem fran­zö­si­schen Maga­zin L'Express, dass es um das Kon­zept der "rus­si­schen Welt ohne Gren­zen" gehe. Hin­zu kom­men die USA, die den­sel­ben Feind wie Russ­land im Fo­kus haben: "Das sa­ta­ni­sche Eu­ro­pa und die sa­ta­ni­sche EU." Der ehe­ma­lige Kurier-Chef­redak­teur und Heraus­ge­ber doku­men­tiert, wie oft Donald Trump nahezu wort­gleich die Pro­pa­ganda des Kremls wie­der­holte. Trumps Ex-Freund Elon Musk ist di­rek­ter, er wünscht sich eine enge Part­nerschaft zwischen Berlin und Moskau.
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Hoffnung macht das Buch mit Blick auf die Ukraine und ihren Abwehr­kampf gegen Russ­land. Hier gilt, was Jewgeni Pri­go­schin 2023 bit­ter über Russ­lands "Spe­zial­opera­tion" kons­ta­tierte: "Wir haben aus der Ukra­ine eine Nation ge­macht, die jetzt in der Welt be­kannt ist. Und was die De­mili­tari­sie­rung be­trifft, die hat­ten zu Be­ginn 500 Panzer, jetzt ha­ben sie 5000." Brand­stät­ter be­schreibt in sei­nem sehr gut recher­chier­ten Buch auch die ra­sante Ent­wick­lung des Rechts­popu­lis­mus in Euro­pa, der mit der Spal­tung der Ge­sell­schaft punk­tet. "Das ge­lingt, weil diese Poli­ti­ker­innen es ver­stehen, die Angst und die Wut der Men­schen zu ver­bali­sieren, ob­wohl sie keine Lö­sung an­zu­bieten ha­ben, sich selbst als Opfer dar­stel­len - und die Medien mit­spielen."

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 29, 2025 9:38:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Sonstiges
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Welches Europa brauchen wir? 

Ein politisches Wunder und wie wir es vor seinen Feinden schützen

Das Buch vom gefragten Experten für eine realistische Europapolitik

von Gerald Knaus, Francesca Knaus

ISBN: 9783492072175
Erscheinungsdatum: 02.10.2025
Verlag: Piper
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Format: Hardcover
Umfang: 448 Seiten
Preis: € 26,80
Kurzbeschreibung des Verlags

Europa in Gefahr: So retten wir Friede und Freiheit 

Europafeindliche Politiker:innen greifen nach der Macht. Russland führt den größten Krieg seit 1945. Angst vor unkontrollierter Migration spaltet unsere Demokratien. Die europäische Ordnung, Friede und Wohlstand sind so bedroht wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Junge Europäer:innen wenden sich von der EU ab. Was fehlt, ist eine überzeugende Vision für einen verunsicherten Kontinent. Gerald und Francesca Knaus zeigen, wo wir Inspiration in der Geschichte finden und wie daraus Politik werden kann, die Mehrheiten überzeugt – für ein Europa ohne Kriege, politische Gefangene und Folter.

Ein Plädoyer für eine realistische Europa-Politik

FALTER-Rezension

Der europäische Chronist

Eva Konzett in FALTER 43/2025 vom 22.10.2025 (S. 18)

Gerald Knaus will sich nicht irgendwo treffen, son­dern genau hier: bei Staub und Straßen­lärm. In Wien, auf dem Mor­zin­platz, da, wo der erste Be­zirk an den Donau­kanal stößt. An ei­ner der einst sehr ge­fürch­te­ten Adres­sen der Stadt.

Die Ge­sta­po hat­te hier im Hotel Métro­pole ihr Haupt­quar­tier. Im provi­so­risch ein­ge­rich­teten Ge­fäng­nis im Kel­ler wa­ren der Va­ter und Groß­va­ter von Peter Pulzer in­haf­tiert. Und in Pulzer, dem His­to­ri­ker und Poli­tik­wis­sen­schaf­tler in Ox­ford, sieht Knaus den Schlüs­sel zu dring­li­chen Fra­gen: Wie den Auf­stieg der Rechten stop­pen? Ja, wie die Demo­kra­tie ret­ten? Knaus hat einst bei Pulzer stu­diert.

Pulzer war ein Mann, der in ei­nem demo­kra­ti­schen Öster­reich auf die Welt kam -mit ge­wähl­tem Prä­si­den­ten, un­ab­hän­gi­ger Jus­tiz und Par­la­ment. Und der noch als Kind flie­hen musste, weil seine Hei­mat zur Dik­ta­tur ver­rohte. Als er 1929 in Wien ge­bo­ren wurde, hät­te nie­mand da­rauf ge­wet­tet, dass nur neun Jahre spä­ter die Natio­nal­so­zia­listen die Macht über­nehmen wür­den. In der Reichs­pogrom­nacht 1938 plün­der­ten sie dann die Woh­nung der Fami­lie, ris­sen der Schwes­ter die Ket­ten vom Hals und sperr­ten die er­wach­se­nen Män­ner weg.

"Pulzer hat er­kannt, dass es mög­lich war, nach jahr­zehn­te­lan­gem Fort­schritt in Öster­reich inner­halb kür­zes­ter Zeit die Demo­kra­tie zu zer­stö­ren. Und wie die Nazis da­rauf zu­rück­grei­fen konn­ten, dass Intel­lek­tuel­le ihnen jahr­zehn­te­lang den Weg be­rei­tet hat­ten", sagt Knaus.

Denn wäh­rend Öster­reich offi­ziell pro­gres­sive Poli­tik machte, Frauen­rechte um­setzte und die stark an­wach­sende jüdi­sche Mind­er­heit in die Mehr­heits­ge­sell­schaft assi­mi­lierte (da­runter auch Pulzers Fami­lie), bro­del­te unter­ir­disch -und von den re­gie­ren­den Eli­ten igno­riert - das Res­sen­ti­ment. Die Hetz­schrift "Der Sieg des Juden­thums über das Ger­ma­nen­thum" bei­spiels­weise ist zwölf­mal in sechs Jah­ren er­schie­nen -und zwar schon vor dem Ers­ten Welt­krieg.

Sub­ku­tan wur­den der Mehr­heit bei je­der Er­wäh­nung der Juden die Attri­bute "skru­pel­los, lüs­tern und revo­lu­tio­när"(im Sin­ne von staats­feind­lich) ein­ge­impft. Anti­demo­kra­ten hät­ten "eine Min­der­heit aus­ge­nutzt, um den Libera­lis­mus an­zu­grei­fen", sagt Knaus. Die Nazis hät­ten dies dann nicht mit neuen Ideen, son­dern nur mit "Bru­tali­tät und Macht" er­gänzt. Oder in den Wor­ten Pulzers: "30 Jahre un­auf­hör­li­cher Pro­pa­ganda waren wirk­samer ge­wesen, als die Men­schen zu jener Zeit glaub­ten."

Das er­innert schon sehr an die Ge­gen­wart. In Deutsch­land, Frank­reich und Groß­bri­tan­nien sind Rechts-außen-Par­teien in­zwi­schen in Tei­len oder in Um­fra­gen die stärk­ste poli­ti­sche Kraft. In Ita­lien re­gieren sie be­reits. In Öster­reich ist die FPÖ eine ex­tre­mis­ti­sche Sys­tem­par­tei. Sie al­le schü­ren den Aus­län­der­hass, vor al­lem ge­gen Mus­lime. Sie al­le weh­ren sich ge­gen eine of­fene Ge­sell­schafts­poli­tik.

Knaus ist 55 Jahre alt, in Wien auf­ge­wachsen. Als Ex­perte für Flücht­lings­fra­gen er­klärt er ge­dul­dig Asyl­ver­ord­nungen und EU-Ge­setze in deut­schen und öster­rei­chi­schen Talk­shows. Von da her kennt man ihn. Doch Knaus ist kein Single-Issue-Wis­sen­schaft­ler. Er hat in Har­vard ge­forscht und in der Ukra­ine unter­rich­tet, in Sara­jevo und Pris­tina ge­lebt. Er be­rät euro­pä­ische Re­gie­rungen. Mit sei­ner Tochvter Fran­cesca, einer Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin, hat er jetzt ein klu­ges Sach­buch für die All­ge­mein­heit ge­schrie­ben.

Denn die Grund­pfei­ler der libe­ra­len Ord­nung sind in Ge­fahr. Weil die Men­schen sie als Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten miss­ver­ste­hen. Und weil Poli­ti­ker dem rech­ten Auf­marsch achsel­zuckend be­geg­nen. "In Ge­sprä­chen mit Christ­demo­kra­ten in Deutsch­land merkt man fast schon eine ver­zwei­felte Resig­nation, dass die AfD mög­li­cher­weise an die Macht kom­men könnte -so wie Trump zu­rück­ge­kehrt ist", sagt Knaus. Die Fol­ge: Ohn­macht statt Auf­bruch.

