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21 Lektionen für das 21. Jahrhundert 

Können wir die Welt, wie wir sie erschaffen haben, überhaupt noch verstehen?

von Yuval Noah Harari

Übersetzung: Andreas Wirthensohn
Verlag: C.H.Beck
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 459 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.11.2018
Preis: € 25,70


In «Eine kurze Geschichte der Menschheit» erzählte er vom Aufstieg des Homo Sapiens zum Herrn der Welt. In «Homo Deus» ging es um die Zukunft unserer Spezies. Mit seinem neuen Buch schaut Yuval Noah Harari, einer der aufregendsten Denker der Gegenwart, nun auf das Hier und Jetzt und stellt die drängenden Fragen unserer Zeit. Warum ist die liberale Demokratie in der Krise? Ist Gott zurück? Soll Europa offen bleiben für Zuwanderer? Kann der Nationalismus eine Antwort geben auf Klimawandel und soziale Ungleichheit? Was sollen wir unseren Kindern beibringen? Und können wir die Welt überhaupt noch verstehen, die wir erschaffen haben?Yuval Noah Harari hat Millionen Leser auf der ganzen Welt in seinen Bann geschlagen. In seinem neuen Buch lädt er dazu ein, über Werte, Bedeutung und persönliches Engagement in einer Zeit voller Lärm und Ungewissheit nachzudenken. In einer Welt, die überschwemmt wird mit bedeutungslosen Informationen, ist Klarheit Macht. Doch Milliarden von uns können sich kaum den Luxus leisten, sich mit den drängenden Fragen der Gegenwart zu beschäftigen, weil wir Dringenderes zu erledigen haben. Leider gewährt die Geschichte keinen Rabatt. Wenn über die Zukunft der Menschheit in unserer Abwesenheit entschieden wird, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, unsere Kinder zu ernähren und mit Kleidung zu versorgen, werden wir und sie dennoch nicht von den Folgen verschont bleiben. Dieses Buch versorgt die Menschen nicht mit Kleidung oder Nahrung. Aber es kann helfen, die Dinge ein wenig klarer zu sehen, und damit das globale Spielfeld etwas einebnen. Wenn es auch nur ein paar mehr von uns in die Lage versetzt, sich an der Diskussion über die Zukunft unserer Spezies zu beteiligen, so hat es seine Aufgabe erfüllt. Yuval Noah Harari, wurde 1976 in Haifa, Israel, geboren. Er promovierte 2002 an der Oxford University. Aktuell lehrt er Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem mit einem Schwerpunkt auf Weltgeschichte. Seine Bücher «Eine kurze Geschichte der Menschheit» und «Homo Deus» wurden zu Weltbestsellern.

Posted by Wilfried Allé Thursday, December 6, 2018 1:21:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Das Kapital des Staates 

Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum

von: Mariana Mazzucato

Freie Märkte, smarte junge Erfinder und Wagniskapital treiben die Wirtschaft voran; der Staat stört dabei nur und muss daher nach Kräften zurückgedrängt werden. Wie ein Mantra wird dieser oberste Glaubensartikel des Neoliberalismus seit Jahrzehnten wiederholt – aber stimmt er auch?
Die Ökonomin Mariana Mazzucato, die seit Jahren über den Zusammenhang zwischen Innovation und Wachstum forscht, beweist das Gegenteil: Wann und wo immer technologische Innovationen zu wirtschaftlichem Aufschwung und Wohlstand geführt haben, hatte ein aktiver Staat die Hand im Spiel. Von der Elektrifizierung bis zum Internet – Motor der Entwicklung, oft bis zur Markteinführung, war stets der Staat. Apples Welterfolg gründet auf Technologien, die sämtlich durch die öffentliche Hand gefördert wurden; innovative Medikamente, für die die Pharmaindustrie ihren Kunden gern hohe Entwicklungskosten in Rechnung stellt, stammen fast ausnahmslos aus staatlicher Forschung.
Innovationen und nachhaltiges Wachstum, das derzeit alle fordern, werden also kaum von der Börse kommen. Viel eher von einem Staat, der seine angestammte Rolle neu besetzt, sein einzigartiges Kapital nutzt und mit langem Atem Zukunftstechnologien wie den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreibt.
Ein brandaktuelles Buch, das die aktuelle Diskussion über die Zukunft der Wirtschaft und die Rolle des Staates vom Kopf auf die Füße stellt.

Mariana Mazzucato lehrt als R.M. Philips Professor in Science and Technology Policy an der Universität Sussex und ist Gastprofessorin der Open University. Sie berät die Europäische Kommission zu Fragen wirtschaftlichen Wachtums und ist im Vorstand des renommierten britischen Umwelt-Thinktanks Green Alliance. 2013 hielt sie einen vielbeachteten Vortrag auf der TED-Konferenz.

