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Die Rettung der Arbeit 

Ein politischer Aufruf

von Lisa Herzog

Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 224 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.02.2019
Preis: € 22,70


Rezension aus FALTER 40/2020

„Raus aus dem darwinistischen Dschungel“

Lisa Herzogs Karriere kennt viele „Die Erste“- und „Die Jüngste“-Momente. Sie war eine der jüngsten Philo­sophie­pro­fes­sorinnen Deutsch­lands (mit 32), sie war die erste Frau, die den Trac­ta­tus-Preis des Phi­lo­sophi­cum Lech erhielt (mit 35, im Jahr 2019). Herzogs Schwer­punkte sind po­li­tische Phi­lo­so­phie und Öko­nomie, ihr Buch „Die Zu­kunft der Ar­beit“ stand wochen­lang auf der Sach­buch-Besten­lis­te und machte sie zur Vor­den­kerin einer so­zi­aleren, ge­mein­ ohl­orien­tier­ten, fairen Ar­beits­welt.

Falter: Frau Professor Herzog, Ihr Buch „Die Rettung der Arbeit“ könnte nicht aktu­eller sein, über­all in Eu­ro­pa be­mühen sich Re­gie­rungen, Ar­beits­plätze zu ret­ten, mit im­mer neu­en Hilfs­pa­ke­ten, mit der Ver­län­ge­rung der Kurz­ar­beit – sind es am Ende die fal­schen In­stru­mente?

Lisa Herzog: So pauschal lässt sich das nicht sagen. Die Poli­tik ver­sucht vor allem, Be­ste­hen­des zu be­wahren. Sie agiert im Not­fall­modus und ver­sucht, Schäden zu mini­mieren. In mei­nem Buch schla­ge ich da­ge­gen vor, Ar­beit an­ders zu ge­stal­ten, bes­ser, ge­rech­ter. The­men wie Demo­kra­ti­sie­rung, Be­fähi­gung der Ar­bei­ten­den oder alter­na­tive Fir­men­mo­del­le sind im Mo­ment lei­der nicht auf der po­li­ti­schen Agen­da.

Sind Krisenzeiten nicht auch Zeiten, auf die ge­sell­schaft­liche Um­brüche fol­gen?

Herzog: Am Ende von Krisen­phasen stehen oft größere poli­ti­sche Ver­schie­bungen. Nehmen Sie zum Bei­spiel die Ein­führung des Frauen­wahl­rechts am Ende des Ers­ten Welt­kriegs. In Kri­sen­pha­sen wer­den Selbst­ver­ständ­lich­keiten, die vor­her un­hinter­fragt wa­ren, als ver­änder­bar er­lebt, man merkt, es könnte auch ganz an­ders sein. Da­mit fal­len ge­wis­se Ta­bus, und das kann Macht­ver­hält­nis­se ver­än­dern. Ich habe die Hoff­nung noch nicht auf­ge­geben, dass wir auch aus die­ser Kri­se etwas ler­nen und nach­hal­tige Ver­ände­rungen an­ge­stoßen wer­den. Den­ken wir nur an den Ap­plaus und die Mu­sik für die system­rele­van­ten Be­rufe. Bis dato gab es für die­se Grup­pe aber allen­falls ein­ma­li­ge Boni, keine struk­turel­len Ver­bes­se­rungen.

Das Beispiel der Super­markt­kas­sie­rerin brin­gen Sie ger­ne – aber nicht, um Aus­beu­tung zu zei­gen, son­dern dass Men­schen auch in die­sen Be­ru­fen glück­lich sind, wenn die Rahmen­be­din­gungen pas­sen. Was braucht es also?

Herzog: Es gibt eine sehr spannende Stu­die dazu, die zeigt, dass auch Super­markt­kas­siererinnen ihren Job gerne machen. Es geht ihnen nicht nur ums reine Geld­ver­dienen, son­dern auch da­rum, aus dem rein pri­va­ten Um­feld heraus­zu­kom­men, in eine Art von Öffent­lich­keit, und da­rum, einen Bei­trag für die Ge­sell­schaft zu leis­ten. Wenn Sie etwas be­klagen, dann nicht die Ar­beit an sich, son­dern die Be­din­gungen: zu wenig Mit­spra­che, Wert­schätzung, Rück­griff auf ihre Er­fah­rungen und Wis­sen. Das ist auch mein An­satz. Ar­beit ist mehr als ka­pi­ta­lis­tisches Geld­ver­dienen, es ist ein so­zia­ler Akt, den wir mit an­deren Men­schen tei­len wol­len.

Deswegen sind Sie auch gar keine flammende Befür­wor­terin eines be­dingungs­losen Grund­ein­kommens?

Herzog: Genau. Ich finde es wichtiger, um es mal in ein Wort­spiel zu fassen, statt Leute von der Ar­beit zu be­frei­en, die Ar­beit zu be­freien. In dem Sin­ne, dass sie ge­rech­ter und stär­ker parti­zi­pa­tiv und demo­kra­tisch ge­stal­tet wird. Der über­ra­schendste Zu­spruch zum Grund­ein­kom­men kommt ja aus den Vor­stands­etagen des Silicon Valley. Da deuten sich aber sehr düstere Sze­na­rien an: Stel­len wir uns vor, es gibt ein be­din­gungs­loses Grund­ein­kom­men auf einem nied­rigen Niveau, das alle an­deren So­zial­leis­tungen er­setzt und den Fir­men er­laubt, sich aus aller Ver­ant­wor­tung heraus­zu­stehlen mit dem Ar­gu­ment: Wer nicht bei uns ar­bei­ten will, kann ja mit dem be­dingungs­losen Grund­ein­kommen le­ben. Die wirt­schaft­liche Macht kon­zen­triert sich dann ganz stark auf der Ka­pi­tal­seite, die Kon­trol­le der Pro­duk­tions­mit­tel ist in der Hand ganz weni­ger, wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung sind da­von ab­hän­gig, dass Fir­men weiter­hin be­reit sind, ihre Steu­ern zu zah­len. Das würde die po­li­ti­schen Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis­se doch noch ein­mal mas­siv ver­ändern.

Was ist Ihre Alternative?

Herzog: Interessanter als das bedingungs­lose Grund­ein­kommen finde ich die Idee einer Job­ga­ran­tie. Also öffent­liche Be­schäf­ti­gungs­opti­onen zu­sätz­lich zur Grund­si­che­rung, zum Bei­spiel im So­zial- oder Um­welt­bereich. Wer seinen Job ver­liert, kann sich dann dort ein­brin­gen und weiter­ent­wickeln.

Klingt ein wenig nach real existierendem Sozia­lis­mus, würde eine Markt­libe­rale jetzt sagen.

Herzog: Das stimmt aber nicht, denn es käme ja zu keiner Ver­staat­lichung, die Pri­vat­wirt­schaft bliebe ja be­stehen. Um­ge­kehrt kommt von lin­ker Sei­te oft die Kri­tik, meine Vor­schläge würden nicht weit genug gehen, weil ich nicht da­für bin, alle Pro­duk­tions­mit­tel kom­plett zu ver­staat­lichen und ganz auf die Pri­vat­wirt­schaft zu ver­zich­ten. Aber ich glau­be, dass Märkte mas­siv ein­ge­hegt wer­den müs­sen, dass immer das Pri­mat der Poli­tik gel­ten muss und dass durch­aus mehr in der öffent­lichen Hand pas­sie­ren kann, als wir das in den letz­ten Jahr­zehnten an­ge­nom­men ha­ben.

