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Genug gejammert! 

Warum wir gerade jetzt ein starkes soziales Netz brauchen.

von Martin Schriebl-Rümmele , Martin Schenk

Verlag: Ampuls Verlag
ISBN: 9783950450903
Umfang: 176 Seiten
Genre: Sozialwissenschaften allgemein
Erscheinungsdatum: 11.09.2017
Format Hardcover
Illustrationen: Gerhard Haderer
Preis: € 18,90

 

Kurzbeschreibung des Verlags

Österreichs Sozialsystem ist eine Erfolgsgeschichte. Lange war es Garant für Wohlstand und sozialen Aufstieg für breite Bevölkerungsschichten. Doch anstatt die Stärken des Sozialstaats in wirtschaftlich schwierigen Zeiten abzusichern, wird er oft krankgeredet und ausgehöhlt. Der soziale Friede wird aufs Spiel gesetzt, Grundrechte werden in Frage gestellt, sozialer Abstieg bis weit in die Mittelschichten hinein wird in Kauf genommen. Solidarität schwindet, wird uns eingeredet und dabei Neid gesät: Junge gegen Alte, Gesunde gegen Kranke, Arbeitssuchende gegen Arbeitsplatzbesitzer, Inländer gegen
Zugezogene.
„Hören wir auf das soziale Netz krank zu jammern und verbessern wir es dort, wo bereits Lücken entstanden sind“, fordern der Sozialexperte Martin Schenk und der Gesundheitsjournalist Martin Schriebl-Rümmele. Die positiven Wirkungen des Sozialstaats gehören gestärkt, die Fehlentwicklungen korrigiert. Die Autoren gehen dabei auch auf zentrale Emotionen
der Debatte ein, wie Kränkung, Ohnmacht und Kontrollverlust. Zusammen mit der Pensionsexpertin Christine Mayrhuber und dem Wirtschaftsforscher Alois Guger zeigen sie, warum gerade jetzt ein starkes, soziales Netz wichtig ist und wie wir es gemeinsam verbessern können.

FALTER-Rezension

Der Trick, der aufgeht wie Unkraut

Was, die anderen sollen auch mehr kriegen? Eine Gruppe englischer Arbeiter, die eine Lohnerhöhung wollte, verzichtete letztlich auf diese – nur damit eine andere Gruppe, die sie nicht mochte, sie auch nicht bekam. Dieses Beispiel schildern Martin Schenk, stv. Direktor der Diakonie Österreich, und der Gesundheitsjournalist Martin Schriebl-Rümmele, um die perfide Wirkung des Neids deutlich zu machen. Die Autoren vergleichen das mit der Debatte um die Mindestsicherung: Da präsentieren Politiker Asyl als Grund für Kürzungen, doch am Ende trifft es alle – Familien mit mehreren Kindern, Alleinerziehende, pflegende Angehörige. Es sei ein politischer Trick, Neid unter Leuten zu säen. Wir richten diesen nämlich gegen Menschen, die uns ähnlich sind. Deswegen haben auch die millionenschweren Steuertricks der Superreichen, wie sie mit den Panama Papers enthüllt wurden, keine große Empörungswelle ausgelöst. Wer kennt schon jemanden, der eine Briefkastenfirma besitzt? Aber „Sozialschmarotzer“, da fiele einem schon jemand ein ... Und schon sind die weniger Mächtigen gespalten, während die wirklich Gutgestellten ihre Ruhe haben.
In der Verteidigung des Sozialstaats weist der gelernte Psychologe Schenk auf die Rolle der Emotionen hin. Neben Neid seien das Ohnmacht und Kränkung, wenn etwa aus Arbeitern in der öffentlichen Debatte „sozial Schwache“ werden, „defizitäre Unterschichtsdeppen, die nichts können“. Menschen müssten wieder Selbstwirksamkeit erleben können, in der Arbeit, im Dorf. Der Sozialstaat selbst liege keinesfalls darnieder, er stütze die Wirtschaft und den sozialen Frieden. Zur Untermauerung warten die Autoren mit einer geballten Datenladung auf, die Pensionsexpertin Christine Mayrhuber steuerte ein Kapitel bei, ihr Wifo-Kollege Alois Guger gab ein Interview. Das gut lesbare Buch, das durch Karikaturen von Gerhard Haderer aufgelockert wird, setzt Killerphrasen handfeste Argumente entgegen. Warnung: Die Wucht an Fakten plus ihrer gängigen Umdeutungen kann grantig machen.

