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Der Mann, der meinen Großvater rettete

von Anna Goldenberg

ISBN: 9783552073708
Erscheinungsdatum: 23.07.2018
Verlag: Zsolnay, Paul
Sammlung: 35 Bücher unter 35
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Format: Taschenbuch
Umfang: 192 Seiten
Preis: € 22,70
Kurzbeschreibung des Verlags

Wien-Leopoldstadt, Sep­tem­ber 1942: Hansis El­tern und sein jün­ge­rer Bru­der müs­sen ins Sam­mel­la­ger, um nach There­sien­stadt um­ge­sie­delt zu wer­den. Gleich­zei­tig ver­lässt der 17-jäh­rige Hansi das Haus. Im Flur nimmt er den gel­ben Stern ab, steigt in die Straßen­bahn und fährt zum Kin­der­arzt Josef Feldner. Sei­ne Fa­mi­lie wird Hansi nie mehr wie­der­se­hen. Bis zum Ende des Krie­ges ver­steckt und ver­sorgt „Pepi“ den jun­gen Mann in sei­ner Woh­nung. Auch spä­ter bleibt Hansi mit sei­nem Ret­ter ver­bun­den, sie früh­stücken täg­lich mit­einan­der, fah­ren ge­mein­sam auf Ur­laub. Hans‘ Enke­lin, Anna Gol­den­berg, die Enke­lin von Hans und Hel­ga Feld­ner-Bustin, re­kon­stru­iert diese sin­gu­läre Fami­lien­ge­schichte als große Re­por­tage und als Por­trät eines Hel­den, der nie einer sein wollte.

FALTER-Rezension

Lücken der Erinnerung

Anna Goldenberg in FALTER 4/2025 vom 22.01.2025 (S. 25)

Eva Ribarits erzählt in Schu­len gerne die Sache mit dem Heu­ri­gen. Riba­rits kam 1943 als Toch­ter jüdi­scher Flücht­linge in Lon­don zur Welt. Als sie vier Jahre alt war, folg­ten die El­tern, über­zeugte An­hän­ger des Kom­mu­nis­mus, den Auf­ru­fen der KPÖ, nach Wien zu­rück­zu­keh­ren. Dort woll­ten sie den Sozia­lis­mus voran­trei­ben -doch statt­des­sen lan­de­ten sie mit­ten in der des­illu­sio­nier­ten Nach­kriegs­ge­sell­schaft. "Die Leu­te ha­ben den Krieg und ihre Ideo­lo­gie ver­lo­ren", sagt Riba­rits. "Das hast du in ihren Ge­sich­tern gesehen."
Die Familie fiel auf, auch op­tisch. Eva und ihre Schwes­ter hat­ten dunk­les, fast krau­ses Haar. "Ich habe ge­spürt, dass man mir feind­lich ge­gen­über­stand", sagt sie. Als Jüdin, als Kom­mu­nis­ten­kind, als ver­meint­lich Fremde. "Wir wä­ren als Fa­mi­lie nie zu ei­nem Heuri­gen ge­gangen."

Mit ihren Erfahrungen als Flücht­lings­kind könne sie zu den jun­gen Men­schen, de­nen sie über ihr Le­ben und das ihres Va­ters er­zählt, eine Ver­bin­dung auf­bauen, führt Riba­rits aus. Und viel­leicht sei das ja 80 Jahre nach Kriegs­ende eine Mög­lich­keit, zu ver­mit­teln, wa­rum es wich­tig ist, sich mit der NS-Zeit im All­ge­mei­nen und dem Holo­caust im Spe­ziel­len zu be­schäf­ti­gen. Vor al­lem in einer Ge­sell­schaft, die längst nicht mehr so homo­gen ist wie in den 50er-Jah­ren, als sich die Fa­mi­lie Nürn­ber­ger - so hieß Riba­rits' Fami­lie - nicht in Heu­rige traute. Es gibt in Wien kaum mehr eine Schul­klas­se, in der nicht zu­min­dest eine Per­son eine Flucht­ge­schichte hat.