Übersetzung: Ursel Schäfer
Originaltitel: The Entrepreunerial State
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Verlag: Kunstmann, A
ISBN: 978-3-95614-000-6
Umfang: 304 Seiten
Erscheinungsdatum: 20.08.2014

 

Rezension aus FALTER 3/2017

Es gibt ihn, den guten Staat

Der Staat ist träge, innovativ sind die Unternehmen? Mariana Mazzucato macht Schluss mit diesem Märchen

Was kann der Staat? Darüber gehen die Meinungen auseinander, aber sehr häufig sind die Deutungen nur verschiedene Varianten von: nicht viel. Das gilt natürlich zunächst und primär für Wirtschaftsfragen. Da ist der wirtschaftsliberale Mainstream der Meinung, dass der Staat ohnehin nur Schaden anrichtet und die Innovationskraft des freien Unternehmertums hemmt, während die – nennen wir sie jetzt einmal – „keynesianische Mitte“ einwenden würde, dass der Staat zwar gewiss dazu tendiert, ein bürokratisches Monstrum zu sein, man aber seine Regulierungen zwecks Vermeidung von Katastrophen benötigt und man ihn im Notfall braucht, um kollabierende Banken zu retten oder eine abschmierende Konjunktur anzukurbeln. Außerdem kann er sich mit Anreizen nützlich machen, um das Handeln der Wirtschaftsakteure zu beeinflussen. Aber selber handeln – das sollte er natürlich eher nicht. Denn Wirtschaft – das könne „die Wirtschaft“, vulgo Unternehmen, besser.
Geht es zudem um das weitere Feld des Gesellschaftlichen, dann wird der Staat ohnehin gerne als bloßes gängelndes, bevormundendes Institutionenwerk gesehen, gegen das sich Freiheit und der Eigensinn des Einzelnen behaupten müssen – und nur sehr selten als Quelle und Garant der Freiheit.
Diese vorherrschenden Deutungen sind von hübschen Geschichten illustriert: von den märchenhaften Storys kleiner Start-ups, die in Garagen innovative Ideen ausbrüten und mit diesen Erfindungen die Welt verändern – gänzlich am Staat vorbei, der sie im besten Fall dabei nicht stört, ihnen im schlimmsten Fall Steine in den Weg legt.

Wie die Dinge wirklich liegen, beschreibt die in Großbritannien forschende Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Buch „Das Kapital des Staates“. Sie gilt schon als der „neue Star in der ökonomischen Debatte“ (Manager-Magazin). Der deutsche Titel ihres Buches ist etwas verblasen, im Original heißt es: „The Entrepreneurial State“ (Der unternehmerische Staat). Unternehmen werden heute mit Attributen wie „wettbewerbsfähig“ und „innovativ“ belegt, der Staat gilt als „träge“ oder „schwerfällig“, doch mit Geschichte und Gegenwart von Innovation hat all das nichts zu tun, schreibt sie.
Die ganze Geschichte der großen Innovationen, von der Eisenbahn-Revolution bis zur Energiegewinnung, von der Atomenergie bis zur massiven Ausbeutung der Wasserkraft, zeigt nachdrücklich: Die massive Mobilisierung von Ressourcen, ganz zu schweigen von der vorangehenden Grundlagenforschung, wurde vom Staat geleistet, und in diesem innovativen Gärhaus ist die profitable Anwendung durch Privatfirmen am Ende nur mehr die Bubble obendrauf.
Und das gilt erst recht für die großen Innovationen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart wie Computertechnologie, Internet, Pharmarevolution, Nanotechnologie, Raumfahrt. Das hat auch einen systemischen Grund, so Mazzucato: Große technologische Revolutionen verschlingen zunächst einmal ungeheuer viel Kapital; ob daraus aber irgendwann einmal Renditen entspringen, ist dagegen meist unklar. Für private Investoren ist das viel zu riskant, ein solches Großrisiko kann nur der Staat tragen. Nicht der Staat ist träge und die Unternehmen unternehmerisch, das Gegenteil ist der Fall: Die Unternehmen sind viel zu vorsichtig, solche Risiken übernimmt nur der Staat, der viel „tollkühner“ ist als Unternehmen, die meist schon die Rendite im nächsten Quartal im Auge haben: „Selbst in Boomphasen gibt es viele risikobehaftete Bereiche, vor denen Privatunternehmen zurückscheuen, in denen jedoch der Staat als Pionier vorangeht.“
Mazzucatos nachdrückliche Botschaft: Vergesst die Start-ups! Ihre Rolle wird systematisch übertrieben!