Da­bei müssten sie nur bei Pulzer nach­lesen. "Er hat schon in den 1960er-Jah­ren den Kampf der Ideen ver­stan­den", meint Knaus. Die Macht der Er­zäh­lung, die real­poli­ti­sche Leis­tun­gen über­trump­fen kann. Ist das nicht al­les ein biss­chen ba­nal? "Ganz im Ge­gen­teil!" Wa­rum wohl, fragt Knaus, las­sen Putin und Trump die Ge­schichts­bü­cher um­schrei­ben und Museen neu kura­tieren? Und wa­rum be­zieht sich Erdoğan stän­dig auf den Sultan Süley­man den Präch­tigen?

Knaus geht es nicht um eine Heiligen­ver­eh­rung, son­dern um Hand­lungs­macht. Den rechts­ex­tremen Mytho­lo­gien vom Be­völ­ke­rungs­aus­tausch oder dem "EU-Kraken der Büro­kra­tie" etwa müsste man nur die rea­len Storys der "Aben­teurer und Visio­näre" ent­ge­gen­hal­ten, die sich die euro­pä­ische Eini­gung aus­ge­dacht haben. "Das wa­ren mut­ige Män­ner, die eine Wahl hat­ten. Und sich rich­tig ent­schie­den ha­ben."

Statt­des­sen stam­meln Poli­ti­ker, auf den Sinn und Zweck der EU an­ge­spro­chen, von "öko­no­mi­schen Inter­es­sen" und mil­liar­den­schwe­ren Sub­ven­tio­nen. Nicht ein­mal auf den Euro-Geld­scheinen mit stili­sier­ten Brücken und Bögen traut man sich, Mut oder auch nur Emo­tion zu zei­gen. Die EU baut auf un­be­ding­tem Kon­sens auf. Ecken schleift man gerne bis zur Un­kennt­lich­keit ab. In der Kom­mu­ni­ka­tion aber be­deu­tet das: Al­les wabert nur noch da­hin.

Am liebs­ten würde Knaus eine Net­flix-Serie über die Grün­der­väter der EU ma­chen. Mit Jean Monnet etwa, der nie ein of­fi­ziel­les Amt inne­hatte, 1940 aus sei­nem be­setz­ten Heimat­land Frank­reich floh, Eng­land mit Frank­reich ge­gen die Nazis ver­einigen wollte. Den Churchill nach Washing­ton schickte, um Roose­velt von der Auf­rüs­tung zu über­zeu­gen -was den Krieg wohl um ein Jahr ver­kürzt hat. Der italie­nische Kom­mu­nist Altiero Spi­nelli müsste eben­falls eine tra­gende Rol­le in der Serie be­kom­men. Und na­tür­lich Robert Schuman, der Mann hin­ter der Mon­tan­union, der in den 1950er-Jahren noch die Kolo­nial­poli­tik Frank­reichs in Indo­china und Al­ge­rien mit­trug. Ambi­va­lenz, nicht An­bie­de­rung.

"Euro­pa ret­ten heißt, seine Ge­schich­ten zu er­zählen", sagt Knaus. Und nicht sich auf die Ge­schichte zu ver­las­sen. Dass der Konti­nent Euro­pa in meh­re­ren Schrit­ten nach 1945 demo­kra­tisch wurde, war nicht aus­ge­macht. Und es ist nicht un­ver­rück­bar.

Wo in Wien am Morzin­platz das Ho­tel Métro­pole thronte, steht jetzt ein schlich­ter Wohn­bau. An die Opfer des Natio­nal­sozia­lis­mus er­innert ein Denk­mal, ge­hauen aus Maut­hau­sener Granit. Fri­sche Blu­men lie­gen da­vor. Peter Pulzers Fami­lie konnte 1939 nach Groß­bri­tan­nien ent­kom­men.

1989 saß Knaus in seiner ersten Vorlesung bei Pulzer. Auf die Frage, was er - Pulzer -tue, um ob der Weltenlage nicht zu verzweifeln, antwortete der: "Ich sage leise vor mich hin: Griechen­land, Spa­nien, Portu­gal." Als Bei­spiele für Län­der, die autori­täre Re­gime ab­ge­streift und sich zu ge­fes­tig­ten Demo­kra­tien ge­wan­delt ha­ben. Als Beweis, dass eine Rück­ab­wick­lung der Dik­ta­tur ge­lin­gen kann.

Knaus hat ebenf­alls ein Mantra. Es heißt "Ru­mä­nien, Po­len, Bul­ga­rien" - drei rela­tiv junge EU-Mit­glie­der, die be­wie­sen ha­ben, dass es sich lohnt, un­ter großem Ein­satz die Frei­heit zu wäh­len. Auch das ist eine Ge­schichte, die er­zählt wer­den will.

Posted by Wilfried Allé Saturday, October 25, 2025 9:33:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Geht's noch? 

Betrachtungen eines Überforderten

von Simon Schwarz, Ursel Nendzig

ISBN: 9783800079162
Erscheinungsdatum: 10.10.2025
Verlag: Carl Ueberreuter Verlag
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Format: Hardcover
Umfang: 200 Seiten
Preis: € 25.00
Kurzbeschreibung des Verlags

Das Publikum kennt Simon Schwarz als Schauspieler und Kabarettist.

Jetzt zeigt er sich von einer neuen Seite: als engagierter Aktivist für Umweltschutz.

Mit Offenheit und Humor blickt Simon Schwarz auf seine Kindheit und Jugend zurück. Einen besonderen Platz nimmt seine Mutter ein, deren unermüdliches Engagement für Umwelt und Gerechtigkeit ihn nachhaltig beeinflusst hat. Er erzählt von seiner heimlichen ›Droge‹ Kantwurst, von ›Frischluft-Demos‹ und von seinem Leben mit ADHS.

Heute engagiert er sich konsequent für eine lebenswerte Zukunft.
Dabei verschweigt er nicht, dass er selbst oft an seine Grenzen stößt und im Alltag nicht immer so handelt, wie er es gerne möchte.

Gerade diese Ehrlichkeit macht seine Haltung so glaubwürdig: Schwarz zeigt nicht nur auf, sondern setzt auf gemeinsames Handeln, das Veränderung möglich macht.

Ein Buch, das Mut macht, selbst aktiv zu werden.

Mit vielen PRIVATEN FOTOS aus dem Familienarchiv!

https://www.meinbezirk.at/wien/c-lokales/der-erde-ist-unser-lebenswandel-scheissegal_a7700968

Posted by Wilfried Allé Thursday, October 16, 2025 8:16:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Der Krieg um unseren Müll 

Abgründe eines globalen Milliardengeschäfts

von Alexander Clapp

ISBN: 9783103971934
Erscheinungsdatum: 24.09.2025
Verlag: S. FISCHER
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Übersetzung: Jürgen Neubauer
Format: Hardcover
Umfang: 400 Seiten
Preis: € 26.80
Kurzbeschreibung des Verlags

Mülldeponien auf der ganzen Welt sind über­füllt. Über die täg­lich an­fal­len­den Mil­lio­nen Ton­nen von Müll ent­ste­hen fast über­all regel­rechte Krie­ge. Der Müll wird il­le­gal ent­sorgt oder als heiße Ware ver­schifft, ver­kauft oder ge­schmug­gelt. Der Jour­na­list Ale­xan­der Clapp be­reiste auf den Spu­ren unse­es Mülls fünf Kon­ti­nente und ent­hüllt eine katas­tro­phale Re­a­li­tät: Un­ser Müll hat in den letz­ten 40 Jahr­en eine welt­um­span­nende, mil­li­arden­schwere Wirt­schaft her­vor­ge­bracht – mit ver­heeren­den Fol­gen für die ärms­ten Län­der der Welt.

FALTER-Rezension

Müllimperialismus: Wie Abfall die Welt regiert

Peter Iwaniewicz in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 39)

In Abwandlung eines Werbe­spruchs der Firma Mül­ler­milch müs­sen wir uns heut­zu­tage fra­gen: „Alles Müll, oder was?“ Denn das Ge­samt­ge­wicht der von Men­schen ge­mach­ten Ob­jek­te reicht in­zwi­schen an das der Bio­mas­se des Pla­ne­ten heran. Künst­li­che Din­ge, von Wol­ken­krat­zern über Au­tos, Com­pu­ter bis zu Plas­tik­trink­hal­men, wer­den bald mehr wie­gen als alle Bäume, Pflan­zen, Tiere und Men­schen zu­sam­men. Oder noch deut­li­cher for­mu­liert: Die Fähig­keit der Menschh­eit zur Pro­duk­tion von Müll be­zie­hungs­weise von Din­gen, die frü­her oder spä­ter zu Müll wer­den, über­steigt zu­neh­mend die Kapa­zi­tät des Pla­ne­ten zur Pro­duk­tion von Leben.