Ribarits bezeichnet sich selbst als der "ein­ein­halb­ten" Gene­ra­tion zu­ge­hörig. Ihrer Mut­ter Hilde ge­lang 1937 die Flucht nach Eng­land mit­hilfe eines ge­fälsch­ten Pas­ses. Ihr Va­ter Arthur über­lebte die Kon­zen­tra­tions­la­ger Dachau und Buchen­wald und konnte 1939 nach Eng­land aus­rei­sen. Schon ihr Va­ter, ein um­trie­bi­ger, red­se­li­ger Mensch, er­zählte zu Leb­zei­ten jün­ge­ren Freun­den be­reit­wil­lig seine Ge­schichte.

Nicht nur Menschen wie Nürnberger, die als Er­wach­sene wäh­rend der NS-Zeit ver­folgt wur­den, sind längst ge­stor­ben; die so­ge­nann­te erste Ge­ne­ra­tion, also jene Men­schen, die sich über­haupt aus ers­ter Hand an die Ver­fol­gung er­in­nern kön­nen, ist ver­schwin­dend klein ge­wor­den. Erinnern.at, das Pro­gramm von Öster­reichs Agen­tur für Bil­dung und Inter­na­tio­na­li­sie­rung (OeAD), das für Leh­ren und Ler­nen über den Holo­caust und die NS-Zeit ver­ant­wort­lich ist und Zeit­zeu­gen­be­suche or­gani­siert, lis­tet nur noch zwölf Per­so­nen, die für Schul­be­suche zur Ver­fü­gung ste­hen. Zwei sind 1932 ge­bo­ren, alle an­de­ren frü­hes­tens 1936, wa­ren also, so wie auch Eva Riba­rits, wäh­rend der Kriegs­jahre (Klein)Kinder.

Die Erinnerung an die NS-Zeit befindet sich an einem Wende­punkt, am Über­gang vom kom­mu­ni­ka­ti­ven zum kul­tu­rel­len Ge­dächt­nis. Die münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen ein­zel­ner Per­so­nen wer­den durch ihren Nach­lass er­setzt, durch Auf­zeich­nun­gen und Nach­er­zäh­lun­gen. Mate­rial gibt es genug. Der Holo­caust und die NS-Zeit sind das wohl am bes­ten auf­ge­ar­bei­te­te Er­eig­nis der jün­ge­ren Ge­schichte.

Allein die Shoah Foundation an der University of Southern Cali­for­nia hat über 50.000 Inter­views mit Über­leben­den auf­ge­nom­men. Auch dank der auf per­verse Wei­se akri­bi­schen Büro­kra­tie der Nazis sind vie­le Doku­mente er­hal­ten ge­blie­ben. Ge­rade in Öster­reich gibt es zu­dem kaum einen Straßen­zug, der von der NS-Zeit nicht be­rührt wurde. Das Bun­des­denk­mal­amt lis­tet rund 2100 so­ge­nannte Opfer­orte auf. Kriegs­ge­fan­genen-und Zwangs­ar­beits­lager, KZ-Außen­stel­len und Eutha­na­sie-Stand­orte.

Aber wird das alles reichen? In einem Land, in dem eine Par­tei, die von ehe­ma­li­gen SS-Män­nern ge­grün­det wurde, dem­nächst den Kanz­ler stel­len könnte? In dem laut re­prä­sen­ta­ti­ver Um­frage des Doku­men­ta­tions­ar­chivs des öster­rei­chi­schen Wider­standes (DÖW) vom Vor­jahr 42 Pro­zent fin­den, Dis­kus­sio­nen über den Holo­caust und den Zwei­ten Welt­krieg soll­ten be­endet wer­den? Ge­rade des­halb scheint es so wich­tig wie nie, der nächs­ten Gene­ra­tion zu ver­mit­teln, wie es zum größ­ten Mas­sen­mord der Mensch­heits­ge­schichte kam.