Gerlinde Pölsler in Falter 50/2017 vom 15.12.2017 (S. 26)

FRAGE: Was ist heute anders als vor 5 Jahren?

Nichts! Nichts ist anders.
Und dass es so ist, wie es ist, dafür dürfen wir uns bei Schwarz, bei Türkis, bei Blau und bei Grün bedanken </Satire>.

Es ist höchst an der Zeit, dass es anders, dass es besser wird. Besser für die Vielen, nicht nur für ein paar Wenige.
Die Zeit ist vorbei, wo uns Schalmeienklänge aus Message-Control und heilsbringende Botschaften von klientelfreundlichen Medien aufgetischt wurden. Viele, sehr viele Chats zeigen schonungslos Gegenteiliges auf. Diese mitunter garstigen Unterhaltungen für Vorhaben und Machenschaften können nicht mehr länger verborgen gehalten werden. Tag für Tag apern neue Ungeheuerlichkeiten aus konservativ dominierten Kreisen heraus. Selbst noch so viel Kunstschnee kann ihre Tiraden nicht mehr länger zugedeckt halten.

Rund um uns, in Europa, ja weltweit werden politischen Weichen bereits anders gestellt.
Wann folgt Österreich?
Jeder weitere Tag der ins Land zieht, ist ein verlorener Tag.

Posted by Wilfried Allé Monday, May 30, 2022 5:11:00 PM Categories: Sozialwissenschaften allgemein
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Die Zukunft beginnt heute 

Impulse für einen gesellschaftlichen Wandel

ISBN: 9783932130670
Erscheinungsdatum: 15.02.2022
Umfang: 320 Seiten
Genre: Sozialwissenschaften allgemein
Format: Taschenbuch
Verlag: Driediger Verlag
Nachwort von: Frank Lustig
Beiträge von: Christoph Dr. Gringmuth
Beiträge von: Elvira Driediger, Marianne Grimmenstein, Michael Prof. Dr. Meyen, Ricardo Leppe, Friederike de Bruin, Franz Prof. Dr. Ruppert, Erwin Thoma, Christopher Schümann, Mathias Forster, Vera Zingsem
Preis: € 20,60

Kurzbeschreibung des Verlags:

Wie können wir unseren Kindern eine glücklichere Kindheit und leichteres Lernen er­mög­lichen, und sicher­stel­len, dass sie zu ver­ant­wortungs­vollen und mün­digen Mit­glie­dern der Ge­sell­schaft heran­wach­sen? Wie err­eichen wir, dass unsere Öko­no­mie zum Wohle der Men­schen tätig ist – und nicht um­ge­kehrt?  Dass die Po­li­tik wie­der zu­guns­ten der Mehr­heit ent­schei­det, an­statt die Um­ver­tei­lung von un­ten nach oben vor­an­zu­trei­ben? Dass Steu­ern sinn­voll und für ge­samt­ge­sell­schaft­­liche Inter­es­sen ver­wen­det wer­den? Wie hegen wir die Macht glo­ba­ler Kon­zerne ein, so dass die Lebens­be­din­gungen aller ver­bes­sert, die Um­welt ge­schont wird und da­durch auch unsere Ge­sund­heit weni­ger Scha­den nimmt?

In diesem Buch beant­worten Ex­per­ten ver­schie­dener Fach­ge­biete genau diese Fra­gen, die uns alle bren­nend be­schäf­tigen. Und sie blei­ben nicht bei theo­re­tischen Über­le­gun­gen, son­dern machen kon­kre­te Vor­schläge, oder gehen so­gar noch wei­ter und setzen ihre Ideen in die Tat um - mit fabel­haf­tem Er­geb­nis. So wird ein Kon­zept für trans­pa­rente Me­dien vor­ge­stellt; es wer­den "Schu­len der Zu­kunft" und Ge­nos­sen­schaf­ten für Gemeinwohl ge­grün­det, Häuser aus Holz gebaut und riesige Landstriche äußerst effektiv mit Bio-Landwirtschaft bewirtschaftet. Es wird an einer neuen, ge­rech­teren Ver­fas­sung für unser Land ge­ar­bei­tet. Es wird zu mehr Men­schlich­keit auf­ge­rufen, be­gin­nend beim Ge­burts­vor­gang, der wirk­lich hu­ma­ner ge­stal­tet wer­den kann! und beim Ster­ben, das auch mit mehr Liebe und Zu­nei­gung mög­lich wäre. Ja, auch in Zeiten, wo der Wille des Volkes kaum noch ge­hört wird, darf - und muss so­gar - ge­träumt wer­den. Ohne Vi­si­o­nen und Träume ist Ver­ände­rung nicht mög­lich. Des­halb: lasst uns träu­men, und lasst uns diese Träu­me um­setzen, Schritt für Schritt. Wer, wenn nicht wir?