In „Der Krieg um unseren Müll“ (engl.: „Waste Wars“) legt der Jour­na­list Ale­xan­der Clapp ein fes­seln­des Stück in­ves­ti­ga­ti­ven Jour­na­lis­mus vor. Wäh­rend Roman Kös­ter in sei­nem 2023 er­schie­ne­nen Buch „Müll“ die Kul­tur­ge­schichte un­se­rer Ab­fäl­le be­schreibt, geht es bei Clapp um die Fra­ge, wa­rum unser Müll von einem Kon­ti­nent zum an­de­ren trans­por­tiert wird und wie der schein­bar so ba­nale Akt des Weg­wer­fens einen welt­um­span­nen­den Han­del her­vor­brachte, der wie ein Zerr­spie­gel der glo­ba­li­sier­ten Wirt­schaft, von Aus­beu­tung, Pro­duk­tion und Kon­sum, wirkt.

Clapp ist als Reporter den Spuren des Mülls um die ganze Welt gef­olgt und hat mit Men­schen ge­spro­chen, die vom Han­del mit Müll pro­fi­tie­ren, ihn ver­ar­bei­ten und il­le­gal ent­sor­gen, so­wie mit je­nen, in deren Um­welt die Ab­fälle de­po­niert werden.

Die aktuelle Müllbilanz der Welt ist astro­no­misch. Wo­che für Wo­che pro­du­ziert die Mensch­heit ihr Eigen­ge­wicht an neu­en Wa­ren, von de­nen sechs Mo­na­te nach dem Kauf nur noch ge­schätzt ein Proz­ent in Ge­brauch sind. Tag für Tag wer­den 1,5 Mil­liar­den Plas­tik­becher, 120 Mil­lio­nen Kilo­gramm Tex­ti­lien, 220 Mil­lio­nen Alu­do­sen und drei Mil­lio­nen Auto­rei­fen weg­ge­wor­fen. So wur­den zum Bei­spiel in der Mi­nute, die Sie brauch­ten, um die­se Zei­len zu le­sen, eine wei­te­re Mil­lion Plas­tik­fla­schen weg­ge­wor­fen und eine wei­tere Last­wa­gen­la­dung Müll ins Meer ge­kippt.

Aber dieses Buch bietet weitaus mehr als diese depri­mie­ren­den Zah­len und Fak­ten. Clapp er­zählt Ge­schich­ten, bie­tet leben­dige Ge­sprä­che mit Au­gen­zeu­gen, er­zeugt greif­bare Bil­der von je­nen Ge­gen­den, in de­nen Müll so­wohl Lebens­grund­lage als auch Ge­fahr für die Um­welt ist.

„Abgründe eines globalen Mil­li­ar­den­ge­schäfts“ ist der Un­ter­ti­tel des Buchs, das die er­schrecken­den Di­men­sio­nen die­ses glo­ba­len Wirt­schafts­zweigs aufzeigt.

„Wenn Sie wissen wollen, wie der Müllhandel funk­tio­niert, den­ken Sie an den Dro­gen­han­del. Mit dem Unter­schied, dass der Müll von den rei­chen in die armen Län­der kommt“, zi­tiert Clapp Teodor Niţă, einen ru­mä­ni­schen Staats­an­walt, der die il­le­gale Ent­sor­gung aus West­eu­ro­pa verfolgt.

Als der US-amerikanische Publizist Vance Packard in sei­nem 1964 er­schie­ne­nen Buch „Die große Ver­schwen­dung“ erst­mals die Fol­gen des Über­kon­sums der Nach­kriegs­ge­sell­schaft auf­deckte, blieb Müll noch in dem Land, in dem er pro­du­ziert wurde. Doch seit den 1980er-Jah­ren wurde ein Teil un­se­rer Ab­fäl­le nicht mehr in De­po­nien vor Ort ent­sorgt, son­dern über­quert Gren­zen und Meere. Aus Ab­fäl­len, die man in die nächste Ton­ne warf und ver­gaß, wurde ein Ex­port­gut. Be­son­ders ge­winn­träch­tig war da­bei weni­ger der Müll selbst, son­dern vor al­lem des­sen Transport.

Besonders augenöffnend sind die Pas­sagen, in denen Clapp die Illu­sion von Re­cyc­ling ent­larvt. Wer glaubt, dass die brav ge­sammel­ten und in die Re­cyc­ling­tonne ge­wor­fe­nen Plas­tik­ab­fäl­le die Um­welt scho­nen, muss sich einer an­deren Wirk­lich­keit stel­len. Her­stel­ler könn­ten je­des Ma­te­rial als „wie­der­ver­wert­bar“ de­kla­rie­ren, selbst wenn es nie­mand re­cycelt. Die Rea­li­tät: Ein Groß­teil der an­geb­lich re­cycel­ten Ma­te­ria­lien wird nur in den glo­ba­len Sü­den ex­por­tiert, ver­seucht Bö­den in Mexi­ko, endet als bren­nen­de Elektro­schrott-Hal­den in Ghana und er­zeugt töd­li­che Dämp­fe über in­di­schen Dörfern.

„Beim illegalen Handel mit Holz oder Elfen­bein ver­lie­ren Län­der wert­volle Roh­stoffe“, er­klärt ein Lei­ter der Son­der­er­mitt­lung von Inter­pol die Motiv­lage der In­dus­trie­länder. „Aber wenn Müll außer Lan­des ge­schafft wird, ent­le­di­gen sie sich einer Bürde. Sie ha­ben allen An­reiz, ihn ein­fach zie­hen zu las­sen. Es ist ein Ge­schäft von un­fass­ba­ren Di­men­sionen.“

Clapps Analysen durchbrechen den Mythos der in­di­vi­du­el­len Ver­ant­wor­tung. Nicht das rich­tige Tren­nen ret­tet den Pla­ne­ten, son­dern die Re­duk­tion der Wa­ren­pro­duk­tion. Müll ist kein in­di­vi­duel­les, son­dern ein sys­te­mi­sches Prob­lem und damit eine poli­ti­sche Frage.

Das Buch ist ein Weckruf, der die Bequem­lich­keit unse­rer grü­nen Punkte, gel­ben Sam­mel­säcke und Mar­ke­ting­ver­spre­chen von an­gebl­ich um­welt­scho­nen­den Ma­teria­lien zerstört.

Clapp bemüht sich stilistisch um Sachlich­keit, doch er schreckt auch vor pro­vo­ka­ti­ven For­mu­lie­rungen nicht zu­rück. Man spürt seine per­sön­li­che Be­trof­fenh­eit und kann gut nach­voll­zie­hen, wie er in den zwei Jah­ren sei­ner Rei­sen zu den Hot­spots der Müll­ent­sor­gung im­mer tie­fer in die Ab­gründe von glo­ba­len Fir­men­netz­wer­ken, poli­ti­scher Kor­rup­tion und toxi­scher Um­welt­zer­stö­rung ein­tauchte.

„Der Krieg um unseren Müll“ ist ein hef­ti­ges, bril­lant recher­chier­tes Buch, das Repor­tage, Ana­lyse und per­sön­liche Er­leb­nis­se so ge­konnt ver­bin­det, dass man stel­len­wei­se meint, einen Krimi­nal­ro­man zu lesen.

Die Mechanismen und Auswüchse der Müll­wirt­schaft soll­ten im Zen­trum der Klima­de­bat­te ste­hen. Nach­dem man die­ses Buch ge­le­sen hat, müs­sen wir uns der Fra­ge stel­len, ob wir wei­ter im Müll­impe­ria­lis­mus le­ben wol­len oder be­reit sind, die Kos­ten un­se­res Kon­sums selbst zu tragen.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 15, 2025 8:18:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Der Donauradweg für Genießer 

Über 100 Restaurants, Lokale und Gasthöfe zwischen Passau, Wien und Bratislava

von Florian Holzer

ISBN: 9783222137327
Erscheinungsdatum: 29.02.2024
Verlag: Styria Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG
Genre: Reisen/Reiseführer/Sportreisen, Aktivreisen/Europa
Sammlung: Radfahren rund um Wien
Fotos von: Rupert Pessl
Format: Gebundene Ausgabe
Umfang: 208 Seiten
Preis: € 29.00
Kurzbeschreibung des Verlags

Der Gourmetkritiker und Vintage-Fahrrad-Aficionado Florian Hol­zer nimmt uns in sei­nem neues­ten Buch mit auf eine un­ver­gess­liche kuli­na­ri­sche Rei­se ent­lang ei­ner der be­lieb­tes­ten und male­ri­schs­ten Rad­strecken Öster­reichs: dem Donau­rad­weg. Kilo­me­ter für Kilo­me­ter er­kun­det er erst­mals die kuli­na­ri­sche Viel­falt die­ser ein­zig­ar­ti­gen Route ent­lang der Donau und ent­deckt mit uns regio­nale Spezi­ali­tä­ten und ent­spannte Ein­kehr­mög­lich­keiten in char­man­ten Bier­gär­ten oder bei köst­li­chem Street­food. Ob Sie die Strecke von Pas­sau bis Bratis­lava wa­gen, oder Wochen­end­aus­flüge zu ein­zel­nen Ab­schnit­ten machen – der Donau­rad­weg ist die per­fekte Kombi­na­tion aus Sport­lich­keit & Genuss!