Ist eine 35-Stunden-Woche für Sie eine Ant­wort?

Herzog: In der besten aller mögli­chen Wel­ten wäre es so, dass Men­schen fle­xi­bel ent­schei­den könn­ten, wie vie­le Wo­chen­stun­den oder auch wie viele Wo­chen im Jahr sie ar­bei­ten wol­len. Aber de facto ist es so, dass bei die­sen Fra­gen oft star­ker so­zi­aler Druck herrscht. Des­wegen sind all­gemein ver­bindl­iche Re­geln wie die 35-Stun­den-Woche sinn­voll, auch weil sie die Fra­gen nach der Ver­ein­bar­keit von Er­werbs­ar­beit und an­deren For­men von Ar­beit und damit die Ge­schlech­ter­ge­rech­tig­keit po­si­tiv be­ein­flus­sen könnten.

Wenn wir Arbeit nur als sozial und als wechsel­sei­tiges Ge­mein­schafts­pro­jekt ver­stehen, wo bleibt dann der An­trieb durch Kon­kur­renz und Ehr­geiz?

Herzog: Wir haben in vielen Be­ru­fen eher das um­ge­kehrte Pro­blem, dass es zu viel Wett­be­werb und zu viel Druck gibt. Aus der For­schung heraus ist un­klar, ob uns Wett­be­werb po­si­tiv an­treibt oder eher dazu führt, Wege ab­zu­kür­zen oder Kon­kur­ren­ten zu schaden – klar ist aber, dass ge­rade für krea­tive Tä­tig­kei­ten und für alle Ar­beiten, die in­trin­sische Mo­ti­va­tion be­nö­tigen, Druck von außen eher schäd­lich ist. Ohne ein ge­wis­ses Maß an Wett­be­werb wird es in vielen Be­rei­chen so­wie­so nie ge­hen, allein schon des­wegen, weil es mehr Be­wer­ber für be­gehr­te Po­si­­tionen gibt, als wir tat­säch­lich Leu­te in be­stimm­ten Jobs brau­chen. Das kann pro­duk­tiv sein, wenn es da­rum geht, die bes­ten Be­wer­ber für be­stimmte Po­si­tio­nen zu fin­den. Aber so wie Wett­be­werb in vie­len Be­rei­chen in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­stan­den und ge­lebt wurde, war es ein all­um­fas­sen­der Kampf aller gegen alle, wie in einem dar­wi­nis­tischen Dschun­gel, und das ist we­der pro­duk­tiv noch ge­recht.

Ein Rezept dagegen, das Sie zur Ein­hegung vor­schla­gen, nennt sich „Work­place Demo­cra­cy“. Unter­nehmen sollen sich digi­tal selbst or­ga­ni­sieren, Mit­ar­beiter ihre Chefs wählen kön­nen. Aber wol­len das auch die Chefs?

Herzog: Gute Chefinnen und Chefs sollten eigent­lich keine Angst da­vor ha­ben, von ihren Mit­ar­beiten­den auch ge­wählt zu wer­den! Digi­tale Mit­tel kön­nen ein­fach die Trans­aktions­kos­ten sen­ken und Ab­stim­mungen er­leich­tern und damit hierar­chi­sche Struk­turen an vielen Stel­len un­nötig ma­chen. Im All­tag er­lebt man das in­zwi­schen stän­dig: dass man sich über Chats schnell ab­stimmt, In­for­ma­tionen aus­tauscht, Auf­gaben ver­teilt. Das wird in vie­len Fir­men längst ge­macht. Die Fra­ge ist aber immer, wer letzt­lich das Sagen hat. Die Digi­tali­sierung führt sicher nicht auto­ma­isch zu mehr Demo­kra­ti­sie­rung und Par­ti­zi­pa­tion. Aber wenn man die Fra­ge um­ge­kehrt stellt und fragt, was hin­dert uns denn da­ran, Fir­men demo­kra­ti­scher zu ge­stal­ten, heißt es oft: Das funk­tio­niert nicht, Ent­scheidungs­pro­zes­se dauern viel zu lang. Da kommt die Digi­ta­li­sie­rung ins Spiel, denn sie bie­tet so vie­le Mög­lich­kei­ten des Tei­lens von Infor­mati­onen und der Trans­pa­renz. Das wäre zu Zei­ten der Papier­akten­sta­pel so gar nicht ge­gan­gen. Wir unter­schätzen da viel­leicht auch manch­mal, wie an­ders die Ar­beits­wei­sen schon sind.

Sie stehen gedanklich linken Parteien sicher näher als kon­ser­va­ti­ven, aber wie ste­hen Sie zu tra­di­tio­nel­len Mit­be­stim­mungs­kon­zep­ten wie Be­triebs­räten und Ge­werk­schaf­ten?

Herzog: Das sind unglaublich wichtige his­to­rische Errungen­schaften, die aber auch weiter­ent­wickelt wer­den müssen und können. Ich glau­be, wir brau­chen eine Zu­sammen­füh­rung von unter­schied­lichen Din­gen, die im Mo­ment neben­einan­derher exis­tieren: einer­seits die eta­blier­ten Mit­be­stim­mungs­struk­turen und anderer­seits all diese neu­en An­sätze wie Holo­cracy, die sich oft auch di­gi­tal unter­stützen las­sen. Der große Wert der tra­di­tio­nel­len Mit­be­stim­mung und des Ge­werk­schafts­wesens ist, dass sie wirk­lich Rechte ein­ge­for­dert ha­ben. Und ohne ge­sicherte Rechte, die man auch ein­klagen kann, wer­den auf Dauer all diese di­gi­talen, schönen par­ti­zi­pa­ti­ven Me­tho­den unsere Welt nicht wirk­lich ver­ändern, weil die Ge­schäfts­lei­tung im­mer dann, wenn es irgend­eine heikle Ent­schei­dung zu tref­fen gibt, sagen kann: An der Stel­le machen wir das nicht so.

Für Sie sind anonyme Whistleblower Helden, große Wirt­schafts­kapitäne aber nicht. Wieso?

Herzog: Wenn man sich anschaut, wie über bestimmte Leute aus der ­High­tech­in­dus­trie be­rich­tet wur­de, ist das, als wären das die neuen Royals. Die Art und Wei­se, wie Ein­zel­ne heraus­ge­hoben wer­den, ver­kennt, dass Men­schen ihre Rolle nur ­ein­nehmen können, weil andere Men­schen ­an­dere Auf­ga­ben er­fül­len und ihnen den Rücken frei­hal­ten. Wir ar­bei­ten in ­so­zi­alen ­Kon­tex­ten und bauen auf dem auf, was andere schon ge­macht ha­ben. In der Wissen­schaft wurden viele Durch­brüche ­his­to­risch ­pa­ral­lel von mehre­ren Per­so­nen er­reicht. Wenn Mark Zucker­berg Face­book nicht ­ge­star­tet ­hät­te, bin ich mir ziem­lich si­cher, dass andere etwas Ähn­liches ge­star­tet hät­ten. Und Whistle­­blower sind für mich die ­wahren Hel­den, weil sich in großen, ­kom­plexen, ar­beits­tei­ligen Sys­temen For­men von Miss­brauch sehr lange hal­ten kön­nen. Es kommt zu Kompli­zen­schaft und ­Grup­pen­den­ken. Es ist oft sehr viel ein­facher, da mit­zu­schwim­men, als zu sa­gen: „Hej, das ist ein­fach falsch und ich sage das jetzt öffent­lich.“

Warum profitieren sozialdemokratische Parteien so wenig von den Kri­sen der letzten Jahr­zehnte?