Posted by Wilfried Allé Sunday, February 6, 2022 10:38:00 AM Categories: Sozialwissenschaften allgemein
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Globalisten 

Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus

von Quinn Slobodian

Übersetzung: Stephan Gebauer
Verlag: Suhrkamp
Format: Sozialwissenschaften allgemein
Umfang: 522 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.11.2019
Preis: € 32,90

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Nachdem Handelspolitik lange eine Sache spezialisierte Juristen war, ist sie heute ein Feld heftiger politischer Auseinandersetzungen: Beim Brexit steht der freie Warenverkehr auf dem Spiel, Donald Trump droht deutschen Autobauern mit Schutzzöllen.

In seinem Buch, das in der englischsprachigen Welt für Furore sorgt, wirft Quinn Slobodian einen neuen Blick auf die Geschichte von Freihandel und neoliberaler Globalisierung. Im Mittelpunkt steht dabei eine Gruppe von Ökonomen um Friedrich von Hayek und Wilhelm Röpke. Getrieben von der Angst, nationale Massendemokratien könnten durch Zölle oder Kapitalverkehrskontrollen das reibungslose Funktionieren der Weltwirtschaft stören, bestand ihre Vision darin, den Markt auf der globalen Ebene zu verrechtlichen und so zu schützen.

Slobodian begleitet seine Protagonisten durch das 20. Jahrhundert. Er zeigt, wie sie auf neue Herausforderungen – die Entkolonialisierung etwa oder die europäische Integration – reagierten und aus einer Außenseiterposition heraus die Deutungshoheit eroberten. Quinn Slobodian, geboren 1978 im kanadischen Edmonton, ist Associate Professor am Department of History des Wellesley College. Seine Spezialgebiete sind deutsche Geschichte, soziale Bewegungen und das Verhältnis zwischen den Industrieländern und dem globalen Süden.

Rezension zu "Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus" von Quinn Slobodian

Der Erste Weltkrieg wird oft als Urkatastrophe des kurzen 20. Jahrhunderts bezeichnet. Wie Quinn Slobodian in seinem Buch Globalisten zeigt, wurde diese Einschätzung auch und gerade von einer Gruppe von Denkern geteilt, die gemeinhin als Neoliberale adressiert werden – wenn auch aus ganz besonderen Gründen. Aus ihrer Perspektive war 1914 nämlich eine ganze liberale Welt zusammengebrochen. Es handelte sich um eine Welt, die größtenteils aus Nationalstaaten bestand, allerdings von Imperien dominiert wurde und in der britische Kriegsschiffe die Pax Britannica durchsetzten. Dieser ‚hundertjährige Friede‘ (Karl Polanyi) ermöglichte in Kombination mit dem Goldstandard Welthandel in einer Größenordnung, wie sie erst wieder im Zeitalter der gegenwärtigen Globalisierung erreicht werden sollte.

Die Kernthese Slobodians lautet, dass diese globale Dimension, die von derart großer Bedeutung für die Existenz der mit dem Ersten Weltkrieg zerstörten liberalen Welt gewesen war, nach wie vor eine herausragende Rolle im Denken jener Gruppe von Neoliberalen spielte, die er als „Genfer Schule“ bezeichnet: es sind diese Globalisten, auf die sich der Titel des Buchs bezieht.