Posted by Wilfried Allé Tuesday, September 16, 2025 11:21:00 AM Categories: Aktivreisen/Europa Reisen/Reiseführer/Sportreisen
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Die Wiener Seele 

in 100 Antworten

von Andrea Maria Dusl

EAN: 9783991660316
Erscheinungsdatum: 29.08.2025
Verlag: Falter Verlag
Genre: Literarische Essays
Sammlung: Aktuelle Bücher aus dem Falter Verlag20 unter 200
Illustrator(en): Andrea Maria Dusl
Format: Gebundene Ausgabe 180 Seiten Preis: € 22.90
  Postkarten 15 Stück Preis: € 15.90

Was bitte ist das „Arschkappelmuster“?
Warum soll man sich beim Salzamt beschweren, wenn man sich über eine Behörde aufregt?  Wie antwortet man in der Bim auf „Tschulligen, steigen sie aus?“ Und wo spielt eigentlich die terrische Kapelle („derrische Kapön“)?

In diesem Buch beantwortet Andrea Maria Dusl 100 Fragen rund um österreichische Begriffe, Redewendungen und Eigenheiten – gesammelt von Leser:innen der Wiener Wochenzeitung FALTER, charmant erklärt von der Autorin. Entstanden ist ein unterhaltsames Kompendium der Wiener Seele: grantelnd, witzig, widersprüchlich – und immer mit Stil.

In fünf thematischen Kapiteln – von Diplomatie und Religion über Essen, Trinken, Rauchen bis zu Leben und Tod – entsteht das luzide Bild einer Sprache, die sich gern selbst im Weg steht und dafür gefeiert wird.

Begleitet von 17 humoristischen Schaubildern der Autorin ist dieses Buch ein Muss für alle, die Wien nicht nur sehen, sondern verstehen wollen.

Posted by Wilfried Allé Friday, September 5, 2025 5:09:00 PM Categories: Literarische Essays
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Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus 

[Was bedeutet das alles?] – KI und AGI (Artificial General Intelligence) – Wie Tech-Milliardäre Macht und Zukunft formen

von Rainer Mühlhoff

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 9783150146668
Verlag: Reclam, Philipp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.07.2025
Preis: € 8.30
Kurzbeschreibung des Verlags

Die Gefahren der Artificial General Intelligence

Elon Musk und Donald Trump kündigen massenhaft Ver­wal­tungs­mit­ar­bei­tern, um einen KI-Staat zu er­rich­ten. Tech-CEOs ver­kau­fen künst­liche Intel­li­genz als Heils­brin­ger für die größ­ten Prob­leme der Mensch­heit, ob­wohl die ent­spre­chen­de Indus­trie auf Aus­beu­tung und Men­schen­ver­ach­tung beruht.
Warum lässt sich die Öffentlichkeit durch Speku­la­tion über Er­lö­sung oder Aus­löschung durch KI von den er­heb­lichen Schä­den durch KI in unse­rer Ge­gen­wart ab­len­ken? Wie er­ken­nen wir die zu­neh­mend faschis­ti­schen Ten­den­zen, die sich im Zu­sam­men­spiel von Tech-Indus­trie und der neuen Rech­ten bilden?
Rainer Mühlhoff entwickelt Antworten und diskutiert Lösungsansätze.

FALTER-Rezension

Wissen und Macht: Wie KI-Propheten den Techno-Hype missbrauchen

Matthias Dusini in FALTER 35/2025 vom 29.08.2025 (S. 31)

Die Erwartungen waren groß, als KI-Forscher ver­kün­de­ten, es brau­che nur mehr 20 Jahre, "und die Ma­schi­nen kön­nen das, was Men­schen kön­nen". Man schrieb das Jahr 1965 und der Be­griff "künst­liche Intel­li­genz" war ge­rade ein­mal ein Jahr­zehnt alt. Die Eupho­rie flaute ab, als sich die Leis­tung der Rech­ner als zu schwach erwies.

Der deutsche Mathematiker und Philosoph Rainer Mühlhoff greift dieses his­to­ri­sche Bei­spiel auf, um den ge­gen­wär­ti­gen KI-Hype zu hin­ter­fra­gen. Auf den mit großen Inves­ti­tio­nen ver­bun­de­nen Tech-Som­mer folgte stets ein Win­ter. Auch der zweite KI-Som­mer in den 1980ern en­dete; die künst­li­chen neuro­na­len Netze ent­täusch­ten. In sei­ner knap­pen, mei­nungs­star­ken Ab­hand­lung zer­legt Mühl­hoff nicht nur die Rhe­to­rik der KI-Pro­pheten, son­dern ent­larvt auch deren frag­wür­dige Ideologie.

Wenn Techno-Propheten wie Ray Kurzweil (Google) oder Sam Altman (OpenAI) künst­liche Intel­li­genz an­preis­en, spre­chen sie "ihr" mensch­li­che Eigen­schaf­ten zu. Man merkt das bei selbst­fah­ren­den Autos, die nicht als Schalt­stelle eines Infor­ma­tions­netz­wer­kes ge­se­hen wer­den, son­dern als auto­no­me Wesen. "Die Zu­schrei­bung mensch­li­cher Eigen­schaf­ten öff­net die Tür zu visio­nä­ren Über­hö­hungen", schreibt Mühl­hoff. Seit den 2000er-Jah­ren gip­felt der drit­te KI-Som­mer in der Ver­kün­dung der Arti­fi­cial General Intel­li­gence (All­ge­meine künst­liche Intelli­genz). Ohne empi­ri­sche Evi­denz spe­ku­lie­ren Kon­zern­chefs über den Tag, an dem die AGI Prob­leme lö­sen kann, für die sie gar nicht trai­niert war. Kurz­weil prog­nos­ti­zierte, dass 2029 der Punkt er­reicht sein werde, wo bio­logi­scher und nicht­bio­lo­gischer Geist mit­ein­ander ver­schmelzen.

"Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus" zeichnet die Debat­ten in Sili­con Val­ley nach. So­ge­nannte Doo­mer war­nen vor der Apo­ka­lypse. Nicht min­der be­droh­lich wir­ken jene, die der Super­intel­li­genz die Lö­sung al­ler Probl­eme zu­trauten. Kon­zerne schü­ren Ängste vor dem be­droh­li­chen Levia­than AGI, um ein­mal eine stärk­ere Re­gu­lie­rung, andern­tags größere In­ves­ti­tio­nen zu for­dern. Alle starrten auf KI, so Mühl­hoff, und lenk­ten so, ganz im Sinne rechts­popu­lis­ti­scher Par­teien, von tat­säch­li­chen Ge­fahren ab. "Wäh­rend die Hyper­intel­lig­enz eine Zukunfts­pro­jek­tion bleibt, gilt eine be­vor­ste­hende Klima­katas­trophe als gut er­forscht." Tat­säch­lich leug­net die Re­gie­rung Trump die Fol­gen des Klima­wan­dels und steckt 500 Mil­liar­den Dol­lar in die Pro­duk­tion einer AGI, die Ameri­ka wie­der great ma­chen soll. Es braucht nicht un­be­dingt den vom Autor be­müh­ten Ver­gleich mit dem Fa­schis­mus, um die­se his­to­risch wohl ein­zig­arti­ge Mi­schung aus Wis­sen und Macht ab­schreckend zu finden.

Posted by Wilfried Allé Saturday, August 30, 2025 8:14:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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„Interessant, du, faktisch …“ 

Edek Bartz und Wiens Aufbruch in die Pop-Moderne

von Edek Bartz

ISBN: 9783701736300
Verlag: Residenz
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Musik, Film, Theater/Biographien, Autobiographien
Sammlung: Popfest Wien
Unsere Bestseller
Aktuelle Biografien
Umfang: 196 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.04.2025
Preis: € 24,00
Kurzbeschreibung des Verlags

1946 wird Edek Bartz in einem Lager in Kasach­stan ge­bo­ren, er wächst in Po­len auf und zieht 1958 mit sei­ner Mut­ter nach Wien. Er er­wirbt sich auf ei­ge­ne Faust eine Bil­dung, die zur Grund­lage ei­ner ein­zig­ar­ti­gen Kar­riere wer­den soll: Als Mu­si­ker, Plat­ten­ver­käu­fer, DJ, Kul­tur­mana­ger und Ku­ra­tor ist Bartz über Jahr­zehnte stets zum rich­ti­gen Zeit­punkt am rich­ti­gen Ort – etwa als Or­gani­sa­tor der ers­ten Öster­reich-Kon­zer­te von Jimi Hend­rix, Frank Zappa oder Pink Floyd. Bartz be­glei­tet Peter Ale­xan­der durch Deutsch­land und Falco nach Japan. Bartz er­zählt in den Gesprächen, die der Journalist Klaus Nüchtern aufgezeichnet hat, auch von seiner Begegnung mit dem späteren Maler-Star Jean-Michel Basquiat oder von der un­ab­sicht­li­chen Ent­füh­rung des Edek Bartz durch Frank Sinatra.