Der österreichische KZ-Überlebende Hermann Langbein über­zeugte das Unter­richts­minis­te­rium da­von, 1978 den "Re­fe­rent­en­ver­mitt­lungs­dienst für Zeit­ge­schichte" zu star­ten. Mit dem so­ge­nann­ten Bio­gra­phical Turn in der Ge­schichts­for­schung, der ab den 1980ern auto­bio­gra­fische Schil­de­run­gen auf­wer­tete, stieg auch das Inter­esse an den Er­zäh­lungen von Opfern.

Es folgten die Waldheim-Affäre 1986, das Ein­ge­ständ­nis der Mit­schuld Öster­reichs an den NS-Ver­bre­chen durch den dama­ligen Bun­des­kanz­ler Franz Vra­nitz­ky von der SPÖ 1991 und die Grün­dung der Shoah Foun­da­tion durch den US-Re­gis­seur Steven Spiel­berg 1994. Mit der Kon­se­quenz, dass Zeit­zeu­gen­be­suche aus der zeit­ge­schicht­li­chen Bil­dung nicht mehr weg­zu­den­ken sind.

Dabei beruht das Konzept auf einem un­schar­fen Be­griff. Was ist das über­haupt, ein Zeit­zeuge? Im Eng­li­schen wird statt­des­sen ent­we­der von wit­ness, dem Zeu­gen, oder sur­vi­vor, dem Über­le­ben­den, ge­spro­chen. Von wel­cher Zeit sol­len die Über­le­ben­den Zeug­nis ab­legen -der ver­gan­ge­nen oder der ak­tuel­len? Der Be­griff scheint eine Brücke zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart zu schla­gen. Für den His­to­ri­ker Daniel Schuch von der Uni­ver­si­tät Jena dient die Fi­gur des Zeit­zeu­gen einem Er­lö­sungs­ver­spre­chen, und zwar "einer ver­bes­ser­ten Zu­kunft ohne Hass, Vor­ur­tei­le und In­dif­fe­renz". Von den Über­le­ben­den wird eine mo­ra­li­sche Bot­schaft er­wartet.

Doch viel wichtiger ist ein anderer Aspekt. "Wenn sie ein­mal an­ge­fan­gen ha­ben zu fra­gen, dann fällt ihnen im­mer mehr ein, das sie noch wis­sen wol­len", be­rich­te­te die jü­di­sche NS-Über­le­bende Ger­traud Fletz­ber­ger in ei­nem Inter­view über einen Schul­be­such, der vier Stun­den dau­erte. Fletz­ber­ger, Jahrgang 1932, ent­kam 1938 mit einem Kin­der­trans­port nach Schwe­den. "Je mehr sie fra­gen, umso mehr Ab­gründe, über­trie­ben ge­sagt, ma­chen sich auf."

Fragen zwingt zum Nachdenken - und zum Her­stel­len ei­ner Ver­bin­dung zu sich selbst. Es ent­steht so­mit eine "Er­zäh­lung von Ge­schichte als Ver­knüp­fung un­seres Ichs mit der Welt", so der Schwei­zer Wis­sen­schaft­ler Peter Gaut­schi. Die USC Shoah Foun­da­tion ex­peri­men­tiert mit inter­ak­ti­ven Videos, die mit­tels Sprach­er­ken­nungs­soft­ware die Fra­gen er­ken­nen und ein au­then­ti­sches Zeit­zeu­gen­ge­spräch simu­lieren. "Da sind wir kri­tisch", sagt Pat­rick Sie­gele, der Erinnern.at lei­tet. "Es sug­ge­riert et­was, das es nicht gibt. Dahin­ter steckt näm­lich nicht die Be­geg­nung mit einem ech­ten Men­schen, son­dern mit einer Ma­schine, die der Lo­gik von Algo­rith­men folgt."