Exemplarisch für all das ist die Firma Apple,
der sich Mazzucato detailliert widmet, nicht weil sie Apple nicht mögen würde, sondern weil die Firma als Paradefall des innovativen Genies freien Unternehmertums gilt. Dabei ist eher das exakte Gegenteil der Fall. „Tatsächlich steckt im iPhone nicht eine einzige Technologie, die nicht staatlich finanziert wurde.“ Die Computertechnologie wurde in Labors gemeinsamer staatlicher und privater Forschungen in den 1960er- und 70er-Jahren entwickelt. Mikroprozessoren, Halbleitertechnik, alles beruht auf staatlicher Grundlagenforschung und staatlich orchestrierter Innovation. Das Internet entsprang ohnehin, wie jeder weiß, einem Megaprojekt des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Der Touchscreen wurde wesentlich in britischen Labors entwickelt, die sich verteidigungsrelevanten Technologien widmeten. GPS-Satellitentechnologie usw., die Liste ließe sich fortsetzen. Die private unternehmerische Leistung liegt allenfalls in der finalen Bastelei und im genialen Design.
Seitdem Christian Kern diese Geschichte an dem Tag, an dem er zum Kanzler bestellt wurde, im „ZiB 2“-Studio bei Armin Wolf erzählte, ist Mazzucato auch in Österreich mehr als nur Insidern bekannt – als die Ökonomin, von der der Kanzler seine Thesen hat. Im Herbst dann besuchte die Professorin den SPÖ-Chef im Kanzleramt, danach ging es in die WU zu Doppel-Lecture und Wirtschaftstalk ins vollgefüllte Audimax. Wie bei einem Popevent hatten die jungen Studierende von der „Gesellschaft für plurale Ökonomik“ Armbänder mit der Aufschrift „Mazzukern“ drucken lassen. „Das klingt ja wie Brangelina“, lachte die Starökonomin.
Mazzucatos These ist, dass wir alle ein falsches Bild vom Staat und von Unternehmen im Kopf haben, das nichts als die Folge ideologischer Verblendung ist. Ein erfolgreicher, innovativer Kapitalismus brauchte immer einen starken, aktivistischen Staat, und das umso mehr, je komplexer die Aufgaben und die Gesellschaften waren. Nicht der Staat ist innovativ und auch nicht die Unternehmen, sondern eine Kombination von staatlichem und unternehmerischen Aktivismus. Und dafür braucht es eben gute Unternehmen und einen klug agierenden, finanziell gut ausgestatteten Staat.
Aber die staatsfeindliche Ideologie untergräbt diese Erfolgsbedingungen, denn damit all das gut funktioniert, muss es beispielsweise auch attraktiv sein, für den Staat zu arbeiten. Macht man den Staat chronisch schlecht (und trocknet man ihn finanziell aus), werden die besten Talente eher nicht in staatlichen Behörden arbeiten wollen, dann werden Innovationen, die die Zukunft prägen würden, eben nicht getätigt – dann wird der unfähige Staat gewissermaßen zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Absurd: Während die eigentlichen bahnbrechenden Innovationen in staatlichen Labors ausgebrütet werden, jazzt man täglich Start-ups medial hoch, die irgendwelche Apps programmieren, für die es keine besondere Genialität mehr braucht und die die Welt oft gar nicht benötigt.

Der moderne, komplexe Staat hat eine Vielzahl von Aufgaben, die gerade auch eine kapitalistische Marktwirtschaft braucht, um funktionstüchtig zu bleiben – das war schon die These des legendären Werkes „Die große Transformation“ des vor exakt 50 Jahren verstorbenen Gesellschaftstheoretikers Karl Polanyi. Polanyi sprach von der „etablierten Gesellschaft“, die mehr ist als bloß Markt oder Staat, ein komplexes Netzwerk, hinter das wir nicht mehr zurückkönnen, ob wir wollen oder nicht. Der Lonely Hero, der reine Selfmade-Man, wie ihn sich der Ultraliberalismus zusammenfantasiert, die sind heute einfach nicht mehr im Angebot. „Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt (…) zuließe, dann würde dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen“, schrieb Polanyi, und weiter: „Paradoxerweise müssen nicht nur die Menschen und ihre natürlichen Ressourcen, sondern auch die Organisationsweise der kapitalistischen Produktion an sich vor den verheerenden Auswirkungen eines selbstregulierenden Marktes geschützt werden.“ Polanyi war so etwas wie der intellektuelle Wegbereiter eines Linksliberalismus, was auch ein Grund dafür sein dürfte, dass er heute relativ in Vergessenheit geraten ist. Er war den echten Linken zu prokapitalistisch und den Wirtschaftsliberalen zu links.
Polanyi war auch einer der Ersten, der einige Grundprinzipien des modernen Linksliberalismus durchbuchstabierte, der sowohl die Staatsgläubigkeit der Linken als auch die Staatsfeindlichkeit des Liberalismus hinter sich ließ: Da man in komplexen Gesellschaften einen aktivistischen Staat braucht, muss man die paternalistischen, bürokratischen und autoritären Versuchungen eines solchen Staates bekämpfen: Er sprach von einem „Recht auf Nonkonformismus“ und: „Jeder Schritt zur Integration der Gesellschaft sollte somit von einer Zunahme der Freiheit begleitet sein; Schritte in Richtung auf Planung sollten die Stärkung der Rechte des Einzelnen“ nach sich ziehen. „Die echte Antwort auf die drohende Bürokratie als Quelle des Machtmissbrauchs besteht darin, Bereiche unumschränkter Freiheit zu schaffen, die durch eiserne Regeln geschützt sind.“