Den Genfern, zu denen Slobodian bekanntere Denker wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises und Wilhelm Röpke, aber auch unbekanntere wie etwa Michael Heilperin und Gottfried Haberler zählt, erschien die Welt am Ende des ‚Großen Krieges‘ als eine, die zunehmend unter rivalisierenden Nationalstaaten aufgeteilt war, deren Massendemokratien auf bedenkliche Weise dem Sozialismus oder ‚ökonomischen Nationalismus‘ zuneigten – sei es, weil sie planwirtschaftliche Elemente ins Spiel brachten oder bereit waren, Handelsbarrieren zu errichten. Diese Situation verschärfte sich durch eine weitere Zäsur, auf deren Auswirkungen die Genfer reagierten: die Weltwirtschaftskrise, angesichts derer das liberale Credo von den Vorzügen freier Märkte zunehmend zynisch wirkte und die zudem den zaghaften Versuchen, die ökonomischen Grundbedingungen der liberalen Welt des 19. Jahrhunderts etwa in Form des Goldstandards wiederherzustellen, eine Ende bereitete. Die dritte jener Zäsuren, die von zentraler Bedeutung in Slobodians Narrativ sind, ereignete sich allerdings erst sehr viel später, nämlich in den 1970er-Jahren, als eine Gruppe gerade entkolonialisierter Länder bessere Konditionen im Welthandel einforderte und kraft der mit diesen Ansprüchen verbundenen Agenda einer Neuen Weltwirtschaftsordnung das GATT-Regime faktisch in Frage stellte. Wie Slobodian in meisterhafter Manier zeigt, reagierte die Genfer Schule auf jede dieser Zäsuren mit Strategien, die nicht so sehr darauf abzielten, einen wie auch immer gearteten liberalen Status Quo ante wiederherzustellen – handelte es sich doch um Neo- und nicht um Retroliberale. Vielmehr sollte sichergestellt werden, dass der globale Handel unabhängig von und ungestört durch die jeweiligen politischen Ordnungen vonstattengehen konnte. Ausgedrückt in der konzeptionellen Sprache des Römischen Rechts, die Röpke und andere Neoliberale aufgriffen, galt es, die Welt des dominium, das heißt von Eigentum, Handel und Finanzen, vor den Beeinträchtigungen zu schützen, die von der Welt des imperium, das heißt von Nationen, Ländern und Völkern ausgingen. Konkret lief diese Programmatik darauf hinaus, die Rechte des Kapitals gegenüber (postkolonialen) Demokratien in Schutz zu nehmen; diese Demokratien also gewissermaßen im Interesse eines unbehelligten Welthandels zu ‚ummanteln‘.

Slobodian vollzieht nach, wie die Genfer Schule auf die genannten Zäsuren mit neuen Überlegungen und Entwürfen reagiert. In den 1920er-Jahren besteht die Antwort darin, die Weltwirtschaft in einer Weise zu modellieren und zu visualisieren, dass die vielfältigen Nachteile von Protektionismus und ‚Zollmauern‘ (tariff walls) möglichst suggestiv in Erscheinung treten. Doch ist diesen Versuchen kein nachhaltiger Erfolg beschieden, wie nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise und der mit ihr verbundene, grassierende Protektionismus belegen.

Die Lehre, die die Genfer aus den Unzulänglichkeiten jener „Welt der Zahlen“ (S. 81) zieht, lautet, dass sich die widerstreitenden Logiken von imperium und dominium am besten im Rahmen einer supranationalen Föderation ausbalancieren lassen. Unterschiedliche Entwürfe einer solchen Föderation finden sich etwa in den Werken von Lionel Robbins, Hayek oder Röpke, die freilich auf dieselbe Quintessenz hinauslaufen: Falls die supranationale Ebene solcher Föderationen ausschließlich die Macht habe, ‚nein zu sagen‘, wie Hayek formulierte, und damit die ungestörte Mobilität von Waren und Menschen zwischen womöglich divergierenden Jurisdiktionen sicherzustellen, dann ließen sich auf einem derartigen Binnenmarkt diverse Ziele verwirklichen: Es könnte sich nicht nur eine transnationale Arbeitsteilung mit den entsprechenden Spezialisierungseffekten entwickeln, vielmehr würde ein solcher Binnenmarkt einzelnen Jurisdiktionen auch die Macht entziehen, über ökonomische Akteure und ihre grenzübergreifenden Aktivitäten zu bestimmen. Sozusagen als Kompensation für diese Souveränitätsverluste bliebe den Menschen freilich vorbehalten, über kulturelle Fragen zu entscheiden, um etwaige nationalistische Bedürfnisse zu befriedigen.

Jedoch brachte das Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs eine „Welt der Föderationen“ (S. 133), sondern die Institutionalisierung der Vereinten Nationen, die auf ganz anderen Prinzipien beruhte. Slobodian zeichnet nach, wie sich die Genfer daraufhin in ihren Überlegungen dem Recht auf Kapitalbesitz und -transfer zuwenden, um das spannungsreiche Verhältnis zwischen imperium und dominium in ihrem Sinne auszutarieren. Michael Heilperin, ein langjähriges Mitglied der Mont Pèlerin Society, betonte etwa die Notwendigkeit, Kapitaleigentümer und ihre Rechte nicht nur vor Enteignungen, sondern auch vor Kapitalverkehrskontrollen zu schützen. Letztlich, so Heilperin, sei das Recht, ein Land zu verlassen und dabei freie Verfügungsgewalt über die Lokalität seines Kapitals zu besitzen, nicht weniger als ein Menschenrecht.