Bei den persönlichen Gesprächen hingegen geht es um das Ler­nen aus Le­bens­ge­schich­ten. Er­zäh­len die Über­le­ben­den vom er­zwun­ge­nen Um­zug, vom Ver­lust eines Freun­des oder viel­leicht ein­fach nur da­von, ge­fro­ren zu ha­ben, weckt das Asso­zia­tio­nen bei den Schü­lern. Durch ge­teil­tes Er­leben ent­ste­hen Ver­bin­dungen.

So kann auch Eva Ribarits bei den Schülerinnen und Schülern an­docken. Die Flucht, das Fremd­sein, das Trauma der El­tern, das sind The­men, die auch im 21. Jahr­hun­dert noch prä­sent sind. "Die Kin­der fra­gen oft, ob ich lie­ber in ei­nem an­de­ren Land ge­lebt hätte", sagt Ribarits.

Erinnern.at, das als Ein­rich­tung des Bundes Holo­caust­ver­mitt­lung or­gani­siert und för­dert, setzt nun auf Men­schen wie Riba­rits, die Er­zäh­lun­gen ihrer El­tern und teils auch Groß­el­tern wei­ter­geben - die so­ge­nannte zwei­te und drit­te Gene­ra­tion. Schließ­lich lässt sich auch hier Authen­ti­zi­tät her­stel­len, und, vielvleicht noch wich­ti­ger, die Mög­lich­keit, Fra­gen zu stel­len. Ein sol­ches Pro­jekt mit Schul­be­su­chen von Nach­kom­men wird seit ver­gan­ge­nem Jahr auch wis­sen­schaft­lich be­gleitet.

"Nachkommengespräche können auch eine gute Mög­lich­keit sein", sagt Daniela Lackner. So viel Er­fah­rung hat sie da­mit noch nicht ge­macht, fügt sie hin­zu. Lackner ist Leh­re­rin für Ge­schichte, poli­ti­sche Bil­dung und Eng­lisch an der BAfEP 10, der Bun­des­bil­dungs­an­stalt für Ele­men­tar­päda­go­gik in Wien-Favo­riten. Im Schul­jahr 2022/23 star­tete sie erst­mals ein Ge­denk­pro­jekt mit einer Schüler­gruppe.

Gemeinsam erarbeiteten sie einen Er­in­ne­rungs­weg durch Favo­riten: Sechs Sta­tio­nen gab es, da­run­ter den ehe­ma­li­gen Humboldt-Tempel, eine Syna­goge mit 700 Sitz­plät­zen, die wäh­rend der No­vem­ber­po­grome 1938 zer­stört wurde, und den Ba­ranka-Park, einst Lager­platz für Roma, Sinti und Lo­vara. Einen Ge­denk­stein im Böh­mi­schen Pra­ter setzte die Schu­le selbst. Die Schü­ler über­setz­ten die In­halte auf Bos­nisch/Kroa­tisch/Ser­bisch, Rus­sisch, Ara­bisch und Türkisch.

Für eine Begegnung mit dem 1933 ge­bo­re­nen Kurt Hill­mann, der die NS-Zeit als so­ge­nann­ter "Misch­ling" über­lebte, reiste die Grup­pe da­mals nach Ber­lin. "Kaum hat er den Raum be­tre­ten, ist es ganz still ge­wor­den", er­innert sich Lackner. "Er hat­te noch gar nichts ge­sagt." In den Fol­ge­pro­jek­ten wird Lack­ner auf sol­che Be­geg­nun­gen wohl ver­zich­ten müs­sen. Was sind die Alter­na­tiven?

Je weniger Zeitzeugen sprechen, desto größ­ere Be­deu­tung er­hal­ten die Orte der Ver­fol­gung. Schließ­lich ver­mit­teln auch sie Au­then­ti­zi­tät, sind ein Zeug­nis der Zeit. Und sie hel­fen, Men­schen mit unter­schied­li­chen Ge­schich­ten zu ver­bin­den. In Lack­ners Grup­pen liegt der An­teil von Schü­lern mit Mi­gra­tions­hin­ter­grund bei gut 80 Pro­zent. Im­mer wie­der, er­zählt Lack­ner, höre sie dann von ei­ni­gen Schü­lern, dass sie sich für die Er­inne­rung an die NS-Zeit nicht wirk­lich ver­ant­wort­lich füh­len. "Das ist nicht un­se­re Ge­schichte, wir wa­ren nicht be­teiligt."