Der Staat nicht als Antipode, sondern als Garant von Freiheit – insbesondere gegen Machtkonzentration, die aus wirtschaftlicher Macht resultiert, das wäre eine Sache eines modernen „Linksliberalismus 2.0“, der auf der Höhe der Zeit wäre, und der gerade da und dort durchbuchstabiert wird. Der „neue Liberalismus“ muss erkennen, schreibt etwa die Frankfurter Ökonomin und Philosophin Lisa Herzog, dass nicht nur staatlicher Zwang freiheitseinschränkend sein kann, sondern „auch der Mangel an Zugangsmöglichkeiten und Ressourcen, der im Kapitalismus weite Teile der Bevölkerung bedrohen kann (…) Für den neuen Liberalismus ist gerade der ungezügelte Markt ein Feind der Freiheit. Besonders ist er es, wenn er extreme Ungleichheiten erzeugt, die Machtverhältnisse und einseitige Abhängigkeiten zementieren (…) und wenn bestimmte Personengruppen durch Machtstrukturen besonders benachteiligt werden und es ihnen schwer gemacht wird, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.“ In modernen, komplexen Gesellschaften hängen wir alle voneinander ab, sodass die Vorstellung, das freie Individuum sei ein asoziales Atom, einfach absurd sei, schreibt Herzog in ihrem „Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus“ („Freiheit gehört nicht nur den Reichen“, C.H. Beck, 2013).
Das Verhältnis von Staat und großen Unternehmen sollte symbiotisch sein, wird aber zunehmend parasitär. Apple, aber auch große Pharmakonzerne und andere Technikriesen verwandeln Forschung und technologische Innovationen, die mit Steuergeld vorangetrieben wurden, in private Gewinne, erzählen denselben Steuerzahlern aber dann, „Innovation und Wirtschaftswachstum seien dem Genie Einzelner zu verdanken“ (Mazzucato) und organisieren ihre globale Produktion dann so, dass ihre Gewinne nur mehr in Steuerparadiesen anfallen. Gerade das Verschweigen der wirklichen Innovationsgeschichte, so Mazzucato, half dabei, „dem Staat, der mit seinem Geld ganz wesentlich zum Erfolg beitrug, einen Teil seiner Gewinne vorzuenthalten“.
„In einer modernen Welt, das hat schon Polanyi gezeigt, ist das Konzept eines ‚freien‘ Marktes das Konstrukt der ökonomischen Theorie, nicht einer empirischen Beobachtung“, schreibt Mariana Mazzucato folgerichtig in dem jüngst von ihr herausgegebenen Sammelband „Rethinking Capitalism“. In dieser Studiensammlung, die wichtige Teilaspekte einer neuen Wirtschaftstheorie ausformuliert, systematisiert Mazzucato ihre Kritik an den falschen Auffassungen gängiger Wirtschaftstheorie weiter – und macht damit ihre Einwände noch klarer.

Die heutige wirtschaftspolitische Debatte kennt, so beginnt Mazzucato ihre Argumentation, im Grunde zwei Stränge: einerseits das wirtschaftsliberale Postulat, dass Märkte, lasse man sie nur wirken, ohne ihnen ins Zeug zu pfuschen, schon optimale Ergebnisse produzieren würden. Andererseits die post- oder quasikeynesianische Auffassung, dass Märkte auch immer von einem „Marktversagen“ bedroht sind, sodass der Staat gewissermaßen als Helfer in der Not immer parat stehen muss – etwa, um Marktversagen zu korrigieren und um Krisen, die aus dem Marktversagen resultieren, zu überwinden.
Aber letztlich seien das nur zwei Spielarten einer fragwürdigen Orthodoxie. „Die Probleme sind aber nicht das Ergebnis von Fehlentwicklungen von Märkten, die ‚normalerweise‘ ordentlich funktionieren, sondern resultieren aus fundamentalen Charakteristika und Strukturen (des Kapitalismus). Um zu verstehen, wie sie arbeiten, und um zu erklären, welche Rolle Politik spielen kann, damit diese Strukturen bessere Ergebnisse zeitigen, braucht man einen viel umfassenderen Zugang.“
Der Staat ist nicht nur dafür da, Märkte zu regulieren, wenn sie versagen, oder den Schutt wegzuräumen, wenn es mal wieder zu einer ökonomischen Havarie gekommen ist. Märkte in dem romantischen Sinn, wie sich die orthodoxe Wirtschaftstheorie das vorstellt, gibt es gar nicht – denn sie sind immer schon Produkt staatlichen Handelns. „Die Rolle des Staates kann sich nicht darauf beschränken“, schreibt Mazzucato, „im Falle von Marktversagen zur Reparatur anzutreten. Er muss vielmehr auf aktive Weise Märkte strukturieren und erst herstellen, damit sie nachhaltige und inklusive Formen ökonomischen Wachstums hinkriegen.“
Märkte sollte man also besser nicht als etwas verstehen, was irgendwie jenseits des Staates existiert, sondern „als Resultate der Interaktion verschiedener ökonomischer Akteure und Institutionen, sowohl privater als auch staatlicher“.
Kurzum: Märkte entstehen ja nicht aus sich heraus. Der „Markt“ für Internet- und Telekommunikation, um bei Mazzucatos berühmtesten Exempel zu bleiben, wurde von Staaten ja erst durch eine Reihe von Politiken hergestellt. Von der Ausbildung von Technikern über Finanzierung von Forschung und Entwicklung, über die Investition in die verschiedensten verbundenen Technologien vom Touch-Screen bis zum Breitbandnetz haben öffentliche Institutionen ja erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass diese „Märkte“ entstehen konnten. Und es ist auch mehr als nur ein bloßes Ineinanderwirken von öffentlichen und privaten Akteuren: Die Staaten hätten ja auch die Großinvestitionen in andere Technologien lenken können, dann gäbe es jetzt womöglich „Märkte“ in Branchen, die es heute eben nicht gibt. All das ist schon die Folge von staatlicher Prioritätensetzung.