Diese „Welt der Rechte“ (S. 175) nahm im Nachkriegseuropa eine besondere Form an. 1957 wurde mit den Römischen Verträgen ein Binnenmarkt konstituiert, als dessen Rahmen eine ‚ökonomische Verfassung‘ fungierte, von der schon bei deutschen Ordoliberalen wie Walter Eucken und Franz Böhm die Rede gewesen war – wenn auch in nationalstaatlichen Zusammenhängen. Im Rahmen dieser ‚Verfassung‘ wurden die vier Grundfreiheiten (bezogen auf den freien Verkehr von Waren, Menschen, Kapital und Dienstleistungen) mit unmittelbarer Wirksamkeit (‚direct effect‘) ausgestattet, wie es in den entsprechenden Urteilen des Europäischen Gerichtshofs hieß. Dies bedeutet, dass natürliche und juristische Personen das Recht haben, vor nationale und europäische Gerichte zu ziehen, wenn sie der Auffassung sind, dass diese Rechte verletzt werden, sei es durch (nicht-tarifäre) Handelshemmnisse oder Gewerkschaften, die wiederum auf ihre Rechte pochen können – in den einschlägigen Rechtsstreiten aber zumeist unterlagen.

Freilich blieb, wie Slobodian herausarbeitet, die Genfer Schule gespalten was die Frage angeht, ob die Europäische Gemeinschaft tatsächlich das passende Modell für die Re-Liberalisierung des Welthandels darstellte oder doch eher als eine gigantische ökonomische Festung zu verstehen sei, die errichtet wurde, um ungewollte Konkurrenten vom Binnenmarkt fernzuhalten, also eigentlich nur einen ökonomischen Nationalismus auf höherer Ebene manifestiere. Diese Bedenken machten sich unter anderem an der bevorzugten Behandlung fest, die einstmalige imperiale Mächte wie Frankreich ihren ehemaligen Überseeterritorien zuteilwerden ließen. Und damit wendet sich Slobodian der globalistischen Wahrnehmung der ‚Entwicklungsländer‘ und ihrer vorwiegend nicht-weißen Bevölkerungen zu. Diese Perspektive auf eine „Welt der Rassen“ (S. 211) offenbart eine eher ungewöhnliche – oder womöglich durchaus gewöhnliche – Art von Liberalismus, etwa was die Annahmen über das zivilisatorische Niveau der Länder der Sub-Sahara oder die dort umso stärker ins Gewicht fallenden Defizite demokratischer Mehrheitsherrschaft angeht, die unweigerlich in der selbstzerstörerischen Herrschaft des ökonomischen Nationalismus und der damit verbundenen Gefahr für die Regeln des dominium enden müssten.

Den Schwerpunkt des letzten Kapitels legt Slobodian dann auf eine Rekonstruktion der Vorgeschichte der Welthandelsorganisation. Nachgezeichnet wird, wie Hayekianer aus der WTO ein Freihandelsregime zu formen versuchten, das Hayeks Einsichten bezüglich der Komplexität des (Welt-)Marktes als einem riesigen Informationsprozessor Rechnung tragen würde, der zwar einen bestimmten Rahmen benötige, jedoch keinerlei direkte Interventionen dulde. Im Namen einer „Welt der Signale“ (S. 311) sollte dem damaligen Trend in der Entwicklungsökonomik entgegengewirkt werden, die verstärkt auf makroökonomische Modellierungen im Dienste der oben erwähnten Neuen Weltwirtschaftsordnung setzte.