Oft wird dann erst einmal gemeinsam erarbeitet, welche Rolle ihre Her­kunfts­län­der wäh­rend der NS-Zeit spiel­ten. Wa­ren es Ver­bün­dete von Nazi-Deutsch­land, so wie die Tür­kei? Wur­den auch dort Kriegs­ver­bre­chen ver­übt, wie auf dem Bal­kan? Ver­or­tet man die Ge­schich­te im ei­ge­nen Grät­zel, im ei­genen Schul­bezirk, ent­steht etwas Ver­bin­den­des. "Dann ist es plötz­lich ihre Ge­schichte, weil sie davor­stehen", sagt Lackner.

Historische Orte haben eine eigene Kraft. Die meisten Men­schen, die das erste Mal die Ge­denk­stät­te des ehe­ma­li­gen Kon­zen­tra­tions­la­gers Maut­hau­sen be­su­chen wür­den, seien über­wäl­tigt von dem An­blick, sagt Gudrun Bloh­berger, die päda­go­gi­sche Lei­te­rin der Ge­denk­stät­te. Die Größe des Are­als, wie es auf dem Hü­gel thront, weit­hin sicht­bar, die lieb­li­che Land­schaft rund­he­rum. "Die Men­schen se­hen, dass es eine wahre Ge­schichte ist." Gut 4300 Ver­mitt­lungs­pro­gram­me fin­den je­des Jahr dort so­wie in den ehe­ma­li­gen Außen­la­gern Melk und Gusen statt.

Bei den Rundgängen ist der ehe­ma­li­ge Fuß­ball­platz der SS eine der ers­ten Sta­tio­nen. Heute ist dort nur noch eine Wiese, im Früh­ling blü­hen Wild­blu­men. Alte Auf­nah­men zei­gen, dass es Zu­schauer­tri­bü­nen gab. Men­schen aus der Um­ge­bung sa­hen also regel­mäßig zu. Der Fuß­ball­platz war mit einem Stachel­draht vom ehe­ma­li­gen Sani­täts­lager des KZ ab­ge­trennt, je­nen Ba­racken, in denen nicht mehr ar­beits­fä­hige Men­schen unter­ge­bracht wur­den. "Wir be­zeich­nen es heute als Ster­be­lager", sagt Blohberger.

Wer zum Fußballspiel kam, sah also ins Lager hinein. Tä­ter, Opfer und Zu­se­her tra­fen auf kleins­tem Raum auf­ei­nan­der. Wie konnte das sein? "Vie­le Be­su­cher ver­muten, dass die lo­kale Be­völ­ke­rung ge­zwun­gen wurde, die Spiele an­zu­se­hen", er­zählt Gudrun Bloh­berger. "Da­für gibt es in der Ge­schichts­schrei­bung aber keine Indizien."

Der Ort zwingt zur Auseinandersetzung und zum Fra­gen­stel­len, an die Ge­schichte und an sich selbst. "Kon­takt­zonen der Ge­schichts­ver­mitt­lung" nennt die öster­rei­chi­sche Kul­tur­wis­sen­schaft­lerin Nora Stern­feld sol­che An­läsvse und Räume in ihrem gleich­nami­gen Buch -und wirft die Fra­ge auf, wel­ches Ver­hal­ten dort an­ge­messen ist.