„Es ist also keineswegs so“, schreibt Mazzucato, „dass der private Sektor ‚Wachstum produziert‘, während der öffentliche Sektor via Steuern den Wohlstand nur ‚konsumiert‘. Der Staat reguliert auch nicht einfach nur die Wirtschaft. Vielmehr ist das ökonomische Output einer Volkswirtschaft durch die Interaktion von öffentlichen und privaten Akteuren koproduziert.“
Sowohl das Konzept des „Unternehmers“ als auch das der „Märkte“ ist so gesehen ziemlich fragwürdig. Oder anders gesagt: Der Kapitalismus ist, wie eh und je schon, eine kollektive, gesellschaftliche Unternehmung. Aber das wusste schon Karl Marx, der vom „gesellschaftlichen Charakter der kapitalistischen Produktion“ sprach.

Robert Misik in FALTER 3/2017 vom 20.01.2017 (S. 49)

Posted by Wilfried Allé Thursday, November 22, 2018 6:43:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus 

Shoshana Zuboff rechnet mit Big Other ab, dem neoabsolutistischen Regime von Google & Co

Big Brother schaut dir zu. Und nicht nur das – längst bedrohen neue Methoden der Verhaltensauswertung und -manipulation unsere Freiheit. In ihrem neuen Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ wirft die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff einen kritischen Blick auf die neuen Märkte, auf denen Menschen nur noch Quelle eines kostenlosen Rohstoffs sind: LieferantInnen von Daten. Kann die Politik die wachsende Macht der High-Tech-Giganten zügeln und neue Formen sozialer Ungleichheit minimieren – oder ist Widerstand ohnehin zwecklos?

Übersetzung: Bernhard Schmid
Verlag: Campus
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 727 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.10.2018
Preis: € 30,80

 

Was ist Überwachungskapitalismus?

 

Rezension aus FALTER 41/2018

Die Hunde der Dreistigkeit
Wirtschaft: Shoshana Zuboff rechnet mit Big Other ab, dem neoabsolutistischen Regime von Google & Co

Dieses Buch ist ein Hammer. Nicht nur, weil es mehr als 700 mit nicht eben riesigen Lettern bedruckte Seiten umfasst und satte 1,2 Kilogramm wiegt. Nicht nur, weil die deutsche Fassung ungewöhnlicherweise vor der englischen erscheint (der Verlag war schneller in der Produktion). Nein, dieses Buch ist ein Hammer, weil es unser Zeitalter auf einen Begriff bringt: Wir leben im Überwachungskapitalismus. Hier wird dieser Begriff in so vielen Facetten ausgeleuchtet wie in keinem anderen mir bekannten Werk zum Thema.

Shoshana Zuboff, eine emeritierte Ökonomieprofessorin, war an der Harvard Business School eine der ersten ordentlichen Professorinnen. Zuboff sprach als Erste von „Dark Google“ und brachte das Internet in Zusammenhang mit einem neoabsolutistischen Regime. Auch den Begriff Überwachungskapitalismus (Surveillance Capitalism) hat Zuboff geprägt. Der Überwachungskapitalismus durchdringt alle Lebensbereiche und stülpt sie um. Er fegt alle Beziehungen in einer Weise hinweg, wie es Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ für den Kapitalismus beschrieben haben. Nur, dass kein Gespenst umgeht, das gegen diese Umwälzung aufsteht.

„Digitalisiert euch!“, lautet vielmehr der Schlachtruf der Konformisten aller politischen Lager, und wer vor den totalitären Aspekten der Digitalisierung warnte, wurde gern ins Lager der Rückschrittler gestellt und als Reaktionär und Maschinenstürmer angeprangert. Zuboff ist diesbezüglich nicht zimperlich. Dass die Herschaft der Digitalkonzerne eine Form totalitärer Herrschaft darstellt oder sie zumindest herbeiführen will, darüber besteht für die Autorin kein Zweifel. Statt in der Dystopie des Big Brother leben wir in jener des Big Other, sagt sie.

Was ist das, Big Other? Zuboff: „Ich verstehe darunter die wahrnehmungsfähige, rechnergestützte und vernetzte Marionette, die das menschliche Verhalten rendert, überwacht, berechnet und modifiziert.“ „Rendert“ wäre mit „vorgibt“ besser übersetzt. Aber man versteht die saftige Diagnose. Das Regime der digitalen Konzerne läuft hinaus auf eine neue „kollektive Ordnung auf Basis totaler Gewissheit, auf die Enteignung kritischer Menschenrechte, die am besten als Putsch von oben zu verstehen ist – als Sturz der Volkssouveränität“.

Wie konnte es so weit kommen? Zuboffs Buch schlägt einen großen Bogen von den Bedingungen der Digitalisierung zu deren Wirkungen. Die Bedingungen schuf die zweite Moderne. Das ist jener Zustand, in dem der Einzelne nicht mehr von Fabrik und Familie geprägt wird wie in der ersten Moderne, sondern von einer durch und durch individualisierten Gesellschaft mit starkem Selbstwertgefühl und starkem Bedürfnis nach Selbstbestimmung; ihr entspricht die frühe Apple-Phase und der Beginn von Social Media. Genau diese Bedürfnisse werden allerdings im neoliberalen Regime frustriert, sagt Zuboff. Auf der Suche nach Ausweg und Hilfe flohen wir ins Internet, wo wir in die Hände von Leuten fielen, die man im Amerika des späten 19. Jahrhunderts Räuberbarone nannte und deren Konzerne man zerschlug.