Die Stärken von Slobobians Buch, das von der American Historical Society mit dem „George Louis Beer-Preis“ für das beste Buch im Bereich internationaler europäischer Geschichte ausgezeichnet wurde, sind vielfältig: Globalisten präsentiert eine herausragende Forschungsleistung, die zudem durch außergewöhnlich gut geschriebene Prosa überzeugt. Es handelt sich, anders gesagt, um ein ausgesprochen akademisches Buch, das selbst dort lesbar bleibt, wo es sich mit den teils höchst undurchsichtigen und technischen Fragen des Welthandels befasst. Die Gesamtkomposition des Buches ist dabei überaus elegant; jedes Kapitel widmet sich einer bestimmten ‚Welt‘, so wie die Globalisten sie über die Zeit hinweg imaginierten und zu verwirklichen trachteten. Am wichtigsten sind zweifelsohne die äußerst originellen Funde und Befunde, an denen in Slobodians Studie keinerlei Mangel herrscht: Der Neoliberalismus ist kein anti-staatlicher Marktfundamentalismus, wie es nach wie vor vielerorts behauptet wird. Vielmehr versteht er den Staat als wichtigen Faktor in seinem Bestreben, die Welt des proprium zu sichern – wobei jener Staat gleichzeitig auch deren größte Bedrohung darstellt. Was Slobodians Narrativ hingegen so einzigartig macht, ist seine Refokussierung der Neoliberalismus-Forschung auf Herrschaftsstrukturen jenseits des Nationalstaats im Kontext von untergehenden rassistisch imprägnierten Imperien. Die Bedeutung dieser Ebenen und Kontexte ist in der bisherigen Forschung allenfalls unzureichend berücksichtigt worden. Slobodians Vorschlag, die Variationen des neoliberalen Denkens um eine Genfer Schule zu erweitern, wird zweifellos Folgestudien veranlassen, die uns ein mutmaßlich noch klareres Bild dieser Version von Neoliberalismus vermitteln werden, und zwar nicht nur in seiner Sichtweise auf die OECD-Welt, sondern auch auf den Globalen Süden.

Bisweilen überspannt Slobodian, das darf nicht unerwähnt bleiben, den Bogen seiner Kernthese ein wenig, ruft man sich etwa in Erinnerung, dass die meisten Neoliberalen, inklusive Hayek, trotz aller supranationalen Erwägungen vorwiegend eben doch im nationalstaatlichen Rahmen dachten. Aber das sind Vorbehalte und Fragen, die zukünftige Forschungsarbeiten hoffentlich aufgreifen werden, die ansonsten in Slobodians wichtigen Einsichten und Thesen ihren Ausgangspunkt finden sollten. Zweifelsohne liefert Globalisten sowohl (Ideen-)Historiker*innen wie politischen Theoretiker*innen eine überaus anregende Lektüre. Sein Narrativ endet zwar mit der Gründung der Welthandelsorganisation Mitte der 1990er-Jahre, aber es enthält eine Vielzahl von Implikationen für unsere Gegenwart: von Handelsabkommen wie TTIP und CETA bis hin zu einer Europäischen Union, in der die „ordoglobalistische“ Perspektive, wie Slobodian sie nennt, zur Etablierung eines Regimes der Austerität in Reaktion auf die Eurozonenkrise geführt hat, und einem Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, dessen Politik die Genfer zweifellos als ökonomischen Nationalismus und damit als einen Angriff der Welt des imperium auf diejenige des dominium gebrandmarkt hätten.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Posted by Wilfried Allé Thursday, November 14, 2019 3:34:00 PM Categories: Sozialwissenschaften allgemein
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The Great Transformation 

Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen

von Karl Polanyi.

The Great Transformation, 1944 erschienen, geht von der These aus, daß erst die Herausbildung einer liberalen Marktwirtschaft mit ihrem »freien Spiel der Kräfte« zu jener charakteristischen »Herauslösung« und Verselbständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft geführt hat, die historisch ein Novum darstellt und die bürgerliche Gesellschaft von allen anderen Gesellschaftsformationen unterscheidet. The Great Transformation - das bezeichnet den Übergang von »integrierten« Gesellschaften, in denen die wirtschaftlichen Aktivitäten der Individuen in einen übergreifenden kulturellen Zusammenhang eingebettet waren, zur nicht integrierten Gesellschaft vom Typ der freien Marktwirtschaft.