FALTER-Rezension

"Wenn's schlecht ausgeht, messen die mir Betonpatscherln an"

Klaus Nüchtern in FALTER 15/2025 vom 11.04.2025 (S. 36)

Seine Geschichten beginnt Edek Bartz gern mit den Worten "Inter­es­sant, du, fak­tisch " Als Kon­zert­ver­an­stal­ter lernte Bartz die hal­be Pop­welt ken­nen, von Leonard Cohen bis zu The Clash. Fal­ter-Lite­ra­tur­kri­ti­ker Klaus Nüch­tern packte die Er­in­ne­run­gen in ein die­ser Tage er­schei­nen­des Buch. Einen "men­schen­freund­li­chen Zy­niker" und "dis­kre­te Gmoaratschn" nennt Nüch­tern im Vor­wort sein Ge­gen­über, das im Fol­gen­den die Be­geg­nun­gen mit Jean-Michel Bas­quiat und Frank Sinatra erzählt.
Klaus Nüchtern: Sie hatten über André Heller mit Jean-Michel Basquiat zu tun?

Edek Bartz: Ja, ich war damals fast drei Monate in New York, um Hel­lers Pro­duk­tion "Body and Soul" zu be­glei­ten, eine Musik­revue, für die neben Keith Haring und Roy Lich­ten­stein auch Bas­quiat Büh­nen­de­ko­ra­tio­nen ge­stal­tet hat. Er hat­te keine Gale­rie, aber einen Mana­ger, der meinte, ich müsse di­rekt mit Jean-Michel Kon­takt auf­neh­men. Der hat aber nur Bar­geld ak­zep­tiert, und in New York Bar­geld von einer Bank zu be­zie­hen, war in den 80er-Jahren ziem­lich kom­pli­ziert. Da­bei ging es um ein paar tau­send Dol­lar. Heute komvmen Bas­quiats für 30,40 oder 50 Mil­lio­nen Dol­lar unter den Hammer!

Also bin ich in sein Studio in der Great Jones Street, ein ehe­ma­li­ges Ge­schäft, bei dem die Roll­bal­ken im­mer un­ten wa­ren. Nach­dem al­les Läu­ten nichts ge­nutzt hat, bin ich drauf­ge­kom­men, dass ich ihm ei­nen Zet­tel unter der Tür durch­schie­ben muss, und auf dem stand: "Hallo Jean-Michel, hier ist Edek. Ich habe das Geld." Es war in­so­fern lus­tig, als ich durch meine Boten­gänge und das ewi­ge Rum­ste­hen vor der ver­schlos­se­nen Tür die meis­ten La­den­be­sit­zer von neben­an schon kannte und mich mit denen unter­hal­ten habe. Irgend­wann hat Basquiat dann auf­ge­macht und mich rein­ge­las­sen - aller­dings nur in den Vor­raum. Es hat sich ab­ge­spielt wie in einem Gang­ster­film: Ich habe ihm das Geld ge­geben, er mir seine Ent­würfe -das ging zack, zack. Ich weiß nicht, ob er mir miss­trau­te, ich ihm jeden­falls schon.

Eines Tages stand die Tür zum Atelier offen. Ich schaue rein, sehe ein Rie­sen­bild und muss schmun­zeln - da stan­den Buch­sta­ben und Zah­len: V 825 671-2. Er sieht das, wird gleich gran­tig und fragt: "Wa­rum lachst du?" Und ich sage: "Das ist doch die Num­mer von Charlie Par­kers Album 'Now's the Time'!" Das "V" stand für das Label Verve. Da­mals habe ich sol­che Sachen ge­wusst. Ab die­sem Mo­ment hat er sich etwas ge­öffnet, ist freund­li­cher ge­wor­den. Er hat­te eine rie­sige Jazz­plat­ten-Samm­lung, es gibt auch in sei­nen Bil­dern im­mer wie­der Ver­weise auf Jazz, auf Mu­si­ker wie Charlie Parker oder Max Roach. Rock­mu­sik war über­haupt nicht sein Ding. Ich kann mir auch nicht vor­stel­len, dass er über Warhol Kon­takt zu Leu­ten wie John Cale oder Lou Reed hatte. Weil eines muss man schon sa­gen: Die Warhol-Truppe war eine weiße Par­tie -auch äs­the­tisch ge­sehen. Es würde mich sehr wun­dern, wenn Basquiat Ge­fal­len an Velvet Under­ground oder Nico ge­fun­den hätte. Außer­dem war er schon eine Gene­rat­ion weiter.

Wenn man für ein paar tausend Dollar eine Zeichnung kriegen konnte, kann der Sta­tus von Basquiat da­mals nicht son­der­lich gla­mou­rös ge­wesen sein.

Bartz: Zu dem Zeitpunkt war seine Karriere prak­tisch nicht exis­tent. Er wurde hin und her ge­scho­ben und so­gar in der Kunst­szene selbst ab­ge­schasselt. Als ich er­zählte, dass ich täg­lich bei ihm vor­bei­schaute, um Skiz­zen ab­zu­ho­len, wurde mir gesagt: "Nimm dir ein Bild mit!" Wie jetzt? "Ja, gib ihm halt tau­send Dol­lar, der braucht ohne­dies stän­dig Kohle für Dro­gen, und nimm dir ein Bild. Das ma­chen eh alle!" In Wien kannte ich Künst­ler, die so be­sof­fen waren, dass sie nicht mehr auf­ste­hen konnten; aber so ab­fäl­lig wie über Basquiat wurde über kei­nen von denen ge­sprochen!

Es war eindeutig rassistisch, aber darüber hinaus haben sie auch die Schwä­che von Basquiat ver­ach­tet, der sich in der weißen Kunst­welt nicht be­haup­ten konnte. Je­mand wie Keith Haring, mit dem er sehr gut be­freun­det war, hat­te na­tür­lich ein Rie­sen­büro mit Sekre­tä­rin und al­lem Drum und Dran. Mir ha­ben Leu­te er­zählt, dass der be­rühmte Züri­cher Gale­rist Bruno Bischof­berger Basquiat in sein Cha­let hat ein­flie­gen und im Kel­ler hat malen las­sen. Und Basquiat ist in Snea­kers und T-Shirts an­ge­reist, weil er nicht ge­checkt hat­te, dass in der Schweiz Win­ter war. Das Ver­hält­nis von Weißen zu Schwar­zen war damals vor al­lem von Igno­ranz ge­prägt. Ich habe zum Bei­spiel die schwarze Crew, mit der ich für "Body and Soul" zu­sam­men­ge­ar­bei­tet habe, ein­mal mit "Hey, boys!" adres­siert. Auf ein­mal sind alle er­starrt. Ich habe über­haupt nicht ka­piert, was los ist. Erst als ei­ner meinte: "You shouldn't say this", habe ich es ge­schnallt.

Erzählen Sie doch bitte die Geschichte von der unab­sicht­li­chen Ent­füh­rung des Edek Bartz durch Frank Sinatra.

Bartz: Ich glaube, ich war damals mit Kim Wilde auf einer Tour, bei der sie in Wien in der Kur­halle Ober­laa auf­ge­tre­ten ist. Zu­gleich hat­te da­mals Frank Sina­tra ein Kon­zert in der Stadt­halle, und ich dach­te, ich schau dort ein­mal vor­bei und tref­fe viel­leicht ein paar Buddies, mit de­nen ich trat­schen kann. Ich war sehr zei­tig dran und setz­te mich dort mal hin, um zu war­ten. Ich bin nicht wei­ter auf­ge­fal­len, und es hat mich ja auch je­der ge­kannt. Auf ein­mal geht die Tür zu einer der Gar­dero­ben auf, und ein äl­te­rer, eng­lisch spre­chen­der Herr kommt raus und sucht die Toi­lette. Die fin­det er nie von al­leine, denke ich, und sage: "I'll show you", brin­ge ihn hin und auch wie­der zu­rück. Da fragt er mich, ob ich hier zum Per­so­nal ge­höre. In dem Mo­ment fällt mir ein, dass ich mich ohne Back­stage-Pass in die­sem Be­reich eigent­lich gar nicht auf­hal­ten darf, ant­worte da­her natür­lich mit "ja, ja", wo­rauf er meint, dass ich ihm doch hel­fen könnte.

