von Oliver Rathkolb

Kurzbeschreibung des Verlags
Oliver Rathkolbs »Biografie der Republik« (Ernst Schmiederer, Die Zeit) über die Geschichte Österreichs von 1945 bis 2025
Achtzig Jahre Kriegsende, siebzig Jahre Staatsvertrag, dreißig Jahre EU-Mitgliedschaft: Oliver Rathkolbs »Standardwerk zur Geschichte Österreichs« (Die Zeit) in einer aktualisierten Fassung. Vom »Bollwerk des Deutschtums im Osten« über die »Brücke zwischen den Blöcken« zur »Insel der Seligen« und zum EU-Mitglied: Die Bilder, in denen sich Österreich in den vergangenen Jahrzehnten spiegelte, haben sich gewandelt. Geblieben ist die merkwürdige Gleichzeitigkeit von Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex. Geblieben sind auch die Paradoxien: ein neutrales Land, dessen Westbindung außer Frage steht; ein Land, das sich demokratisch nennt, in dem wesentliche Entscheidungen aber nach wie vor außerhalb des Parlaments getroffen werden.
FALTER-Rezension
"Der Heldenplatz braucht ein völlig neues Gesamtkonzept"
Anna Goldenberg in FALTER 18/2025 vom 02.05.2025 (S. 30)
Oliver Rathkolb sitzt im Geriatrie-Zimmer. So nennt er sein Büro im Institut für Zeitgeschichte am Campus der Universität Wien im Alten AKH. Rathkolb, der Ende 2024 nach 18 Jahren als Professor in Pension ging, teilt sich das Zimmer mit drei weiteren emeritierten Professoren. Der Raum ist bis zur Decke vollgestopft mit Büchern. Rathkolb hat seine Unterlagen auf zwei Schreibtischen ausgebreitet, die Kollegen sind selten da, und zu tun hat er viel.
Im Wien Museum eröffnete am 10. April eine von ihm initiierte und mitkuratierte Ausstellung über alliierte Kulturpolitik, einige Tage später erschien die Neuauflage seines Buches "Die paradoxe Republik". Rathkolb zählt zu Österreichs wichtigsten Zeithistorikern, die vielen Verstrickungen der Zweiten Republik in die NS-Vergangenheit sind sein Spezialgebiet. In einem Interview fragte ihn die Zeit kürzlich, ob er "der Thomas Bernhard unter den Historikern" sei, weil er stets hart mit seinen Landsleuten ins Gericht gehe. Den Vergleich findet er witzig -aber eigentlich sei er weniger grantig als der Literat.
Falter: Herr Rathkolb, 2005 feierte die Republik ihre Geschichte als "Gedankenjahr", 2015 war das Gedenken schon viel selbstkritischer. Worauf sollten wir uns im heurigen Gedenkjahr konzentrieren?
Oliver Rathkolb: Wir sollten uns fragen: Stehen wir vor dem Ende der parlamentarischen Demokratie? Also vor dem Ende der Zweiten Republik, nach all den Verwerfungen, der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur, der totalitären Diktatur der Nazis, der sehr autoritären Entwicklung des österreichischen Parlamentarismus und der Parteienlandschaft nach 1945? Deshalb ist der Fokus auf die Jahre 1945 und 1955 so wichtig.
Dazu haben Sie eine Ausstellung im Wien Museum mitkuratiert. Was lernen wir aus dieser "alliierten Zeit", als die USA, England, Frankreich und Russland in Österreich das Kommando hatten, bevor der Staatsvertrag der Republik ihre Selbstverwaltung gab?
Rathkolb: Es ist eine Zeit voller Widersprüche. Freude, dass der Krieg, die Bombardements vorbei sind und man wieder ganz normalen Alltagsfreuden nachgehen kann. Die Amis spielten in ihren Kinos den Disney-Zeichentrickfilm "Bambi", das traf den Nerv der Zeit, weg aus der Realität, rein in Fantasiewelten. Der damaligen Generation ist es gelungen, mit unglaublich viel Fantasie, Improvisation, Lebensfreude und Solidarität diese Jahre zu überbrücken, natürlich mit großer internationaler Hilfe. Das scheinen wir heute vergessen zu haben. Heute glauben wir, die Welt geht unter, wir sind verloren, weil uns der Vergleich fehlt.
Es geht uns also besser, als viele glauben?
Rathkolb: Die Beschäftigung mit dem Jahr 1945 ist eine gute Basis, um mit der Gegenwart besser fertig zu werden, finde ich. Das Nachkriegsjahrzehnt war ja auch ein unglaublicher Demokratiemotor, heute stehen wir am Anfang eines autoritären Zeitalters. Es wird weiter Wahlen geben, aber die Entscheidung liegt nicht mehr bei den Wählern und Wählerinnen, weil alles manipuliert wird und eine kleine politische Schicht die Zügel in der Hand hält. Wir haben das in Ungarn im Kleinen, in den USA im Großen und in Österreich gerade noch einmal abgewandt.
Ist das der Geburtsfehler der Zweiten Republik, dass sich die FPÖ beziehungsweise deren Vorgängerpartei, der Verband der Unabhängigen (VdU) - im Jahr 1949 überhaupt gründen durfte?