Sie zitiert einen Überlebenden des KZ Bergen-Belsen: "An­ge­mes­se­nes Ver­hal­ten an diesem Ort - was ist das? Als ich hier war, wurde hier ge­mor­det und ge­stor­ben. Das war das an­ge­mes­sene Ver­hal­ten in Bergen-Belsen "

Die meisten jungen Menschen, die erstmals kommen, seien eher ängst­lich und an­ge­spannt, er­zählt Bloh­ber­ger. Da­bei dürf­ten Be­su­cher ohne­hin al­les sa­gen und fra­gen. Ver­gleicht bei­spiels­weise je­mand Gaza mit einem KZ, wird die Grup­pe ein­ge­bun­den. Wer denkt an­ders? Wie kommt die Per­son zu die­ser An­sicht?"Wir brau­chen Ver­glei­che, um uns in der Ge­schichte orien­tie­ren zu kön­nen", sagt Bloh­berger. "Aber wir müs­sen heraus­ar­bei­ten, was heute an­ders ist."

Das ist auch Eva Ribarits wichtig. Wenn sie den Schüler­in­nen und Schü­lern er­zählt, dass sie als Kind die Ab­leh­nung ihrer Um­ge­bung spür­te, fügt sie im­mer hin­zu, dass sich die Zei­ten ge­än­dert ha­ben. Die Ge­sell­schaft ist nun di­ver­ser und offe­ner. Auch beim Heurigen.
 

Die vielen Leben der Helga Feldner-Busztin

Anna Goldenberg in FALTER 44/2024 vom 30.10.2024 (S. 19)

Das muss es gewesen sein", sagte meine Groß­mut­ter. Sie stand vor einem gel­ben Wohn­haus in Tere­zín. Das ehe­ma­lige Garni­son­städt­chen im Nor­den Tsche­chiens hieß einst The­re­sien­stadt, in der NS-Zeit war hier ein Kon­zen­tra­tions­lager. 1943 hat­ten die Nazis meine da­mals 14-jährige Groß­mutter Helga aus Wien dort­hin ver­schleppt, weil sie Jüdin war. Durch di­ver­se glück­liche Fü­gun­gen über­leb­te sie bis zur Be­frei­ung über zwei Jahre später.

Und nun befanden wir uns wieder an diesem Ort. Es war Au­gust 2013, ich sollte über un­seren ge­mein­samen Aus­flug eine Re­por­tage schrei­ben. Helga, da­mals 84, brauchte keine Moti­va­tion meiner­seits, die eher trost­losen Straßen zu er­kunden. Im Gegen­teil. Die Ka­ser­nen­fens­ter, die Kir­che, der Markt­platz, das Stadt­tor - wenn sie etwas wie­der­er­kannte, er­zählte sie be­reit­willig.

Auch über L414, das ehemalige Mädchen­heim, vor des­sen Fas­sade wir nun stan­den. Auf Stroh­säcken hat­ten sie ge­schla­fen, die Bett­wan­zen wa­ren eben­so eine Qual ge­wesen wie der stän­di­ge Hun­ger. Im­mer war sie auf der Suche nach Ess­barem, seien es Reste oder Herunter­ge­fallenes.

Das Eingangstor des gelben Wohn­hauses war un­ver­sperrt, sie trat ein. Das Haus schien be­wohnt, aber ver­wahr­lost, Spinn­weben, Tau­ben, Ge­rüm­pel. Selbst­be­wusst stieg Helga den Halb­stock hi­nauf und blickte aus dem Fenster.

Ja, das sei es gewesen. Sie war zu­frie­den, wei­ter ins Haus vor­drin­gen wollte sie dann doch nicht.

Lange Jahre hatte ich meine Großmutter nur als Groß­mut­ter ge­se­hen. Und die­sen Job er­füllte sie in mei­nen Kin­der­au­gen sehr gut: Sie holte mich von der Volks­schule ab, hat­te stets Süßig­kei­ten da­bei und strickte bunte, warme Socken. Ihre Ge­schenk­e waren groß­zü­gig; wer krank wur­de, be­kam min­des­tens einen täg­lichen Anruf.

In anderen Belangen war sie aber eher untypisch. Sie nahm bis Mitte 80 an Aerobic-Stun­den im Fit­ness­cen­ter teil und ach­tete auf ihr Ge­wicht. Sie war schonungs­los ehr­lich und sprach aus, wenn sie den Lebens­wan­del ande­rer nicht gut­hieß. Weh dem, der rauchte! Außer­dem ar­bei­te­te sie bis in ihr 90. Lebens­jahr hinein als Ärztin.