Diese digitalen Raubritter haben, unbesorgt um Gesetz und moralische Grenzen, Rechte und intime Schranken überschritten und sind so weit in unser Leben eingedrungen, dass sie nicht nur mit unseren intimsten Regungen Geschäfte machen, dass sie nicht nur voraussagen, was wir tun und denken werden, sondern dass sie auch daran gehen, es uns vorzuschreiben. Der Gedanke, uns zu beherrschen, folgt dabei nur dem kommerziellen Imperativ, den Gewinn zu maximieren. Willkommen in der dritten Moderne!

Zuboff beschreibt eine neue Conditio humana, in der wir begeistert dabei mitarbeiten, unsere eigene Würde aufzugeben. Der neue, sanfte Totalitarismus operiert nicht durch Zwang, sondern durch die Verführung technischer Machbarkeit. Es ist ein Totalitarismus der Instrumentalisierung. Er heißt so, weil er unser Verhalten modifiziert. Zuboff zeigt, wie der Behaviorismus ihres Harvard-Kollegen Bernhard F. Skinner, also die Utopie der kompletten Verhaltenssteuerung des Menschen, mit der neoklassischen Idee des Homo oeconomicus zusammenfällt, der angeblich alles rational entscheidet. Die beiden vereinen sich im Algorithmus, der das Verhalten des Menschen rational vorausberechnet und ökonomisch perfekt ausbeutet.

Wir sind nicht das Produkt, sagt Zuboff, wir sind der Kadaver des Produkts, wir sind das, was übrig ist, nachdem man uns ausgeweidet hat. Wir sind nicht das Produkt, wir sind Rohstoff, den man erntet. Wir sind wie Getreide auf dem Feld. Was derart poetisch klingt und sparsam und schön durch Gedichte von W.H. Auden kontrastriert wird, zeichnet Zuboff faktenreich und in originellen Befunden nach. Was Google an Werbekunden verkauft, sind „Derivate von Verhaltensüberschuss“. Apples i-Tunes war ein Big Hack, Google Maps und Google Glass waren „losgelassene Hunde der Dreistigkeit“ und so weiter. Das alles ist materialreich zusammengefasst und glänzend analysiert.

Müssen wir die Hoffnung aufgeben? Nein, wie die Autorin müssen wir uns über den Missbrauch der besseren Möglichkeiten der Digitalisierung empören. Zuboff zitiert den Aufklärer Thomas Paine, der sagte, die Lust einer Generation, Sklaven zu sein, mindere nicht das Recht einer kommenden Generation auf Freiheit. Dieses Buch macht
Lust, am Ende hinzuschreiben: Im Übrigen bin ich der Meinung, die Big Five müssen zerschlagen werden. Aber das ist nicht die Lösung, sagt Zuboff. Wir müssen das Prinzip verstehen, um ihm zu widerstehen.

Armin Thurnher in FALTER 41/2018 vom 12.10.2018 (S. 35)

Posted by Wilfried Allé Tuesday, October 30, 2018 10:04:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Für einen linken Populismus 

von Mouffe, Chantal

Kann es das geben, einen guten, linken Populismus? Chantal Mouffe vertritt die Auf­fas­sung, dass dies mög­lich und sogar not­wen­dig ist – eine Po­si­tion, die ihr auch Kri­tik ein­ge­tra­gen hat. Führt das nicht zu einer ge­fähr­lichen Emo­ti­ona­li­sierung? Läuft das nicht eben­falls auf eine Unter­schei­dung zwi­schen gutem Volk und bösem Es­ta­b­lish­ment hi­n­­aus? Po­li­tik, so Mouffe, funk­tio­niere nun ein­mal über kon­fron­ta­tive Wir/sie-Kon­struk­tionen; und ja, es gebe eine Art »Oli­gar­chie«, die eine Ver­wirk­lichung demo­kra­ti­scher und öko­lo­gischer Ziele ver­hin­dere. Dies mache klare po­li­ti­sche Alter­na­tiven und neue pro­gres­sive Alli­an­zen er­for­der­lich. Eine so prä­zi­se wie pro­vo­kan­te In­ter­ven­tion, die an­ge­sichts der Krise so­zial­li­beraler Par­teien und der De­bat­te um »Iden­ti­täts­po­li­tik« für Ge­sprächs­stoff sor­gen wird.

Übersetzung: Richard Barth
Verlag: Suhrkamp
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Taschenbuch: 111 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.09.2018
Preis: € 14,40
Erhältlich auch als eBook

Rezension aus FALTER 43/2018

Gegen die Lauheit der Mitte: Her mit dem Feindbild!

Sozialdemokraten aufgepasst: Die Theoretikerin Chantal Mouffe legt ein leserfreundliches Plädoyer für einen linken Populismus vor

Es geschehen Wunder. Chantal Mouffe hat ein lesbares Buch geschrieben. Die 75-jährige Belgierin wurde durch die gemeinsam mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann Ernesto Laclau verfassten Bücher bekannt, in denen sie jargonreich Marxismus mit Ideen von Antonio Gramsci und Jacques Lacan verknüpfte. Linkspopulisten in Lateinamerika oder Spanien beriefen sich auf Mouffe und Laclau, ohne dass deren Dekonstruktionen und Diskursanalysen eine breitere Leserschaft erreicht hätten.

Nun legt Mouffe eine Schrift vor, deren Argumente erstaunlich stringent sind. „Für einen linken Populismus“ ist das gelassene Ergebnis einer 50-jährigen Forschungsarbeit und liefert Zunder für das politische Thema der Gegenwart: Wie lässt sich ein linkes Programm nach dem Ende der Arbeiterklasse formulieren?