Rathkolb: Ja, jedenfalls. Die ÖVP wollte ja die ehemaligen Nazis in ihre Partei integrieren, aber dann waren sie ihnen doch zu wild. Die SPÖ setzte sich für eine vierte Partei ein, neben ÖVP, SPÖ und den Kommunisten, in der Hoffnung, das bürgerliche Lager mit einer Post-Nazi-Partei zu spalten. Die US-Militärs waren strikt gegen die VdU-Gründung, dann fielen die Amis um. Da spielt der Kalte Krieg eine große Rolle. Die Ex-Nazis waren perfektes Soldatenmaterial gegen die Sowjets, deshalb wollte man sie in die Gesellschaft wieder integrieren.
Die Alliierten, allen voran die Amerikaner, hatten ihre Zeitungen, sie bildeten heimische Journalisten zu kritischen Berichterstattern aus. Trotzdem ging die Saat nicht ganz auf, wenn man sich Österreichs Medienlandschaft nach dem Krieg anschaut, bis heute. Warum nicht?
Rathkolb: Wenn man so will, ist das der zweite Geburtsfehler Österreichs: Die Alliierten haben die Medienkonzentration nicht, wie in Deutschland, verhindert. Sie haben nicht mehrere, stark föderal orientierte Sendeanstalten wie in Deutschland durchgesetzt, sondern einen zentralen Fernseh-und Rundfunksender gestattet. Es wäre einfach gewesen, Österreich im Staatsvertrag zu verpflichten, die Besatzungssender als öffentlich-rechtliche Stiftungen weiterzuführen -also Rot-Weiß-Rot, Alpenland und in Vorarlberg den Sender West. In Deutschland wurde auch das Universitätswesen föderal ausgestaltet, aus Berlin weg - in Österreich aber nicht.
Ein Gedankenspiel: Wie stünde Österreich heute da, hätte es diesen Demokratieaufbau der Alliierten nach dem Krieg nicht gegeben?
Rathkolb: Ich glaube, es hätte alles einfach noch länger gedauert. Vor allem die Aufarbeitung unserer NS-Geschichte. Ich selbst hatte ein Fulbright-Stipendium in den 1980er-Jahren, das mir den Zugang zu vielen NS-Akten in Washington, D.C., ermöglicht hat. In den Depots der National Archives lagen Tonnen von Material über die Entnazifizierung österreichischer Künstler. In Wien wäre ich nicht einmal in die Nähe solcher Akten gekommen. Im Staatsarchiv waren Akten, in denen Jüdinnen und Juden vorkommen, zwar nicht gesperrt, aber de facto zensiert. Ein Archivar hatte die aussortiert und ein Sonderarchiv angelegt, das er als "Juden-Akten" beschriftet hatte. Das war kein Begriff aus der Nazizeit, sondern aus dem Jahr 1988.
Sieht man sich die jüngere Geschichte an, fällt auf, dass einige große erinnerungspolitische Errungenschaften unter rechtskonservativen Regierungen gelangen - der Restitutionsfonds unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und FPChef Jörg Haider, die Staatsbürgerschaft für die Nachkommen der NS-Verfolgten und das Shoah-Denkmal unter Bundeskanzler Sebastian Kurz und seinem FP-Vize Heinz-Christian Strache. Ist das nur Zufall?
Rathkolb: Es sind wohl Maßnahmen, die getroffen wurden, um sich vor der internationalen Öffentlichkeit besser darzustellen. Das ist eine sehr österreichische Schwäche. Man sieht das schon in der Waldheim-Debatte Mitte der 1980er-Jahre. Wir haben damals wirklich das Gefühl gehabt, wir stehen am Pranger der Welt, alle sind gegen uns. Aber wenn man genau hinschaut, war es intensiv, aber nicht so furchtbar. Wir machen uns gerne zum Zentrum der Welt und überhöhen damit auch die internationalen Debatten. Das erklärt auch diese Aktivitäten von Schüssel, der wegen der Haider-Koalition ein Imageproblem hatte. Die Maßnahmen der damaligen Regierung sind ein bisschen eine opportunistische Geschichte, aber es ist auch ein guter und wichtiger Zweck.
Ein Holocaustmuseum ist schon länger eine politische Forderung. Türkis-Grün schrieb es sich ins Regierungsprogramm, die schwarz-rot-pinke Koalition plant eine Machbarkeitsstudie. Braucht Österreich das?
Rathkolb: Man merkt, wie kurzlebig die Geschichte ist, denn diese von dem Politologen Anton Pelinka und einigen anderen geschriebene Studie gibt es längst. Letztlich ist das Museum eine politische Entscheidung. Ich halte es für wichtiger, die Gedenkstätten und Erinnerungsorte in ganz Österreich stärker auszubauen. Nicht nur im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen, sondern auch in den Nebenlagern. Wir müssen in die Bundesländer. Österreich ist größer als Wien.