Also begleite ich ihn in die Garderobe, wo er gerade damit be­schäf­tigt war, die Hem­den von Frank Sina­tra zu bü­geln. Na gut, ich halte ihm halt die Hem­den aufs Bügel­brett. Wie er fer­tig ist, sagt er: "Du nimmst die Hand­tü­cher und gehst von rechts auf die Büh­ne, ich nehme die linke Seite und bringe die Drinks." Das war aller­dings der Job, für den ein Kol­lege ab­ge­stellt war, also denke ich mir: So­bald der kommt, werde ich mich schlei­chen. Wie der end­lich auf­taucht, be­ginnt er, auf mich ein­zu­reden, ich müsse un­be­dingt blei­ben: Offen­bar hätte man mich mit ihm ver­wech­selt, und wenn der Irr­tum jetzt auf­ge­klärt würde, gäbe es einen Riesen­skan­dal, weil er nicht recht­zei­tig da ge­we­sen sei und weil sich ein Un­be­fug­ter Zu­tritt zur Garde­robe von Frank Sinatra ver­schafft habe. Aber: "Wenn das vor­bei ist, tau­schen wir wieder."

Okay. Nach einiger Zeit gehen die Tore der Stadt­halle auf und schwarze Limou­si­nen fah­ren vor. Der Ver­schlag wird ge­öffnet, Frank steigt aus und wird di­rekt in die Garde­robe ge­bracht. In dem Mo­ment wurde mir schon ziem­lich mul­mig, weil: Wenn die über­­reißen, dass ich gar nicht zur Crew gehöre, kann das so­wohl für den Ver­an­stal­ter als auch für mich sehr un­an­ge­nehm wer­den. Wenn's ganz schlecht aus­geht, kom­men ein paar Ty­pen von der Mafia und mes­sen mir Beton­patscherln an.

Die Band hat schon zu spielen begonnen, da zündet sich Frank erst ein­mal läs­sig einen Tschick an. Auf ein­mal springt der Alte auf, drückt mir die Hand­tücher in die Hand und wir be­glei­ten Sina­tra im locke­ren Lauf­schritt auf die Bühne; er steht exakt in dem Mom­ent vor dem Mikro, in dem der Song be­ginnt. Wie ein Metro­nom. Er hatte ein un­fass­ba­res Ge­fühl für Timing! So et­was hat­te ich noch nicht ge­sehen, und da­nach auch nie wie­der er­lebt. Ich war fas­zi­niert. Und das, ob­wohl ich kein Sina­tra-Fan war, ja seine Mu­sik nicht ein­mal wirk­lich ge­kannt habe. Es war ge­rade­zu un­heim­lich, mit wel­cher Musi­ka­li­tät er die Pau­sen zwi­schen den Songs über­brückt hat, wie er mit der Band im Kon­takt stand und wie diese jede sei­ner Be­we­gun­gen regis­triert und da­rauf rea­giert hat. Ich habe in der kur­zen Zeit irr­sin­nig viel ge­lernt und auf ein­mal be­grif­fen, was eine Big­band aus­macht, wie die funk­tio­niert und wie ent­schei­dend es ist, wer auf der Büh­ne und wer am Pult steht. Die Chance, eine sol­che Maschi­ne­rie aus der Nähe zu beo­bach­ten, hat man ja nicht oft. Bis da­hin hat­te ich, der aus dem Rock-und Free-Jazz-La­ger kam, das al­les als Kom­merz-Lulu ver­achtet -aus rei­ner Un­kennt­nis. Ich hat­te ein­fach keine Ahnung!

Na gut. Das Konzert ist aus, wir verlassen die Halle, die Limousinen ste­hen be­reit. Frank springt in die erste, der Alte schiebt mich in die zwei­te, steigt auf der ande­ren Seite ein und es geht los. Wie, was, wohin? Nach eini­ger Zeit be­greife ich: Rich­tung Flug­hafen. Na gut, dort wer­de ich dann end­lich ab­hauen. Bloß dass die Limou­si­nen direkt aufs Roll­feld fah­ren, wo ich mit al­len ande­ren aufs Flug­zeug zu­aufe. Die Ma­schine hebt ab, und ich frage die Stewar­dess: "Wo­hin flie­gen wir denn?" Sagt sie: "Na, eh wie im­mer." Aha. Stellt sich heraus: "Wie im­mer" ist Genf. Dort hat­te sich Sina­tra eine Villa ge­mie­tet, in der seine Entou­rage unter­ge­bracht war. Die ha­ben Whisky ge­trun­ken und bis spät in die Nacht Kar­ten ge­spielt -eine ziem­lich gemüt­liche, sehr net­te Trup­pe. Das Prob­lem war nur, dass ich ab­so­lut nichts mit­hatte: weder Unter­wäsche noch einen Pass.

So ging das etwa eine Woche dahin: zuerst Kon­zert, da­nach zu­rück nach Genf. Es war al­les super­smooth auf Sina­tra ab­ge­stimmt und lief genau­so ab, wie man sich das in sei­nen kühns­ten Träu­men vor­stellt: Back­stage klin­gelt das Tele­fon und Dean Mar­tin ruft an. Frank kommt, muss auf nichts war­ten, und nach dem Kon­zert sitzt er mit sei­nen Habe­rern bei­sam­men. Da wa­ren sicher vier­zig, fünf­zig Leute im Haus. Haupt­säch­lich net­te, äl­tere Leu­te. Man sieht sich täg­lich, führt ein biss­chen Small Talk: "Und was machen Sie?" - "Mir ge­hört Sea­gram's Whisky. Ich sel­ber trin­ke aber nicht." Das ging zehn Tage so, und am Schluss hat je­der ein gol­de­nes Feuer­zeug ge­schenkt be­kom­men, auf dem "Thanks, Frank" ein­gra­viert war. Ich wusste aber, dass ich das sicher bald ver­lie­ren würde, und habe es ge­gen eine Rolex ein­ge­tauscht.

Außerdem habe ich mir eine Platte von ihm signieren lassen, auf der er von Count Basie be­glei­tet wird. Als der dann eines Tages auch in Wien auf­ge­treten ist, habe ich ihm das Album zum Sig­nie­ren ge­ge­ben; und wie er die Unter­schrift von Frank Sina­tra sieht, sagt der alte Count Basie: "He's still around?" Das wa­ren schon un­glaub­liche Ty­pen. Man muss sich mal vor­stel­len, wer al­les in so einer Big­band ge­spielt hat. Das wa­ren keine Kin­der von Trau­rig­keit! Ich habe er­lebt, wie Paul Gon­salves in der Duke Elling­ton Band so be­trun­ken war, dass er schon nicht mehr rich­tig ste­hen konnte. Er hat ein super Solo ge­spielt und ist dann von der Bühne ge­kippt. In der Früh war kei­ner der Musi­ker im Ho­tel. Frage ich den Por­tier, ob er weiß, wo die alle ab­ge­blie­ben sind. Er hat nur mit der Hand in Rich­­tung Bahnhof ge­deu­tet -dort war näm­lich das Puff. Auf der Bühne aber hat die Band funk­tio­niert wie eine Ma­schine. Duke Elling­ton hat ja prak­tisch nichts ge­­macht, der hat die mit den Augen und dem klei­nen Fin­ger dirigiert.

Posted by Wilfried Allé Sunday, August 24, 2025 8:46:00 AM Categories: Autobiographien Film Sachbücher/Musik Theater/Biographien
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Die paradoxe Republik 

Österreich 1945 bis 2025

von Oliver Rathkolb

ISBN: 9783552075603
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte
Sammlung: Unsere Bestseller
Sachbücher für den Sommer
Umfang: 560 Seiten
Erscheinungsdatum: 15.04.2025
Preis: € 39,10
Kurzbeschreibung des Verlags

Oliver Rathkolbs »Biografie der Republik« (Ernst Schmiederer, Die Zeit) über die Ge­schichte Öster­reichs von 1945 bis 2025

Achtzig Jahre Kriegsende, siebzig Jahre Staatsvertrag, dreißig Jahre EU-Mit­glied­schaft: Oliver Rath­kolbs »Standard­werk zur Ge­schichte Öster­reichs« (Die Zeit) in einer ak­tua­li­sier­ten Fas­sung. Vom »Boll­werk des Deutsch­tums im Osten« über die »Brücke zwi­schen den Blöcken« zur »In­sel der Seli­gen« und zum EU-Mit­glied: Die Bil­der, in denen sich Öster­reich in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten spie­gelte, ha­ben sich ge­wan­delt. Ge­blie­ben ist die merk­wür­dige Gleich­zei­tig­keit von Größen­wahn und Minder­wer­tig­keits­kom­plex. Ge­blie­ben sind auch die Para­do­xien: ein neu­tra­les Land, des­sen West­bin­dung außer Frage steht; ein Land, das sich demo­kra­tisch nennt, in dem we­sent­li­che Ent­schei­dun­gen aber nach wie vor außer­halb des Parla­ments ge­trof­fen werden.