Herzog: Die Sozialdemokratie hatte sich in vielen euro­pä­ischen Län­dern auf ein eher markt­freund­liches Pro­gramm ein­ge­las­sen, damit ging der so­zial­demo­kratische Mar­ken­kern ver­loren. Viel­leicht ist auch ein Fak­tor, dass die Sozial­demo­kra­tie immer auch da­ran er­innert, dass man als Mensch ein Gemein­schafts­wesen ist und dass es auch den gemein­schaft­lichen Ein­satz für die eige­nen Rechte braucht. Da steckt viel­leicht für manche Men­schen eine ge­wis­se Kränk­ung ihrer Eitel­keit drin. Nach dem Mot­to: Du schaffst es nicht alleine. Das ist ja das, was uns der neo­li­be­rale Zeit­geist jahre­lang ein­ge­impft hat: dass man für sich alleine kämpfen müsse. Ich frage mich, ob sich das nicht lang­sam aus­ge­wach­sen hat und diese hyper­in­di­vi­dua­lis­tische Bot­schaft an Attrak­ti­vi­tät ver­loren hat. Bei Co­ro­na war ja auch sehr klar: Wir sind alle Teil einer Ge­sell­schaft. So­gar Boris Johnson hat, als er aus dem Kran­ken­haus ent­las­sen wur­de, fest­ge­stellt, dass der alte Spruch von Mar­garet Thatcher nicht stimmt, und öffent­lich ge­sagt: „There is such a thing as society.“

Barbaba Tóth in FALTER 40/2020 vom 02.10.2020 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, September 30, 2020 5:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie  

Mit einer Einführung von Heinz D. Kurz

von Joseph A. Schumpeter

Einleitung von: Heinz D. Kurz
Verlag: UTB
Format: Taschenbuch
Genre: Politikwissenschaft/Politische Theorien, Ideengeschichte
Umfang: 650 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.06.2019
Preis: € 37,00

Rezension aus FALTER 39/2020

Kapitalismus oder Sozialismus?

Joseph A. Schumpeter, der weltweit vielleicht bekannteste öster­reichische Öko­nom des 20. Jahr­hun­derts, war Uni­versi­täts­pro­fes­sor in Czer­no­witz, Graz und Har­vard, kurz­zei­tig so­gar Bank­direk­tor und Fi­nanz­mi­nis­ter. Sein Durch­bruch ge­lang mit dem 1942 in den USA pu­bli­zier­ten Buch „Ka­pi­ta­lis­mus, So­zi­alis­mus und Demo­kra­tie“, des­sen The­ma den Nerv der Zeit traf, weil es die große Fra­ge nach der Weiter­ent­wick­lung der mo­der­nen Zi­vi­li­sa­tion stellte.

Im Jahr 2020 erscheint nun erst­mals die voll­stän­dige, auch den wich­tigen fünf­ten Teil um­fas­sende, zehnte deutsch­sprachige Auf­lage des Klas­si­kers. Diese ist das Ver­dienst von Heinz D. Kurz, eme­ri­tier­ter Öko­no­mie­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Graz und Doyen der öko­no­mi­schen Theorie­ge­schichte.

Das Buch stellt zwei Fragen: Erstens, kann der Ka­pi­ta­lis­mus wei­ter­leben? Zwei­tens, kann der So­zia­lis­mus funk­tio­nieren? Schum­peter, um­fas­send ge­bil­deter So­zial­wissen­schaft­ler, liebte de­tail­lier­te Ana­lyse und inno­va­tive Ge­dan­ken­kombi­na­tionen, aber auch star­ke Sprü­che. Seine Ant­wor­ten auf die bei­den Fra­gen fielen eben­so pro­vo­kant wie nüch­tern aus. Zu eins: „Nein, meines Er­ach­tens nicht.“ Zu zwei: „Selbst­ver­ständl­ich kann er es.“

Das ist eine für einen Konser­va­ti­ven über­raschende These. Schum­peter singt ein Lob­lied auf den Kapi­ta­lis­mus, preist des­sen Dy­na­mik, Inno­va­tion, Wohl­stands­schaf­fung und ana­ly­siert Vor­aus­setzungen wie Pri­vat­eigen­tum, Ver­trags­frei­heit und Ban­ken­kre­dit­schöp­fung. Den­noch sieht er sein Ende kom­men. Mit dem Ent­stehen von Mono­po­len und Groß­unter­nehmen ver­liert das Unter­nehmer­tum an Be­deu­tung, des­sen Inno­vations­kraft von techno­kra­tischen For­schungs­ab­tei­lungen über­büro­kra­ti­sier­ter Aktien­ge­sell­schaf­ten über­nom­men wird. Auch Pri­vat­eigen­tum und Ver­trags­recht schwin­den an­ge­sichts der Tren­nung von Eigen­tum und Kon­trol­le in großen Unter­nehmen. Und In­tellek­tuelle wen­den sich we­gen der kras­sen Un­gleich­heit bei Ein­komm­en und Ver­mö­gen ab.

Joseph Schumpeter nimmt das Werk von Karl Marx ernst, dis­ku­tiert den in Schum­peters Ge­burts­jahr 1883 ge­stor­benen Vor­gänger als Pro­pheten, So­zi­olo­gen, Natio­nal­öko­nomen und Leh­rer und ist voll des Lobes. Doch weder zum Unter­nehmer­tum noch zur Funk­tions­fähig­keit einer alter­na­ti­ven so­zia­lis­tischen Wirt­schafts­ord­nung hatte Marx viel zu sagen.

Das besorgt dann lieber Schum­peter selbst. Im So­zi­alis­mus seien die wich­tigen Preis­sig­nale setz­bar, die wirt­schaft­liche Effi­zi­enz mach­bar und die für den Ka­pi­ta­lis­mus so typi­schen Ver­geu­dungen von pro­duk­tiver Ar­beits­kraft ver­meidbar. Gerät er in Kon­flikt mit der Demo­kra­tie? Schum­peter be­legt diese Ge­fahr im fünf­ten Teil des Ban­des mit dem Irr­weg der bol­sche­wis­ti­schen Dik­ta­tur in der Sowjet­union, die nicht hin zum So­zia­lis­mus führt, son­dern weg von ihm.

Doch wie der Herausgeber Heinz Kurz in seiner Ein­führung aus­führt, hat er kein Auge für das pa­ral­lel zu den vielen Auf­lagen seines Werkes ent­ste­hende so­zial­demo­kra­tische Pro­jekt von So­zial­staat und ge­misch­ter Wirt­schaft mit Pri­vat- und öffent­lichem Ei­gen­tum, so­zia­ler Um­ver­tei­lung, Sta­bi­li­sie­rung der Kon­junk­tur und Be­reit­stel­lung öffent­licher Gü­ter. In die­ser Hin­sicht war Schum­peter wohl zu sehr vom ei­genen Genie ein­ge­nom­men, wollte und konnte den Bei­trag des li­bera­len bri­ti­schen Öko­no­men John M. Keynes, nicht ent­sprechend wür­digen.