Übersetzung: Heinrich Jelinek
Preis: € 18,50
Vorwort: R.M. MacIver
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sozialwissenschaften allgemein
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 06.01.1973

 

Rezension aus FALTER 18/2018

„Wir leben in einem Kapitalismus, der zerbrochen ist“

Der weltberühmte Wiener Sozialwissenschaftler Karl Polanyi ist einer der wichtigsten Deuter der herrschenden Marktmechanismen. Seine 94-jährige Tochter Kari Polanyi über sein wiederentdecktes Werk und ihre Kindheit im Roten Wien

Mit seinem Buch „The Great Transformation“ schuf Karl Polanyi ein Standardwerk. Darin zeichnet er nach, wie im 19. Jahrhundert die Idee des selbstregulierenden Marktes dominant geworden war und erklärt, warum die Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine Folge des Scheiterns dieser Idee sind. Seit der Finanzkrise 2008 wird Polanyis Schrift wiederentdeckt.
Karl Polanyi, als Sohn eines jüdischen Paares 1886 in Wien geboren, 1964 in Kanada verstorben, emigriert 1933 nach England. Seine einzige Tochter, Kari Polanyi, ist selbst Ökonomin und pflegt das Erbe ihres Vaters. Sie wird auch an der Konferenz in der Wiener Arbeiterkammer teilnehmen, bei der am 8. und 9. Mai die International Karl Polanyi Society (IKPS) gegründet werden wird. Mit dem Falter sprach die 94-Jährige vorab in einem englisch gefärbten Wienerisch.

***
Ich habe viele Erinnerungen an meine Kindheit in Wien. Wo jetzt entlang der Vorgartenstraße viele große Häuser stehen, war früher ein Reservegarten der Stadt Wien – ein riesiger, grüner Ort. Und vorne am Trottoir war ein ständiger Markt mit kleinen Hütten. Im Wien meiner Kindheit gab es viele kulturelle und sportliche Angebote für die Arbeiterschaft. Die Kinderfreunde organisierten Sommercamps, ich erinnere mich, dass wir nach Bad Aussee fuhren – ein ganz wunderbarer Ort.
Ich war in der Kindersektion eines Arbeiterturnvereins. Da habe ich allerhand gelernt, zum Beispiel, wie man gut fällt – in Montreal, wo ich später als Erwachsene leben sollte, haben wir schwere Winter und viel Eis auf der Straße. Da muss man wissen, wie man stürzt, ohne sich die Knochen zu brechen.

Das Wien meiner Kindheit war das Rote Wien. Das Wien, das ich als Kind verlassen musste, war eine offene und lebendige Stadt. Mein Vater zum Beispiel hat mit Ludwig von Mises im selben wissenschaftlichen Journal publizistisch debattiert, er hatte eine Replik auf einen seiner Artikel geschrieben, worauf wiederum er geantwortet hatte und dann kam wieder eine Antwort meines Vaters und so weiter. So etwas wäre in England, wo wir später gelebt haben, undenkbar gewesen. Mein Vater war schließlich nur ein einfacher Redakteur. Trotzdem konnte er sich mit jemandem wie Mises messen, der ja damals ein hohes Tier war.
Mein Vater hatte in Wien an Volkshochschulen Arbeiter unterrichtet. Das tat er auch später in England für die Workers Educational Association. Darunter waren vor allem ältere Menschen, die sich in Abendkursen weiterbilden wollten. Das kulturelle Leben der Arbeiter in London war im Vergleich zu dem der Arbeiter im Roten Wien ganz mies – obwohl Wien und Österreich viel ärmer waren als London und England, das damals reichste Land Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt.
Mein Vater hatte die Vorträge für die Arbeiter geliebt. Er bereitete sich darauf vor, als würde er in Cambridge oder Oxford unterrichten; ich habe das selbst gesehen, als er mich einmal dazu mitgenommen hat, als ich vielleicht 15 Jahre alt war. Damals hat er sehr viel zur Geschichte der frühen Industriellen Revolution gelesen und sie intensiv studiert. Ich bin davon überzeugt, dass er viel von dem, was in „The Great Transformation“ steht, schon in seinem Abendkurs für die Arbeiter zur English social and economic history unterrichtet hat.
Erst vor kurzem sind Manuskripte seiner Vorlesung aus dem Jahr 1940 am Bennington College in den USA aufgetaucht. Da hatte er noch nicht einmal begonnen, „The Great Transformation“ zu schreiben, aber schon da sprach er über Dinge, die auch jetzt wieder wichtig sind: dass der moderne Nationalismus der 30er-Jahre eine schützende Reaktion auf die internationalen Interdependenzen war.
Ich sehe starke Parallelen zur heutigen Situation. In den USA ist es leicht zu sehen, warum die Demokraten diese Präsidentschaftswahl verloren haben: Hillary stand für den Status quo. Ich verstehe, dass viele nicht wollten, dass alles so weitergeht wie bis dahin, denn viele hatten an Status verloren – durch die Globalisierung erlebte die alte Arbeiterklasse einen Abstieg. Außerdem nannte Hillary Leute, die Trump wählten deplorable, erbärmlich. Sie hatte keinen Respekt für diese Menschen. Ich denke, vielleicht hat die Linke in Europa ein ähnliches Problem.
Zwischen der Linie der Sozialdemokraten und den Konservativen gab es seit einiger Zeit wenig Unterschied. Die Sozialdemokraten haben im Großen und Ganzen die neoliberalen Prämissen akzeptiert: Sie haben die Austeritätspolitik nicht wirklich infrage gestellt; sie haben die Prämisse nicht wirklich infrage gestellt, der zufolge die Privatwirtschaft grundsätzlich effizienter ist; sie haben nicht infrage gestellt, dass aus Bürgern immer mehr Kunden wurden – im Gegenteil, die Linke hat dabei sogar mitgemacht.
Ich glaube, mein Vater hätte sich nicht vorstellen können, dass sich die Dinge auf diese Weise entwickeln würden. Mein Vater glaubte in den 40er-Jahren, als er „The Great Transformation“ geschrieben hat, dass das, was er da beschreibt, alles vorbei ist. Er hatte keine Ahnung, dass alles zurückkommen könnte.
Ich glaube, mein Vater wäre über die Marktfreundlichkeit überrascht, die mit dem Neoliberalismus zurückgekommen war. Er war eine Reaktion auf die Inflationen und die Ölkrise in den 70er-Jahren, aber auch auf Gewerkschaften, die zu stark geworden waren. Die kapitalistische Klasse war der Meinung, es sei zu viel von ihrer Macht verloren gegangen.