Wir gegen die Oligarchen

Mit dem Begriff des Populismus greift Mouffe ein heißes Eisen an, denn der Begriff steht für Radikalisierung und Antipluralismus. Das Schlagwort ließe sich für eine Erneuerung der Demokratie stark machen, argumentiert Mouffe. Die sozialdemokratisch sedierte Mitte der Gesellschaft soll durch Streit („Agonismus“) aus dem Dämmerschlaf gerissen werden, mehr noch: Im Sinne des rechten Vordenkers Carl Schmitt muss ein Feind her. Er heißt neoliberale Oligarchie.

Mouffe spricht von der Krise der Finanzmärkte, die ein populistisches Moment eröffne. Ein aus dem Ruder gelaufener Ökonomismus biete sich als jenes Feindbild an, das ein Gemeinschaft stiftendes „Wir“ ermögliche. Mouffes Analyse fasst scharfsinnig die Alternative zusammen. Entweder „das Volk“ (ein ebenfalls heikler Begriff) bekommt ein Angebot, das die Hegemonie der Oligarchen beendet, oder es läuft zu jenen über, die – wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro – die Demokratie von rechts bekämpfen.

Von Thatcher lernen

Dabei betont Mouffe den Wert der Emotionen und der Moral, die vom Marxismus stets als Verblendung der wahren Klassenverhältnisse abgetan wurden. Mouffe empfiehlt den linken Strategen, die Werkzeugkiste der Rechtspopulisten zu plündern und Begriffe wie Heimat und Nation zu entwenden. Das Kapitel „Vom Thatcherismus lernen“, ebenfalls ein Konzentrat älterer Publikationen, verneigt sich vor der Staatskunst der Eisernen Lady, die es schaffte, einen Keil zwischen Gewerkschaften und den kleinen Mann zu treiben und damit den Siegeszug des Neoliberalismus zu ermöglichen.

Anders etwa als Sahra Wagenknecht in Deutschland spielt Mouffe den Sozialismus nicht gegen linke Identitätspolitik aus. Um die Gesellschaft wieder gleicher und gerechter zu machen, sei eine „Äquivalenzkette“ notwendig, die Forderungen der Arbeiter und Einwanderer mit den Anliegen der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht und der LGBT-Community verknüpft. „Das Ziel einer solchen Kette ist die Errichtung einer neuen Hegemonie, die die Radikalisierung der Demokratie ermöglichen wird“, schreibt Mouffe.

Wie sich dieses politische Subjekt konstituieren soll, bleibt unklar. Etwas vage spricht Mouffe von neuen Organisationsformen, wie sie etwa von der Podemos-Bewegung in Spanien entwickelt wurden. Der Umweltschutz ist ein Thema, das eine „populistische Anrufung“ ermöglichen könnte. Mouffe führt diesen Ansatz nicht weiter aus, aber die Botschaft ist klar: Wenn der Planet den Bach runtergeht, finden Antikapitalisten, queere Aktivistinnen und besorgte Kleinbürger zueinander. Mit Spannung wartet man auf Mouffes großen Wurf zur Ökokratie.

Matthias Dusini in FALTER 43/2018 vom 26.10.2018 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 24, 2018 12:01:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Jacobin 

Die Anthologie

von Loren Balhorn, Bhaskar Sunkara, Stefan Gebauer

Aus dem Buch

»Eine Gewissheit haben wir: Der Kapitalismus wird enden. Vielleicht nicht in naher Zukunft, aber über kurz oder lang. Die Frage lautet also, was als Nächstes kommen wird.«

Pressestimmen

»Eine erste Bilanz von fast zehn Jahren Jacobin zieht die nun erschienene, gleichnamige Anthologie, die als schöner Sonderdruck in der edition suhrkamp vorliegt. Sie lädt zum Vertiefen ein in Themen wie Identitätspolitik, Marx, aber als Zombie gedacht, Donald Trumps Weg zur Macht und Bernie Sanders' Sicht auf den demokratischen Sozialismus.«
Fabian Thomas, The Daily Frown

Übersetzung: Stefan Gebauer
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 311 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.09.2018
Preis: € 18,50
E-Book: € 18,00

 

»Ein Licht in dunklen Zeiten.« Noam Chomsky
Enthält ein Interview mit Bernie Sanders!
Seit 2010 mischt Jacobin als Sprachrohr der neuen amerikanischen Linken die intellektuelle Szene in den USA auf. In dem Magazin treten junge Autorinnen und Autoren offen für den Sozialismus ein, und das im Land des Hyperkapitalismus. Mit polemischen Artikeln entwickelte sich Jacobin schnell zu einem einflussreichen Ideengeber für Occupy Wall Street und die Bewegung um Bernie Sanders. Inzwischen erscheint die Zeitschrift in einer Auflage von 30.000 Exemplaren, online erreicht sie jeden Monat rund eine Million Leser.
Dieser Band versammelt erstmals eine Auswahl von Beiträgen auf Deutsch. In den Texten zur Identitätspolitik und zu Black Lives Matter, zum Stand des Kapitalismus und der Kapitalismuskritik sowie zum »Zombie-Marxismus« und dem Aufstieg Donald Trumps zeichnen sich die Konturen eines politischen Programms ab, das fraglos auch hierzulande die Diskussionen um eine strategische Neuausrichtung der Linken befruchten wird.
Loren Balhorn, geboren 1987, ist Chefredakteur des Online-Magazins Ada und Redakteur bei Jacobin. Zudem arbeitet er als Lektor und Übersetzer. Er lebt in Berlin. Bhaskar Sunkara, geboren 1989, ist der Gründer und Herausgeber von Jacobin und Catalyst: A Journal of Theory and Strategy. Daneben schreibt er regelmäßig für amerikanische Zeitungen und Magazine wie The New York Times, Washington Post und The Nation. Er lebt in New York.