Dennoch gehört „Kapitalis­mus, So­zia­lis­mus und Demo­kra­tie“ zu den in­spi­rierendsten öko­no­mi­schen Wer­ken des 20. Jahr­hun­derts, Schum­peter zu den größ­ten Öko­no­men des klei­nen Öster­reich. Nun endl­ich voll­ständig in deut­scher Sprache.

Markus Marterbauer in FALTER 39/2020 vom 25.09.2020 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, September 23, 2020 5:18:00 PM Categories: Ideengeschichte Politikwissenschaft/Politische Theorien
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Wie Demokratien sterben 

Und was wir dagegen tun können

von Steven Levitsky, Daniel Ziblatt

Übersetzung: Klaus-Dieter Schmidt
Verlag: Pantheon
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.08.2019
Preis: € 14,40

Rezension aus FALTER 38/2020

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt analysieren in ihrem Bestseller aus dem Jahr 2018 Stationen auf dem Weg ins Autoritäre. Sie bringen historische und aktuelle Beispiele wie Hugo Chávez in Venezuela und Viktor Orbán in Ungarn, sie nennen die Philippinen, Polen oder die Türkei und Deutschland der 1930er. Solide, gute Verfassungen sind immens wichtig, ebenso wichtig sind aber die ungeschriebenen Regeln und Normen der politischen Auseinandersetzung. Dazu gehört etwa, den politischen Gegner zwar scharf zu kritisieren, ihm aber nicht die grundsätzliche Legitimität, am politischen Prozess teilzunehmen, abzusprechen. Dazu gehört auch, schiedsrichterartige Institutionen wie Höchstgerichte nicht infrage zu stellen. Aber auch die Presse, Interessenvertretungen und die Geheimdienste. „Wer ein Fußballspiel manipulieren will, nimmt sich zuerst die Schiedsrichter vor“, schreiben die Autoren. Mainstream-Parteien, also Volksparteien der Mitte, kommt dabei eine „Wächterfunktion“ zu. So loben die Autoren etwa jene hochrangigen ÖVPler, die sich in der überparteilichen Wahlbewegung für Bundespräsident Alexander Van der Bellen engagierten, um den Extremisten Norbert Hofer zu verhindern.

Barbaba Tóth in FALTER 38/2020 vom 18.09.2020 (S. 21)
 

Rezension von: Timo Brandt

25.10.2018

"Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder Ministerpräsidenten, die eben jenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht gebracht hat. […] Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne. […] Wenn die Zusammenbrüche von Demokratien in der Geschichte uns eines lehren, dann, dass extreme Polarisierung für Demokratien tödlich ist.” Aus dem Vorwort des Buches “So geht also die Freiheit zugrunde – mit donnerndem Applaus.” Padmé Amidala, Star Wars Episode III Wenn man popkulturelle Referenzen nicht scheut, dann könnte man die letzten 20 Jahre als palpatinische Periode bezeichnen. Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin, Hugo Chávez und nicht zuletzt Donald Trump – dies nur die populärsten Beispiele für Staatschefs, die demokratisch gewählt wurden und danach begangen, die demokratischen Strukturen so zu schwächen oder zu verbiegen, dass sie ihren Machterhalt sichern und keine offene, pluralistische Demokratie mehr gewährleisten. Auch in Ländern, in denen noch keine Autokraten regieren, gibt es verstärkt autokratische Bewegungen. Noch ist die Welt nicht so düster wie das Titelblatt, aber wer wirklich in einer offenen Gesellschaft leben will, der hat es dieser Tage in vielen Ländern der Welt immer schwerer. Von einer Krise der Demokratie zu reden ist also angebracht, aber letztlich steckte die Demokratie schon immer in der Krise – nur weil sie das fairste und vernünftigste, ja sogar beste politische System ist, heißt das nicht, dass sie auch das einfachste ist oder das am wenigsten anfällige. Ganz im Gegenteil. Demokratien sind komplex und stets bedroht. Schon kleinste Ungleichgewichte oder kurzfristige Veränderungen können sie aus der Bahn werfen. Und die Demokratie ist zwar oft gegen Angriffe von außen, aber meist sehr schlecht gegen Angriffe von innen gewappnet. Was einmal demokratisch legitimiert ist, kann die Demokratie an empfindlichen Stellen erreichen und ihr dort schaden. “Wer nicht aus der Geschichte lernt, der ist gezwungen, sie zu wiederholen” – dieser Aphorismus könnte in fetten Lettern als Credo auf der ersten Seite dieses Buches stehen. Denn die Autoren unternehmen nicht nur eine Analyse der Gegenwart, die sich vor allem auf Trump und seine Gefahr für die amerikanische Rechtsstaatlichkeit konzentriert, sondern greifen viele anschauliche Beispiele aus der Historie auf, um zu zeigen, wie Demokratien in den letzten 100 Jahren “gestorben” sind, wie es dazu kommen konnte. Dabei werden im Akkord Nägel auf dem Kopf getroffen. Zu sagen, dieses Buch sei schlicht gut, wäre eine Untertreibung und doch könnte man es eigentlich dabei belassen: es ist schlicht ein gutes Buch, im Schreibstil, in der Argumentation, in der Anschaulichkeit. Die Autoren argumentieren keinen Moment lang ideologisch, sondern stellen lediglich fest, führen an, belegen. Sie weisen undemokratisches Verhalten nicht nur in den faschistischen Regimen der 20er, 30er und 40er Jahre oder den heute von Autokraten regierten Staaten nach, sondern auch in den US-amerikanischen Südstaaten der 1880er und 1890er Jahre und an anderen, teilweise überraschenden Orten. Das ganze Buch erarbeitet ein klares Spektrum antidemokratischer Instrumentarien und ermittelt viele alarmierende Beispiele für ihre Anwendung in unserer Zeit. Dabei ergeben sich (zumindest für mich) wie von selbst Parallelen zu anderen Erscheinungen, auch in der eigenen Demokratie. So martialisch der Titel auch klingen mag – er ist gerechtfertigt. Demokratien können sterben und wer ihre drohende Anfälligkeit nicht bemerkt oder sich nicht dagegen wehrt, sie als krank oder als angeschlagen zu betrachten, der hilft durchaus dabei sie zu töten. Donald Trump kam an die Macht, obgleich er in vielerlei Hinsicht als problematische Figur bekannt war – viel zu selten wurde er als antidemokratisch wahrgenommen und von diesem Aspekt geht die eigentliche Gefahr bei ihm aus. Wieder mal so ein Buch, das eigentlich jeder lesen sollte. Es werden wohl wieder nur die lesen, die eh schon ahnen, was auf uns zurollt. Vielleicht ist dies hier nur ein weiteres Testament. Ich hoffe, dem ist nicht so.

Posted by Wilfried Allé Thursday, September 17, 2020 2:09:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Hofräte, Einflüsterer, Spin-Doktoren 

300 Jahre graue Eminenzen am Ballhausplatz

von Manfred Matzka

Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.09.2020
Preis: € 28,00

 

Rezension aus FALTER 37/2020

Graue Eminenzen am Ballhausplatz

Eduard Chaloupka war ein Ausnahme-Jurist, machtbewusster Bürgerlicher – und hatte Sinn für Repräsentation. Als Präsidialchef im Bundeskanzleramt beriet er in den 1950er-Jahren den damaligen Kanzler Julius Raab, wie er Mitglied in der ÖVP-Kaderschmiede Cartellverband. Die Unterzeichnung des Staatsvertrages im Mai 1955 versäumt Chaloupka leider. Aber er sorgt dafür, dass er auf dem offiziellen Gemälde des Staatsaktes, das von Porträtmaler Robert Fuchs angefertigt wurde, verewigt wird – direkt hinter dem Kanzler, vom Sonnenlicht vorteilhaft ins Szene gesetzt. Das Bild des ursprünglich beauftragten Künstlers Sergius Pauser war Chaloupka und Raab zu „expressionistisch“. Es wurde bezahlt – und dann verräumt. „Fahrts ab mit dem Dreck“, soll Raab gesagt haben.