Seit der Industriellen Revolution geht es um die Frage, ob es möglich ist, dass sich die Menschheit mit den Maschinen arrangiert – darüber hat Polanyi sehr viel nachgedacht. Ich glaube, dass diese Frage jetzt noch viel dringlicher ist als damals.
In den 40er-Jahren bis in die 60er ist es ja noch ganz gut gegangen. Es gab einen guten Kompromiss zwischen capital and labour. Aber jetzt sehen wir, was mit Technologien, mit Informationstechnologien alles möglich ist und das ist doch auch ganz gefährlich. Doch die Maschinen sind nicht das eigentliche Problem. Es ist auch nicht der Handel, sondern die Finanz – so sieht es auch der UN-Handels- und Entwicklungsbericht. Der Finanzsektor ist größer und stärker als vor der Krise von 2008. Das Problem mit den Banken und das Problem der Finanzkrise sind nicht gelöst. Renditen steigen ohne realen Hintergrund.
Wenn man sich ansieht, wie zum Beispiel Immobilienpreise immer weiter steigen und gleichzeitig kaum Wachstum in der Realwirtschaft ist, versteht man, was passiert: Wir leben in einem Kapitalismus, der zerbrochen und obsolet geworden ist. Wir wissen, dass eine Krise droht, die viel größer werden wird als die von 2008. Daraus wird entweder etwas ganz Wunderbares hervorgehen oder etwas ganz Schreckliches wie eine Diktatur.
Wir müssen uns eine neue Art der menschlichen Zivilisation vorstellen. Ja, eine, die wirklich ganz anders ist als das, was wir jetzt haben. Eine, wo wir wirklich im Einklang mit der Realität leben. Es ist eine Tatsache, dass wir alles produzieren können, ohne dass die ganze Bevölkerung arbeiten muss. Das ist die Wahrheit. Für die reichen Länder müssen wir uns eine Gesellschaft vorstellen, die es nicht notwendig hat zu wachsen. Das nämlich ist die Realität.
Marx sagte, wenn die Produktionskraft so weit entfaltet ist, dass die Maschinen alles herstellen können, bräuchte es keinen Kapitalismus mehr. Nun sind wir genau dort angelangt – die Maschinen können alles produzieren, was wir Menschen brauchen. Das Problem ist aber, dass wir nicht wissen, wie eine inklusive Gesellschaft zu organisieren ist, in der nur wenig Arbeit notwendig ist.
Ich habe das Rote Wien als Kind erlebt. Es war etwas Spezielles, eine einmalige Phase in der Geschichte. Als Modell taugt es aber immer noch.

Nina Brnada in FALTER 18/2018 vom 04.05.2018 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 2, 2018 11:26:00 PM Categories: Sozialwissenschaften allgemein
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