FALTER-Rezension

"Der Heldenplatz braucht ein völlig neues Gesamtkonzept"

Anna Goldenberg in FALTER 18/2025 vom 02.05.2025 (S. 30)

Oliver Rathkolb sitzt im Geriatrie-Zimmer. So nennt er sein Büro im Insti­tut für Zeit­ge­schichte am Cam­pus der Uni­ver­sität Wien im Alten AKH. Rath­kolb, der Ende 2024 nach 18 Jah­ren als Pro­fes­sor in Pen­sion ging, teilt sich das Zim­mer mit drei wei­te­ren emeri­tier­ten Pro­fes­soren. Der Raum ist bis zur Decke voll­ge­stopft mit Bü­chern. Rath­kolb hat seine Unter­la­gen auf zwei Schreib­tischen aus­ge­brei­tet, die Kol­legen sind sel­ten da, und zu tun hat er viel.
Im Wien Museum eröffnete am 10. April eine von ihm ini­tiierte und mit­kura­tierte Aus­stel­lung über alli­ierte Kul­tur­poli­tik, ei­nige Tage spä­ter er­schien die Neu­auf­la­ge sei­nes Buches "Die para­doxe Repu­blik". Rath­kolb zählt zu Öster­reichs wich­tigs­ten Zeit­his­to­ri­kern, die vie­len Ver­strickun­gen der Zwei­ten Repu­blik in die NS-Ver­gan­gen­heit sind sein Spe­zial­ge­biet. In ei­nem Inter­view fragte ihn die Zeit kürz­lich, ob er "der Tho­mas Bern­hard unter den His­to­ri­kern" sei, weil er stets hart mit sei­nen Lands­leu­ten ins Ge­richt gehe. Den Ver­gleich fin­det er wit­zig -aber eigent­lich sei er weni­ger gran­tig als der Literat.

Falter: Herr Rathkolb, 2005 feierte die Republik ihre Geschichte als "Gedan­ken­jahr", 2015 war das Ge­den­ken schon viel selbst­kri­ti­scher. Wo­rauf sollten wir uns im heu­ri­gen Ge­denk­jahr kon­zen­trieren?

Oliver Rathkolb: Wir sollten uns fragen: Stehen wir vor dem Ende der parla­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie? Also vor dem Ende der Zwei­ten Republik, nach all den Verwerfungen, der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur, der totalitären Diktatur der Nazis, der sehr autoritären Entwicklung des österreichischen Parla­men­ta­ris­mus und der Par­teien­land­schaft nach 1945? Des­halb ist der Fo­kus auf die Jahre 1945 und 1955 so wich­tig.

Dazu haben Sie eine Ausstellung im Wien Museum mit­kura­tiert. Was ler­nen wir aus die­ser "alli­ier­ten Zeit", als die USA, Eng­land, Frank­reich und Russ­land in Öster­reich das Kom­man­do hat­ten, be­vor der Staats­ver­trag der Repu­blik ihre Selbst­ver­wal­tung gab?

Rathkolb: Es ist eine Zeit voller Widersprüche. Freude, dass der Krieg, die Bom­bar­dements vor­bei sind und man wie­der ganz nor­ma­len All­tags­freu­den nach­ge­hen kann. Die Amis spiel­ten in ihren Kinos den Dis­ney-Zeichen­trick­film "Bambi", das traf den Nerv der Zeit, weg aus der Reali­tät, rein in Fan­ta­sie­welten. Der dama­li­gen Gene­ra­tion ist es ge­lun­gen, mit un­glaub­lich viel Fanta­sie, Im­pro­vi­sa­tion, Lebens­freude und Soli­dari­tät diese Jahre zu über­brücken, na­tür­lich mit großer inter­natio­na­ler Hil­fe. Das schei­nen wir heute ver­ges­sen zu ha­ben. Heute glau­ben wir, die Welt geht un­ter, wir sind ver­lo­ren, weil uns der Ver­gleich fehlt.

Es geht uns also besser, als viele glauben?

Rathkolb: Die Beschäftigung mit dem Jahr 1945 ist eine gute Basis, um mit der Gegen­wart bes­ser fer­tig zu wer­den, finde ich. Das Nach­kriegs­jahr­zehnt war ja auch ein un­glaub­li­cher Demo­kratie­motor, heute ste­hen wir am An­fang ei­nes autori­tä­ren Zeit­al­ters. Es wird wei­ter Wah­len ge­ben, aber die Ent­schei­dung liegt nicht mehr bei den Wäh­lern und Wähler­innen, weil al­les mani­pu­liert wird und eine kleine poli­ti­sche Schicht die Zü­gel in der Hand hält. Wir ha­ben das in Un­garn im Klei­nen, in den USA im Großen und in Öster­reich gerade noch ein­mal ab­gewandt.

Ist das der Geburtsfehler der Zweiten Republik, dass sich die FPÖ be­ziehungs­weise deren Vor­gänger­partei, der Ver­band der Un­ab­hän­gi­gen (VdU) - im Jahr 1949 über­haupt grün­den durfte?

Rathkolb: Ja, jedenfalls. Die ÖVP wollte ja die ehemaligen Nazis in ihre Partei inte­grie­ren, aber dann wa­ren sie ihnen doch zu wild. Die SPÖ setz­te sich für eine vier­te Par­tei ein, neben ÖVP, SPÖ und den Kommu­nis­ten, in der Hoff­nung, das bür­ger­li­che Lager mit einer Post-Nazi-Partei zu spal­ten. Die US-Mili­tärs waren strikt gegen die VdU-Grün­dung, dann fie­len die Amis um. Da spielt der Kalte Krieg eine große Rol­le. Die Ex-Nazis waren per­fektes Sol­daten­mate­rial ge­gen die Sow­jets, des­halb wollte man sie in die Ge­sell­schaft wie­der inte­grieren.

Die Alliierten, allen voran die Amerikaner, hatten ihre Zei­tungen, sie bil­de­ten hei­mische Jour­na­lis­ten zu kri­ti­schen Be­richt­er­stat­tern aus. Trotz­dem ging die Saat nicht ganz auf, wenn man sich Öster­reichs Medien­land­schaft nach dem Krieg an­schaut, bis heute. Warum nicht?

Rathkolb: Wenn man so will, ist das der zweite Geburts­fehler Öster­reichs: Die Alli­ier­ten ha­ben die Medien­kon­zen­tra­tion nicht, wie in Deutsch­land, ver­hin­dert. Sie ha­ben nicht meh­rere, stark föde­ral orien­tierte Sende­an­stal­ten wie in Deutsch­land durch­ge­setzt, son­dern ei­nen zen­tra­len Fern­seh-und Rund­funk­sen­der ge­stat­tet. Es wäre ein­fach ge­we­sen, Öster­reich im Staats­ver­trag zu ver­pflich­ten, die Be­satzungs­sen­der als öffent­lich-recht­liche Stif­tun­gen weiter­zu­führen -also Rot-Weiß-Rot, Alpen­land und in Vor­arl­berg den Sen­der West. In Deutsch­land wurde auch das Uni­ver­si­täts­wesen fö­de­ral aus­ge­stal­tet, aus Berlin weg - in Öster­reich aber nicht.

Ein Gedankenspiel: Wie stünde Österreich heute da, hätte es diesen Demo­kra­tie­auf­bau der Alli­ierten nach dem Krieg nicht gegeben?

Rathkolb: Ich glaube, es hätte alles einfach noch länger gedauert. Vor allem die Auf­ar­bei­tung unse­rer NS-Ge­schichte. Ich selbst hat­te ein Fulbright-Stipen­dium in den 1980er-Jahren, das mir den Zu­gang zu vie­len NS-Akten in Washington, D.C., er­mög­licht hat. In den De­pots der Natio­nal Archives la­gen Ton­nen von Mate­rial über die Ent­nazi­fi­zie­rung öster­rei­chi­scher Künst­ler. In Wien wäre ich nicht ein­mal in die Nähe sol­cher Akten ge­kom­men. Im Staats­ar­chiv waren Ak­ten, in de­nen Jü­din­nen und Juden vor­kommen, zwar nicht ge­sperrt, aber de facto zen­siert. Ein Archi­var hatte die aus­sor­tiert und ein Son­der­archiv an­gelegt, das er als "Juden-Akten" be­schrif­tet hat­te. Das war kein Be­griff aus der Nazi­zeit, son­dern aus dem Jahr 1988.

Sieht man sich die jüngere Geschichte an, fällt auf, dass einige große er­in­nerungs­poli­ti­sche Er­run­gen­schaf­ten un­ter rechts­kon­ser­va­ti­ven Re­gie­run­gen ge­lan­gen - der Resti­tu­tions­fonds unter Bun­des­kanz­ler Wolf­gang Schüs­sel und FPChef Jörg Haider, die Staats­bür­ger­schaft für die Nach­kommen der NS-Ver­folg­ten und das Shoah-Denk­mal unter Bundes­kanz­ler Sebas­tian Kurz und sei­nem FP-Vize Heinz-Chris­tian Strache. Ist das nur Zufall?