Das ist nur eine Anekdote von vielen, die Manfred Matzka in seinem Buch „Hofräte, Einflüsterer und Spin-Doktoren“ versammelt hat. Er lässt darin 300 Jahre Beratertum am Ballhausplatz Revue passieren, von Johannes Christoph von Bartenstein, der Maria Theresia als loyaler Ratgeber zur Seite stand, bis hin zur perfekt geölten türkisen Machtmaschinerie unter dem derzeitigen Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Matzka, der SPÖ nahestehend, schreibt in einer Doppelrolle: Von 1999 bis zu seiner Pensionierung 2015 war er Präsidialchef im Kanzleramt – und damit höchster Beamter der Republik. Übergangskanzlerin Brigitte Bierlein holte den intimen Kenner der Spitzenbürokratie im Jahr 2019 als Sonderberater zu sich. Dass das aktuelle Buch auch autobiografisch ist, lässt Matzka im Anhang – leider ohne Personenverzeichnis – anklingen, in dem er schreibt, dass er sich als Zeitzeuge (er ist Jahrgang 1950) auf eigene Aufzeichnungen und Akten stützt. Dieser Mann hat sicher noch einiges in seinem privaten Archiv, das auf Veröffentlichung wartet. Bis es so weit ist, spricht er von sich in seinem Buch lieber in dritter Person. Etwa, wenn er erzählt, dass im Jahr 2002 „ein Präsidialchef“ auf die Posse um das Staatsvertragsbild stößt, das ursprünglich beauftragte Bild von Pauser im Bezirksmuseum in Mistelbach aufspürt und im Marmorecksalon des Kanzleramts aufhängt – im „friedlichen künstlerischen Dialog“ mit dem Gemälde von Fuchs. Dort hängt es bis 2018, bis „ein junger Kanzler mit geringer Affinität zur Geschichte des Hauses“ (gemeint ist Kurz) beide Bilder durch eine Fotowand für Pressekonferenzen ersetzt.

Wie funktioniert Macht? Ab wann übernahmen Kabinette und von außen geholte Sekretäre, Berater und Thinktanks die Aufgabe der hauseigenen Beamtenschaft als Politikmacher? Matzkas Zeitreise lässt interessante Parallelen erkennen. Natürlich ist die Spitzenbeamtenschaft und -beraterschaft in den letzten Jahrhunderten durchwegs männlich, älter und katholisch. Viele Berater des Kaiserhauses stammen aber ursprünglich aus jüdischen Familien – und mussten für die Karriere konvertieren.

Aber es gab aber auch immer wieder Phasen, in denen eine Garde jüngerer „Revolutionäre“ die Macht an sich reißt, etwa der Kreis junger Aristokraten um Alexander Graf von Hoyos, der den schwachen Außenminister Leopold Graf Berthold in den Krieg gegen Serbien trieb – und damit in den Ersten Weltkrieg. Oder der juvenile Beraterstab des ersten ÖVP-Alleinregenten, Josef Klaus (1966–1970), dessen Assistenten später alle selber Karriere machten.

Erschreckend sind Figuren wie Walther Kastner, der zuerst die Enteignung von jüdischem Besitz unter den Nazis und dann deren Restitution verwaltete, ein skrupelloser Diener vieler Herren. Auch das lehrt Matzkas lesenswerte Porträtreihe: Eliten bleiben unter sich, wer als Berater aufsteigt, wird später oft selber Machthaber – und fördert seinesgleichen.

Barbara Tóth in FALTER 37/2020 vom 11.09.2020 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Thursday, September 10, 2020 2:32:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Green New Deal 

Warum wir können, was wir tun müssen

von Ann Pettifor

Übersetzung: Ursel Schäfer
Verlag: Hamburger Edition, HIS
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 192 Seiten
Erscheinungsdatum: 06.04.2020
Preis: € 22,60

Rezension aus FALTER 34/2020

Die Klimakrise als Frage der Verteilung

Lösungswege aus der Klima­krise be­schreibt die Öko­nomin und Finanz­ex­per­tin Ann Pattifor in ihrem neuen Buch

Rezension:
MICHAEL SODER

Wir leben im Zeitalter der Krise. Ob Wirt­schafts-, Corona- oder Klima­krise. Das zeigt sich mittler­weile an allen Ecken und Enden: Wenn ein gutes Leben für alle auch in Zu­kunft mög­lich sein soll, kann es ein „Weiter wie bisher“ nicht geben. Noch ist es nicht zu spät, die Heraus­for­derungen und Pro­bleme an­zu­er­ken­nen, und ins Han­deln zu kom­men. Ann Pattifors Buch über den „Green New Deal“ ist ein Hoffnung ver­sprühendes Plä­doyer zur Rettung unserer Lebens­grund­lagen.

Ann Pattifor ist Ökonomin und Hannah-Arendt-Preis­trägerin. Im Gegen­satz zu thema­tisch ähn­lich ge­la­gerten Bü­chern ist gerade nicht Pattifors Ziel, die Pro­bleme unseres zer­stö­re­rischen Wirt­schafts- und Ge­sell­schafts­sys­tems zum hun­dert­sten Mal durch­zu­kauen.

Sie widmet sich lieber den Fragen: Was braucht es, um die Klima­krise zu lösen? Wie sind not­wen­dige Maß­nahmen zu fi­nan­zieren? Wie er­hält man den so­zi­alen Zu­sammen­halt? Sie sieht ihr Buch damit auch nicht als aka­de­mische Auf­ar­bei­tung der theo­reti­schen Grund­la­gen, son­dern als ar­gu­men­ta­tive Hand­reichung für Ak­ti­vis­ten und inter­essierte Leser.

Time is running out

Für Pattifor ist der erste Schritt, um endlich ins Handeln zu kommen, das Er­ken­nen der Ver­knüp­fungen zwi­schen Öko­logie, Öko­nomie und Ge­sell­schaft. Die Klima­krise ist nicht nur eine um­welt­poli­ti­sche, sie ist eben­so eine so­zial­po­litische und wirt­schaft­liche Frage. Wirt­schafts­branchen sind unter­schied­lich ab­hän­gig von fos­silen Roh­stof­fen, es braucht lang­fris­tige Stra­te­gien, um sie kohlen­stoff­frei zu or­ga­ni­sie­ren.

Beschäftigte, ihre Familien und ganze Regi­onen brau­chen im ­Um­bau neue Per­spek­tiven und Ein­kommen. Diese müs­sen ge­schaf­fen und ­ak­tiv ge­stal­tet wer­den. Ab­seits da­von stellt sich auch die Fra­ge der Ver­tei­lung. Per­so­nen mit niedri­geren Ein­kom­men sind den Aus­wir­kungen des Klima­wandels, zum Bei­spiel über die Zu­nahme an Hitze­tagen und Tro­pen­näch­ten in Städten, in ihren oft­mals klei­nen und un­sa­nier­ten Woh­nungen stär­ker aus­ge­setzt.