Erst als ich älter wurde, begann ich, über den Zu­sam­men­hang mit ihrer Ver­gan­gen­heit nach­zu­den­ken. Der Hun­ger hat­te wohl ihr eigen­ar­ti­ges Ver­hält­nis zum Es­sen ge­prägt, die Lü­gen des NS-Regimes viel­leicht das Be­dürf­nis nach Wahr­haf­tig­keit. Und die­ser Ehr­geiz stammte mög­li­cher­wei­se von je­nem Er­leb­nis, das sie stets zu den schlimms­ten ihres Le­bens zähl­te: der Tag im Früh­jahr 1938, als sie, ge­rade ein­mal neun Jahre alt, aus ihrer Volks­schul­klas­se ge­wor­fen wur­de, weil sie Jüdin war.

Allen zu beweisen, dass sie kein Mensch zwei­ter Klas­se sei, das trieb sie an. Im Nach­kriegs­wien lernte sie mei­nen Groß­va­ter Hansi ken­nen, sie 16, er 19. Den Holo­caust hat­te er hier über­lebt, weil ihn sein ehe­ma­li­ger Schul­arzt ver­steckt hat­te; die El­tern und der jün­gere Bru­der wa­ren im KZ er­mor­det worden.

Hansi hatte gerade sein Medizinstudium begonnen, Helga ging noch zur Schule. Doch weil sie gleich­auf sein wollte, brach sie die Schule ab, be­suchte statt­des­sen einen Ma­tura­kurs - und pa­ral­lel die Medi­zin­vor­lesungen.

Vereint im Willen, aus diesem Leben, in dem schon so viel zer­stört wor­den war, et­was zu ma­chen, blie­ben Hansi und Helga 50 Jahre lang ein Paar. Helga wurde Ober­ärz­tin, sie be­kamen vier Kin­der und zo­gen aus der Ge­mein­de­woh­nung in ein Haus.

Was sie erlebt hatten, war präsent und doch nicht. Bei den Abend­es­sen sprach man eher über medi­zi­ni­sche Fäl­le als über die Ver­gan­gen­heit. Doch die Fa­mi­lie kannte die Ge­schich­ten, tru­gen die Kinder doch Namen der er­mor­de­ten Ver­wand­ten, und auch wir En­kel­kin­der wuss­ten, dass mein Groß­vater im Werk­zeug­kel­ler unter dem Lino­leum­boden ein manns­großes Ver­steck ge­baut hatte.

Der Holocaust hatte seinen selbst­ver­ständ­li­chen Platz im Hinter­grund des Le­bens. Sie sei nun ein­mal nicht senti­men­tal, sagte Helga. Aber viel­leicht hat­te sie nicht den Raum, um sich aus­zu­drücken. Den be­kam sie sehr spät. Erst Ende der 1980er-Jahre war die öster­rei­chi­sche Öf­fent­lich­keit be­reit, sich mit der Tä­ter­schaft wäh­rend der NS-Zeit zu be­schäf­ti­gen. 1998 gab Helga ihr ers­tes län­ge­res Inter­view - der von Steven Spiel­berg ge­grün­de­ten US-ameri­ka­ni­schen Shoah Foun­dation.

Nach und nach kamen in Österreich immer mehr enga­gier­te Men­schen, die sie be­frag­ten und ein­luden. Be­son­ders gerne ging sie an Schu­len. Wie­der und wie­der er­zähl­te Helga dort ihre Ge­schichte. Mit ihrem ruhi­gen, aber be­harr­li­chen Ehr­geiz machte sie sich an die neue Le­bens­auf­gabe. Sie ge­noss die ehr­li­che Auf­merk­sam­keit und die in­teres­sier­ten Fragen.

Ihre letzte Schulklasse besuchte sie heuer im März.

Posted by Wilfried Allé Sunday, November 2, 2025 9:46:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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