Noch eine gedenkpolitische Baustelle sind die Bilder des NS-Künstlers Rudolf Eisenmenger, die im Parlament hängen und vom FPÖ-Nationalratspräsidenten Rosenkranz bei offiziellen Terminen in Szene gesetzt werden. Wie mit diesen Kunstwerken umgehen?
Rathkolb: Eisenmengers Parlamentsbilder sind ja kein Einzelfall. Er hat in den 1950er-Jahren den eisernen Vorhang in der Staatsoper gestaltet, den Westbahnhof, das Künstlerhaus. Er war der Staatskünstler der Wiederaufbaujahre, weil er eine unglaubliche politische Elastizität hatte -und den biederen Geschmack der damaligen erzkonservativen politischen Elite traf. Der damalige Staatsoperndirektor Ioan Holender hat sich 1998 dazu entschlossen, den eisernen Vorhang überblenden zu lassen. Eine sehr gute Entscheidung, weil man sich bei jeder neuen Überblendungsaktion mit Eisenmenger auseinandersetzen muss. Das ist viel besser als eine Verhüllung, wie sie im Parlament gemacht wurde. Es gab eine Flut von wütenden Briefen, aber Holender hat Rückgrat gehabt, das durchgezogen, und heute sind alle begeistert.
Überblenden also auch im Parlament?
Rathkolb: Der Herr Parlamentspräsident, der ja ein sehr gebildeter Mensch ist, weiß ganz genau, wer Eisenmenger war. Seine Entscheidung, sich dauernd vor dem Gemälde abbilden zu lassen, halte ich für eine völlig überzogene Provokation. Vielleicht mag er einmal Direktor Holender einladen, der hat jetzt als Pensionist viel Zeit und findet sicher eine gute Lösung.
Gehen wir Ihrer Meinung nach eigentlich mit dem Heldenplatz richtig um?
Rathkolb: Der Heldenplatz bräuchte ein völlig neues Gesamtkonzept. Vor zehn Jahren hatten wir schon einmal eines. Der damalige Kanzleramtsminister Josef Ostermayer (SPÖ) berief eine Expertengruppe für eine völlige Neukonzeption des Heldenplatzes ein: Autos weg, Tiefgarage her, das Äußere Burgtor neu gestalten, ein Bücher-Tiefspeicher für die Nationalbibliothek und die Universität Wien. Alle Sammlungen, auch das Kunsthistorische Museum und die Nationalbibliothek, sollten mit einem gemeinsamen Ticket zugänglich sein. Die Beamten haben brav gerechnet, waren aber entsetzt über die Kosten -insgesamt 111 Millionen Euro. Inzwischen wurde ein neues Depot der Universitätsbibliothek in Floridsdorf für rund 38 Millionen Euro gebaut. Lastwagenkolonnen fahren die Bücher vom Rande Wiens in die Stadt. Und der Heldenplatz schaut immer noch so aus wie damals, ein Sammelsurium an Gedenkorten.
Was tun mit dem sogenannten Hitler-Balkon, also dem Altan der Neuen Burg?
Rathkolb: Wir haben schon vor zehn Jahren im Rahmen einer großen, internationalen Expertengruppe die Gefahr des Missbrauchs durch Neonazis oder andere Idioten diskutiert. Aber letzten Endes waren wir alle dafür, die zum Kunsthistorischen Museum gehörende Sammlung alter Musikinstrumente zu übersiedeln und den Altan ins Haus der Geschichte zu integrieren, alles auf einer Ebene. Natürlich gab es auch schon die Idee einer künstlerischen Intervention. Die Burghauptmannschaft, die für das Areal verantwortlich ist, hat aber wegen Absturzgefahr Auflagen gemacht. Dabei wäre das der perfekte Ort, um sich mit dem Balkon und allen politischen Instrumentalisierungen des Platzes seit der Monarchie auseinanderzusetzen. Der Platz ist eine Art Kaleidoskop der österreichischen Geschichte. Aber den Balkon einfach zu verschließen finde ich den falschen Weg. Ich fürchte, in dem Moment, in dem das Haus der Geschichte Österreich ins Museumsquartier umgesiedelt sein wird, ist die Debatte wieder verschwunden.
Das wird jetzt auf jeden Fall geschehen. Beschlossen wurde es im November 2023. Hieß der Heldenplatz eigentlich schon immer Heldenplatz?
Rathkolb: Das habe ich mir damals angeschaut und im Wiener Stadt-und Landesarchiv herausgefunden, dass es nie eine formelle Umbenennung gab. Der offizielle Name des Platzes ist nach wie vor Äußerer Burgplatz. Heldenplatz ist eine Art volkstümliche Zusatzbeschreibung. Auch in der NS-Zeit wurden beide Begriffe parallel verwendet. Und danach, in der Zweiten Republik, war man natürlich auf der Suche nach neuen Helden.
Wie würden Sie den Heldenplatz eigentlich am liebsten nennen?
Rathkolb: Ich würde dazu eine Volksbefragung machen und Namen vorschlagen: Platz der Demokratie, der Republik, der Frauen. Wobei ich nicht sicher bin, ob am Ende, wenn man den Heldenplatz mitabfragt, wir nicht wieder beim Helden-oder besser Heldinnenplatz landen.