Es braucht daher Maß­nahmen, die ver­teilungs­po­li­tische As­pekte mit­denken. Erst wenn wir be­grei­fen, dass Klima­schutz auch ein Schutz unserer Lebens­per­spek­tiven in all ihren Fa­cet­ten ist, wird uns die Dring­lich­keit unseres Handelns be­wusst. Pattifor weist uns wieder darauf hin: „Time is running out.“

Moonshot-Moment

Davon ausgehend geht es für Ann Pattifor vor allem darum, einen kon­kre­ten Lö­sungs­weg zu skiz­zieren. Sie nennt diesen „Green New Deal“. Eine Neu­ge­stal­tung der wirt­schaft­lichen Spiel­regeln ge­paart mit offen­siven ­In­ves­ti­tionen, zum Bei­spiel in die ther­mi­sche Sa­nie­rung, er­neuer­bare Ener­gien oder in ar­beits­markt­po­li­tische Maß­nahmen zur Quali­fi­zierung und Um­schulung.

Um die Wende zu finanzieren, muss das Finanz­system ge­ändert werden. Eben­so reicht der bis­herige Fokus auf inter­natio­nale Ab­kommen über CO2-Budgets bei weitem nicht aus. Es braucht neben glo­balen und in­di­vi­du­ellen Stra­te­gien oder der Ver­än­derung des eigenen Kon­sum­ver­hal­tens auch ko­ordi­nierte po­li­tische Stra­te­gien auf natio­naler Ebene.

Die Kapazitäten und Potenziale der öffent­lichen Hand werden dahin­gehend leider bis­her nur un­zu­rei­chend dis­ku­tiert. Pattifors Buch soll auch dazu einen An­stoß bie­ten.

In Summe ist das Buch eine eloquente Anklage gegen Aus­reden und Ver­zö­gerungs­tak­tiken und der Auf­ruf, end­lich zu tun, was getan werden kann. Detail­fra­gen blei­ben zwar noch, zu­mindest vor­erst, un­be­ant­wor­tet. Klar wird aber, dass wir zur Be­wäl­ti­gung der Klima­krise einen neuen „Moon­shot“-Mo­ment brau­chen. Der „Green New Deal“ kann ein solcher sein.

Sebastian Fasthuber in FALTER 34/2020 vom 21.08.2020 (S. 17)

Posted by Wilfried Allé Thursday, August 20, 2020 7:50:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Zieht euch warm an, es wird heiß! 

Den Klimawandel verstehen und aus der Krise für die Welt von morgen lernen

von Sven Plöger

Beiträge von: Dr. Eckart von Hirschhausen
Verlag: Westend
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Naturwissenschaft
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.06.2020
Preis: € 20,60

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Sven Plöger macht keine heiße Luft, sondern bewahrt angesichts der größten Herausforderung der Menschheit einen kühlen Kopf und seinen Humor. Der Meteorologe meines Vertrauens!“ Eckart von Hirschhausen Trockenheit, Waldschäden und Waldbrände, dann wieder Platzregen mit Hagel und Sturmböen – auch die Coronakrise kann nicht verdecken, dass sich unser Klima immer schneller verändert. Um das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen, müsste die Einsparung an CO2-Emissionen jedes Jahr so groß sein wie durch den Shutdown. Genau das aber wäre möglich! Dazu müssen wir die Gier, die im jetzigen System steckt, in den Umbau der Wirtschaft lenken. Damit der Wohlstand bleibt, muss der Green Deal kommen. Der Diplom-Meteorologe Sven Plöger zeigt verständlich, wie unser Klimasystem funktioniert, wie man skeptischen Stimmen begegnet und dass die aktuelle Krise eine echte Chance ist, Weichen für unsere Zukunft und die unserer Kinder zu stellen. Mit Praxisteil: Reden Sie nicht nur übers Wetter – verändern Sie das Klima!
Posted by Wilfried Allé Monday, August 10, 2020 4:05:00 PM Categories: Sachbücher/Natur Technik/Naturwissenschaft
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Grenzenlos Radeln - Band 2 

Natur erleben, Geschichte erfahren. Die schönsten Touren zwischen Österreich und der Slowakei

von Julia Köstenberger

Verlag: Falter Verlag
EAN: 9783854396659
Reihe: Kultur für Genießer
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 22.06.2020
Preis: € 24,90


Das Buch lädt zum entschleunigten Reisen durch die reizvollen österreichisch-slowakischen Landschaften ein. Das Marchfeld, die Záhorie und das pannonische Dreiländereck mit Bratislava sind ein wahres Paradies für Genussradler, Naturliebhaber und historisch Interessierte. Julia Köstenberger lässt die wechselvolle Geschichte dieser Regionen lebendig werden. Jahrhundertealte Burgen, viele Verkehrswege, Spuren des Eisernen Vorhangs, Zollhäuser, Denkmäler und Museen erzählen von der gemeinsamen Vergangenheit der Nachbarn. Und die Gegenwart bleibt spannend.

Die Autorin empfiehlt zehn Etappen, die insgesamt etwa 290 Kilometer umfassen und gut miteinander kombiniert werden können. Viele Orte an den Routen sind mit der Bahn gut erreichbar. Dies macht spontane (Tages-)Ausflüge oder längere Aufenthalte mit flexibler Gestaltung möglich.

Der Reiseführer enthält neben wichtigen Informationen zur Reiseplanung auch Hinweise zu interessanten Veranstaltungen und einen kleinen Sprachführer.

Posted by Wilfried Allé Sunday, July 12, 2020 11:38:00 AM Categories: Kultur für Genießer Radeln
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Wandern in Ostösterreich, Band 1 

35 der schönsten Touren vom Weinviertel bis zur Enns, von der Thaya bis zum Neusiedlersee

von Bernd Orfer

Verlag: Falter Verlag
EAN: 9783854394433
Reihe: Kultur für Genießer
Umfang: 200 Seiten mit ganz neuen Wanderungen
Erscheinungsdatum: 01.09.2010
Preis: € 19,90


Kenntnisreich, detailliert und mit hilfreichen Karten versehen gehört der neue Wanderführer von Wanderprofi Bernd Orfer in jeden Rucksack – und passt dort dank seines schlanken Formats, des geringen Gewichts und des mitnahmefreundlichen Softcovers auch bestens hinein.

Die höheren Gipfel gibt es zwar im Westen Österreichs, der Osten allerdings hat das abwechslungsreichere Wanderterrain und mit Bernd Orfer jenen Autor, der dieses auf das schönste und kompetenteste zu beschreiben weiß. In seinem Band „Wandern in Ostösterreich” finden sich 35 ganz neue Routen im Wienerwald und im Donautal, in den Vor- und Hochalpen, im Wein- und Waldviertel und im Burgenland.

Posted by Wilfried Allé Sunday, June 28, 2020 10:37:00 AM Categories: Kultur für Genießer
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Wandern in Ostösterreich, Band 2 

72 der schönsten Touren vom Neusiedlersee bis zum Kamp, vom Weinviertel bis zur Traun

von Bernd Orfer

Verlag: Falter Verlag
EAN: 9783854393832
Reihe: Kultur für Genießer
Umfang: 328 Seiten
Erscheinungsdatum: 05.04.2007
Preis: € 25,50


Seit mehr als 15 Jahren gibt Bernd Orfer jede Woche einen Wandertipp in der Tageszeitung Der Standard, vorher publizierte er über 700 Wandervorschläge in der AZ. Im Falter Verlag erschien 2004 der erste Band von „Wandern in Ostösterreich” mit 75 der schönsten Touren zwischen Enns und March, zwischen Thaya und Mürz.