Rathkolb: Es sind wohl Maßnahmen, die getroffen wurden, um sich vor der inter­natio­nalen Öffent­lich­keit bes­ser dar­zu­stel­len. Das ist eine sehr öster­rei­chi­sche Schwäche. Man sieht das schon in der Wald­heim-De­bat­te Mitte der 1980er-Jahre. Wir ha­ben da­mals wirk­lich das Ge­fühl ge­habt, wir ste­hen am Pran­ger der Welt, alle sind ge­gen uns. Aber wenn man ge­nau hin­schaut, war es inten­siv, aber nicht so furcht­bar. Wir ma­chen uns gerne zum Zen­trum der Welt und über­hö­hen da­mit auch die inter­natio­nalen Debat­ten. Das er­klärt auch die­se Ak­tivi­täten von Schüs­sel, der we­gen der Haider-Koa­li­tion ein Image­prob­lem hatte. Die Maß­nah­men der da­ma­li­gen Re­gie­rung sind ein biss­chen eine oppor­tu­nis­tische Ge­schichte, aber es ist auch ein gu­ter und wich­tiger Zweck.

Ein Holocaustmuseum ist schon länger eine politische Forderung. Türkis-Grün schrieb es sich ins Re­gie­rungs­pro­gramm, die schwarz-rot-pinke Koa­li­tion plant eine Mach­bar­keits­studie. Braucht Öster­reich das?

Rathkolb: Man merkt, wie kurzlebig die Geschichte ist, denn diese von dem Poli­to­logen Anton Pelin­ka und eini­gen an­deren ge­schrie­bene Studie gibt es längst. Letzt­lich ist das Mu­seum ei­ne poli­ti­sche Ent­schei­dung. Ich halte es für wich­tiger, die Gedenk­stät­ten und Er­inne­rungs­orte in ganz Öster­reich stär­ker aus­zu­bauen. Nicht nur im ehe­ma­li­gen Kon­zen­tra­tions­la­ger Maut­hausen, son­dern auch in den Neben­la­gern. Wir müs­sen in die Bundes­lä­nder. Öster­reich ist größer als Wien.

Noch eine gedenkpolitische Baustelle sind die Bilder des NS-Künst­lers Rudolf Eisen­menger, die im Parla­ment hän­gen und vom FPÖ-Natio­nal­rats­prä­si­den­ten Rosen­kranz bei offi­ziel­len Ter­mi­nen in Szene ge­setzt wer­den. Wie mit diesen Kunst­werken umgehen?

Rathkolb: Eisenmengers Parlamentsbilder sind ja kein Einzel­fall. Er hat in den 1950er-Jahren den eiser­nen Vor­hang in der Staats­oper ge­stal­tet, den West­bahn­hof, das Künstler­haus. Er war der Staats­künst­ler der Wieder­auf­bau­jahre, weil er eine un­glaub­liche poli­ti­sche Elas­ti­zi­tät hatte -und den bie­de­ren Ge­schmack der dama­li­gen erz­kons­er­va­ti­ven poli­ti­schen Elite traf. Der da­ma­lige Staats­opern­direk­tor Ioan Holen­der hat sich 1998 dazu ent­schlos­sen, den ei­ser­nen Vor­hang über­blen­den zu las­sen. Eine sehr gute Ent­schei­dung, weil man sich bei jeder neuen Über­blen­dungs­aktion mit Eisen­men­ger aus­ein­ander­set­zen muss. Das ist viel bes­ser als eine Ver­hül­lung, wie sie im Par­la­ment ge­macht wurde. Es gab eine Flut von wüt­en­den Briefen, aber Holen­der hat Rück­grat ge­habt, das durch­ge­zogen, und heute sind alle be­geistert.

Überblenden also auch im Parlament?

Rathkolb: Der Herr Parlamentspräsident, der ja ein sehr gebil­de­ter Mensch ist, weiß ganz ge­nau, wer Eisen­menger war. Seine Ent­schei­dung, sich dau­ernd vor dem Ge­mälde ab­bil­den zu las­sen, halte ich für eine völ­lig über­zo­gene Provo­ka­tion. Viel­leicht mag er ein­mal Direk­tor Holen­der ein­laden, der hat jetzt als Pen­sio­nist viel Zeit und fin­det si­cher eine gute Lösung.

Gehen wir Ihrer Meinung nach eigentlich mit dem Heldenplatz richtig um?

Rathkolb: Der Heldenplatz bräuchte ein völlig neues Gesamt­konzept. Vor zehn Jah­ren hat­ten wir schon ein­mal eines. Der da­ma­li­ge Kanz­ler­amts­minis­ter Josef Oster­mayer (SPÖ) be­rief eine Ex­per­ten­grup­pe für eine völ­li­ge Neu­kon­zep­tion des Helden­platzes ein: Autos weg, Tief­ga­rage her, das Äußere Burg­tor neu ge­stal­ten, ein Bücher-Tief­spei­cher für die Natio­nal­biblio­thek und die Uni­ver­si­tät Wien. Alle Samm­lun­gen, auch das Kunst­his­to­ri­sche Mu­seum und die Natio­nal­biblio­thek, soll­ten mit ei­nem ge­mein­sa­men Ticket zu­gäng­lich sein. Die Be­amten ha­ben brav ge­rech­net, waren aber ent­setzt über die Kos­ten -ins­ge­samt 111 Mil­lio­nen Euro. In­zwi­schen wurde ein neues De­pot der Uni­ver­si­täts­biblio­thek in Florids­dorf für rund 38 Mil­lio­nen Euro ge­baut. Last­wagen­ko­lon­nen fah­ren die Bücher vom Rande Wiens in die Stadt. Und der Helden­platz schaut immer noch so aus wie da­mals, ein Sam­mel­su­rium an Ge­denk­orten.

Was tun mit dem sogenannten Hitler-Balkon, also dem Altan der Neuen Burg?

Rathkolb: Wir haben schon vor zehn Jahren im Rahmen einer großen, inter­natio­na­len Ex­per­ten­grup­pe die Ge­fahr des Miss­brauchs durch Neo­nazis oder an­dere Idio­ten dis­ku­tiert. Aber letz­ten Endes waren wir alle dafür, die zum Kunst­his­to­ri­schen Mu­seum ge­hö­rende Samm­lung al­ter Musik­ins­tru­mente zu über­sie­deln und den Altan ins Haus der Ge­schichte zu inte­grie­ren, alles auf einer Ebene. Na­tür­lich gab es auch schon die Idee einer künst­le­ri­schen Inter­ven­tion. Die Burg­haupt­mann­schaft, die für das Areal ver­ant­wort­lich ist, hat aber we­gen Ab­sturz­ge­fahr Auf­lagen ge­macht. Dabei wäre das der per­fekte Ort, um sich mit dem Bal­kon und al­len poli­ti­schen Ins­tru­men­tali­sie­rungen des Plat­zes seit der Monar­chie aus­ein­ander­zu­setzen. Der Platz ist eine Art Kalei­dos­kop der öster­rei­chi­schen Ge­schichte. Aber den Bal­kon ein­fach zu ver­schließen finde ich den fal­schen Weg. Ich fürchte, in dem Mo­ment, in dem das Haus der Ge­schichte Öster­reich ins Mu­seums­quar­tier um­ge­sied­elt sein wird, ist die De­batte wie­der ver­schwunden.

Das wird jetzt auf jeden Fall geschehen. Beschlos­sen wurde es im Novem­ber 2023. Hieß der Helden­platz eigent­lich schon im­mer Heldenplatz?

Rathkolb: Das habe ich mir damals angeschaut und im Wiener Stadt-und Landes­archiv heraus­ge­funden, dass es nie eine for­melle Um­be­nen­nung gab. Der offi­zielle Name des Plat­zes ist nach wie vor Äußerer Burg­platz. Helden­platz ist eine Art volks­tüm­liche Zusatzbeschreibung. Auch in der NS-Zeit wurden beide Begriffe parallel verwendet. Und danach, in der Zweiten Republik, war man natürlich auf der Suche nach neuen Helden.

Wie würden Sie den Heldenplatz eigentlich am liebsten nennen?

Rathkolb: Ich würde dazu eine Volksbe­fragung machen und Namen vor­schla­gen: Platz der Demo­kra­tie, der Repu­blik, der Frauen. Wobei ich nicht sicher bin, ob am Ende, wenn man den Helden­platz mit­ab­fragt, wir nicht wie­der beim Helden-oder besser Heldin­nen­platz landen.

Posted by Wilfried Allé Monday, August 11, 2025 10:05:00 AM Categories: Sachbücher/Geschichte
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