Im 2. Band geht es durch das Tannenmoor im Waldviertel und zu den Reibsandlöchern in den Wienerwald, durch das Höllental der Rax und zu den Mammutbäumen des Dunkelsteinerwaldes, über Plateaus, entlang von Flussschlingen und zu grandiosen Steigen. Sie wandern zur „schlafenden Griechin”, entlang des „Mohnstrudelwegs”, zu Murmeltieren und Sternguckern und durchs „Paradies”, entlang von Hügelketten ebenso wie beiderseits des großen Stroms, entdecken romantische Wasserfälle oder erklimmen schroffe Gipfel.

Neben stimmigen Routenbeschreibungen, Besonderheiten, Kuriositäten und Geschichten gibt der Autor hilfreiche Tipps: genaue Angaben der Wegroute, der Gehzeit, der Höhendifferenz und des notwendigen Kartenmaterials sowie Informationen über Schutzhütten und Einkehrmöglichkeiten und anderes Empfehlenswertes am Wegesrand. Jeder Tour ist eine Karte mit eingezeichneter Route vorangestellt.

Posted by Wilfried Allé Sunday, June 28, 2020 10:30:00 AM Categories: Kultur für Genießer
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Wandern in Ostösterreich, Band 3 

35 Wanderungen von der March bis zur Mürz, vom Waldviertel bis ins Burgenland

von Bernd Orfer

Verlag: Falter Verlag
EAN: 9783854394686
Reihe: Kultur für Genießer
Umfang: 200 Seiten mit ganz neuen Wanderungen
Erscheinungsdatum: 02.04.2012
Preis: € 19,90

 

Der Wanderprofi Bernd Orfer beschreibt 35 Touren, vom waldreichen Mariazeller Land bis zu den sanften Hügeln des Weinviertels, von den felsigen Wänden des Hochkars und der Rax bis in die Donauauen östlich von Wien und in das Burgenland. Für Leser, die mit Muße die Gegend erkunden und sich an der Landschaft erfreuen wollen.

Das Buch „Wandern in Ostösterreich 3” gliedert sich in die vier Kapitel „Wienerwald und Donautal”, „Vor- und Hochalpen”, „Wald- und Weinviertel” und „Östlich der Leitha”. Neben der Beschreibung der einzelnen Routen weist der Autor auch auf die Besonderheiten der verschiedenen Gebiete hin, erzählt Geschichten und gibt hilfreiche Tipps.

Angaben zu Wegroute, Gehzeit, Höhendifferenz und des notwendigen Kartenmaterials sowie Informationen über Schutzhütten und Einkehrmöglichkeiten ergänzen den Band. Zudem ist jeder Tour eine übersichtliche Karte mit der eingezeichneten Route vorangestellt.

Rezension aus FALTER 31/2014

Wo der Gipfel ein Gupf ist

Landpartien (1): Die Rax ist Wiens Hausberg. Sie ist wild wie die Dolomiten und belohnt den Geduldigen durch romantische Aufstiege

Es kann schon vorkommen, dass man es nicht bis nach oben schafft. Etwa wenn die Sonne bereits in den Morgenstunden unerträglich heiß ist und der Steig sich in unzähligen Serpentinen in die Höhe schlängelt, sodass die Stimme der Vernunft laut wird. Warum tust du dir das an? Zurück also hinunter ins Tal, wo das kalte Bachwasser Abkühlung verspricht. Dieses alpine Mikrodrama spielte sich nicht auf einem Tiroler 3000er ab, sondern auf der Rax, 80 Autominuten von Wien entfernt, am Sonntag vorletzter Woche.  
Als ich aus Südtirol zum Studium in die Bundeshauptstadt kam, machte ich mich über das lustig, was hier Berg heißt: Spittelberg oder Küniglberg. Als ich dann zum ersten Mal vom Höllental aus auf die Rax wanderte, wurde ich eines Besseren belehrt. Die Kalkfelsen erinnerten an die Dolomiten, Eisenleitern sorgten für gehtechnische Abwechslung. Eine Gruppe von Gämsen kraxelte einen von blühenden Alpenrosen gesäumten Schuttkegel hinauf – die perfekte Gebirgsidylle.

Die Rax ist ein Bergmassiv an der Grenze zwischen Niederösterreich und der Steiermark. Man erreicht sie auch recht gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Zug hält in der Station Payerbach-Reichenau, dann geht es mit dem Bus weiter. Am einfachsten kommt man von Hirschwang mit der Seilbahn hinauf. Acht Minuten dauert die Seilbahnfahrt, von der Bergstation führen zahlreiche Wege durch die weitläufige, von Latschenkiefern bewachsene Almlandschaft. In regelmäßigen Abständen gibt es Berghütten, wo der Wanderer essen und auch übernachten kann.
Die Rax ist kein Berg wie aus dem Bilderbuch. Der Gipfel ist keine Spitze, sondern ein Gupf, die auf 2007 Metern gelegene Heukuppe am südwestlichen Rand des Massivs. Oben wartet auch kein Kreuz wie auf dem Ölberg in Jerusalem, dieser Urszene aller leidvollen Aufstiege, sondern ein steinernes Häuschen.
Gipfelstürmer, die ein mechanisches Rauf-Runter gewohnt sind, sind hier fehl am Platz. Das wahre Geheimnis der Rax bleibt auch jenen verborgen, die die Direttissima mit der Seilbahn wählen. Dieser Berg braucht Geduld, erschließt sich nur jenen, die einen der vielen Wege aus dem Tal in die Höhe wählen. Nicht der Gipfel ist das Ziel, sondern die unzähligen Varianten des Aufstiegs – und die landschaftlich reizvollen Querungen auf dem Hochplateau.
Ein wichtiger Ausgangspunkt ist das Preiner Gscheid (1070 m), eine Bushaltestelle am südlichen Rand des Bergmassivs. Von hier brechen jene auf, die schnurstracks auf die Heukuppe wollen. Zur Auswahl stehen einfache Wege wie der Reißtalersteig oder Klettersteige, die auch für Anfänger mit entsprechender Ausrüstung kein Problem sind.   
Der bekannteste Klettersteig, den man vom Preiner Gscheid aus erreicht, ist der Haidsteig. Er führt nicht zur Heukuppe hinauf, sondern bis zum Gipfel der eindrucksvoll in die Höhe ragenden Preiner Wand (1783 m). Er hat einige schöne Passagen, in denen die Bergsteigerin ein Gefühl für die Eigenheiten eines Klettersteigs bekommt.
Klettersteiggehen ist wie Leitersteigen mit Reißleine. Man zieht einen Gurt an, an dem ein kurzes Sicherungsseil hängt. An den exponierten Stellen gibt es Leitern oder Stahlklammern, über die der Wanderer hinaufsteigt. Parallel dazu sind Stahlseile befestigt, in die die Geherin die beiden am Sicherungsseil befestigten Karabiner einhakt. Wenn sie ausrutscht, fällt sie nicht tief; der Sitzgurt stoppt den Sturz. Für Nichtkletterer ist das die einzige Möglichkeit, sich in hunderte Meter tiefe Felsabstürze wie die Preiner Wand hineinzuwagen.
Der Haid-Steig vereint auf 400 Höhenmetern alles, was den Reiz des Klettersteigens ausmacht: Wandquerungen, lange Leitern und sogar einen Kamin, bei dem man Tritte und Griffe im Felsen suchen muss. Beim Blick in die Tiefe kann einem schon schwindlig werden, aber man weiß ja, der Gurt hält.
Meine Lieblingstour auf die Rax ist der Törlweg, der in Edlach, einige Busstationen vor dem Preiner Gscheid, anfängt und zum Erzherzog-Otto-Schutzhaus, kurz: "Otto-Haus", führt. Man hat hier einen schönen Ausblick auf den gegenüberliegenden Schneeberg und hinunter in das Tal von Prein. Die Wandernden queren blühende Wiesen, finden Himbeerstauden; die Lärchen spenden Schatten bis fast ganz hinauf. Und im späten August blühen ganz oben auch noch die Edelweiß.
Den Törlweg gab es bereits, bevor 1925 die Rax-Seilbahn gebaut wurde. Es war der direkte Weg hinauf zu dem 1893 eröffneten Otto-Haus (1644 m). Wer mit dem Auto unterwegs ist, kann sich den ersten Abschnitt sparen und bei der Pension Knappenhof (769 m) parken, die vor kurzem vom Industriellen Hans Peter Haselsteiner hergerichtet wurde. Gäste mit Anzeichen von Burnout finden hier einen Rückzugsort.

Der Name Törlweg geht auf ein natürliches Felstor am Ende des Aufstiegs zurück. Hier beginnen die Almwiesen, zum Otto-Haus ist es dann nicht mehr weit. Auf dem Schutzhaus ist eine Tafel befestigt, die an den Psychoanalytiker Sigmund Freud erinnert. Freud ging den Törlweg von seinem Sommerfrischehaus in Reichenau dreimal die Woche herauf. Es hat sich gelohnt.
Denn im Sommer 1893 wandte sich die Schwester des Wirts und Rax-Pioniers Camillo Kronich, Aurelia Kronich, an den Gast. "Ist der Herr ein Doktor?", fragte sie und erzählte ihm von ihren Ängsten. Wie passte die "vergrämte Miene" zu diesem "großen und kräftigen Mädchen", fragte sich der Wiener Arzt. So begann im Otto-Haus eine der ersten Psychoanalysen überhaupt.
"Es interessierte mich, dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten", sollte Sigmund Freud später notieren. Er publizierte die Analyse von Aurelia unter dem Titel "Der Fall Katharina" in seinen frühen, gemeinsam mit Josef Breuer herausgegeben "Studien über Hysterie" (1895).
Das Wandern war neben der Zigarre und dem Schwammerlsuchen eine Leidenschaft des Psychiaters. Hängt das damit zusammen, dass die Psychoanalyse der Ethik des Rax-Wanderns verwandt ist? Hier wie dort wartet am Ende des Leidenswegs kein heldenhafter Gipfel, sondern eine unscheinbare Kuppe – Sinnbild einer wohldosierten Ausschüttung des Hormons Serotonin.
Pubertierende Menschen hassen es, auf den Berg zu gehen, weil sie sich gegen den von den Eltern ausgegebenen Befehl "weiter" sträuben. Die augenblickliche Einheit zwischen Ich und Welt, wie sie in den Beipackzetteln der romantischen Liebe und der chemischen Droge beschrieben wird, erscheint ihnen erstrebenswerter als eine Selbsterfahrung mit wunden Füßen. Dreimal die Woche durch das Törl, und man weiß, dass das Streben nach Glück vom richtigen Schuhwerk abhängt.
Wer die Rax von der südlichen Seite aus besucht, stößt überall auf Spuren der Zeit um 1900. Ein Großteil der Klettersteige und Schutzhütten geht auf diese Pioniertage des Alpinismus zurück, und eine Bergtour kann dann im ebenfalls shabby chicen Strandbad Edlach enden, das nur im Juli und August geöffnet ist und von frischem Quellwasser gespeist wird. Die für ein Freibad obligatorischen Pommes werden in einem klassizistischen Pavillon gereicht.

Der letzte Ausflug führt den Raxisten auf die Rückseite des Massivs. An besonders heißen Sommertagen besteht hier die Chance, der Sonne und den Menschenmassen zu entkommen, die auf den Hauptwegen unterwegs sind. Seilbahnfahren heißt an solchen Tagen vor allem warten. Zeitig am Morgen fährt ein einziger Bus von Payerbach-Reichenau nach Hinternasswald. Wer es gemütlich angeht, kann in dem ausgezeichneten Wirtshaus Raxkönig übernachten, wo sich alles, was dann auf dem Teller landet, in Sichtweite des Gastgartens grast.
Die Besiedelung der Gegend geht auf den Holzhändler Georg Hubmer (1755-1833) zurück, der Tunnels und Kanäle baute, um die Baumstämme durch das unwegsame Gelände in die Ebene hinaus zu triften. Hubmer war Protestant und errichtete 1826 in Nasswald ein evangelisches Schul- und Bethaus, das man noch heute besichtigen kann.
Hinternasswald (712 m) ist etwa drei Kilometer von Nasswald entfernt. Zuerst geht man ziemlich lang den Reißbach entlang. Am Ende des Reißtals zweigen gleich mehrere Steige hinauf auf das Rax-Plateau ab. Wir wählen den leichten Klettersteig der Wildfährte, weil er bis Mittag im Schatten liegt. Durch ein Geröllfeld, Rinnen und Wandln geht es hinauf, die gegenüberliegende Schneealpe ist stets im Blick.
Ist das noch Wandern oder bereits Bergsteigen? Eine brauchbare Definition besagt, dass das Bergsteigen da beginnt, wo die maschinelle Mobilität aufhört. Der Bergsteiger fährt so weit hinauf wie möglich, während der Wanderer sich mit den mittleren Wegen zufriedengibt.
Eine andere Erklärung lautet: Die Bergsteigerin schweigt, der Wanderer redet. "Hast du die Fliegenragwurz gesehen?", heißt es etwa beim Gang durch das Reißtal. Und: "Schau mal, der Bussard!" Wandernd erzählt man sich vom Bau der Wiener Hochquellenleitung, die die Großstadt mit Wasser aus dieser Gegend versorgt. Man bleibt stehen, um Erdbeeren und Schwarzbeeren zu pflücken, lauter unnötige Ablenkungen für die zielstrebige Bergsteigerin.
Der Wanderer freut sich schon, wenn er beim Aufstieg durch die Wildfährte gelassen bleibt. Der Blick konzentriert sich auf das Naheliegende, die glitschige Wurzel, die losen Steine. Wo setze ich meinen Schuh hin, wie kann ich mein Gewicht ausbalancieren? So wird jeder Schritt zu einer Übung, die irgendwann mit einem warmen Gefühl von Souveränität belohnt wird. Geschafft!
Oben auf der Raxalpe geht dann ein einfacher Weg durch – jetzt noch! – blühende Wiesen, an der Heukuppe vorbei, hinüber zum Karl-Ludwig-Haus (1804 m) und hinunter zum Preiner Gscheid, wo mehrmals am Tag ein Bus hält.
Da hat der Ausflügler eine wunderbare Verwandlung erlebt. Es kommt ihm vor, als habe er die Großstadt vor langer, langer Zeit verlassen.

Matthias Dusini in FALTER 31/2014 vom 01.08.2014 (S. 33)

Posted by Wilfried Allé Sunday, June 28, 2020 10:11:00 AM Categories: Kultur für Genießer
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