Posted by Wilfried Allé Saturday, September 22, 2018 10:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Arbeit ist unsichtbar 

Die bisher nicht erzählte Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Arbeit

von Christine Schörkhuber, Harald Welzer, Robert Misik

Verlag: Picus Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 240 Seiten
Erscheinungsdatum: 02.05.2018
Preis: € 24,00

 

 


Rezension aus FALTER 31/2018

Ich arbeite, du arbeitest, wir arbeiten – aber wofür?

Die Regierung will flexiblere Arbeitszeiten. Der Sammelband Arbeit ist unsichtbar erzählt von Arbeit als Sinnstifterin und Machtinstrument

Wer es noch nicht ins Museum Arbeitswelt in Steyr zur Ausstellung „Arbeit ist unsichtbar“ geschafft hat und es auch bis zum 23. September nicht schaffen wird, dem kann geholfen werden. Es gibt jetzt nämlich einen lesenswerten Sammelband zur Ausstellung. Er versammelt Teile der Ausstellung zum Nachlesen, literarische und journalistische Texte zum Thema Arbeit, Fotos, Reportagen, Interviews und ergibt in Summe einen umfassenden „Reader“, also einen Leseband, zum großen Thema Arbeit. „Wem gehört die Zeit?“, fragen die Autoren etwa im Kapitel „Arbeitszeit“ und erzählen eine kleine Geschichte der Vertaktung des Arbeitslebens, die jetzt von der türkis-blauen Regierung gerade weitergetrieben wird in Richtung Zwölfstundentag und 60-Stunden-Arbeitswoche. Für die einen ist das Befreiung und Flexibilisierung, für die anderen Auspressen und Unterdrückung.

Autonomie und Zwang sind die beiden Pole, zwischen denen das Thema Arbeitszeit seit Beginn der industriellen Lohnarbeit verhandelt wurde. „Gut Ding braucht Weile“ wird ersetzt durch „Zeit ist Geld“. Noch 1879 gibt es in der Monarchie keine gesetzlich geregelte Arbeitszeit, aber auch keine staatliche Kranken- und Unfallversicherung. Die „Dressierung“ der Arbeiterinnen und Arbeiter, das Arbeiten zur gleichen Zeit an einem Ort, gibt auch die Möglichkeit, sich abzusprechen, gemeinsam für mehr Rechte zu kämpfen.

Wie so oft in der Moderne herrscht Ambivalenz. Ja, die Industrialisierung führt zu Arbeits- und Zeitdruck, und ja, gleichzeitig entsteht dadurch die moderne Arbeiterbewegung, es wird protestiert und gestreikt. Für die aktuelle politische Debatte heißt das natürlich auch: Beim Thema Arbeitszeiten geht es nicht nur um die individuellen neuen, vielleicht für manche opportunen Spielräume, es geht auch um eine weitere Entsolidarisierung der Arbeitenden. Wer Homeoffice macht, seine Kollegen nur vom Grüßen kennt, entsolidarisiert sich unweigerlich.

„Startupstory“ nennt der Autor Andreas Baumgartner seinen Kurzbeitrag für den Sammelband, in dem er von seinen zweieinhalb Jahren bei einem Start-up-Unternehmen erzählt. Zuerst läuft alles toll, er arbeitet immer mehr, mit mehr Verantwortung, 60 Stunden in der Woche, trotzdem noch auf Werkvertrag. Dann geht alles sehr schnell und er steht wieder auf der Straße. „Scheitern ohne Netz und mit viel Aufwand“ sei das gewesen.

Viele solche spannenden Blitzlichter auf die herrschende Arbeitswelt finden sich im Sammelband. Robert Misik beschreibt etwa eine „Anti-Machismo“-Initiative auf Shell-Ölplattformen, die dazu führte, dass Arbeitsunfälle um 84 Prozent zurückgingen, weil die Männer lernten, über ihre Emotionen zu sprechen und Ängste zuzulassen.

Die Politologen und Soziologen Ullrich Brand und Markus Wissen gehen der Frage „Wie viele Sklaven halten Sie?“ nach. „Imperiale Lebensweisen“ seien der Alltag in den Zentren des globalen Kapitalismus eigentlich, auch wenn es uns nicht immer bewusst ist. Bei allem, was wir konsumieren, greifen wir auf die billigen Arbeitskräfte und Ressourcen von „anderswo“ zurück, von der polnischen Haushalthilfe über den libanesischen Uber-Fahrer bis zur Sweat-Shop-Näherin in Bangladesch, die die Zara-Tunika bestickt.

Was würden Sie tun, wenn sie 1000 Euro Grundeinkommen bekämen, fragten die Autoren Passanten in St. Pölten. „Ich würde dann mehr Geld kriegen für dieselbe Arbeit, weil ein großer Anteil der Arbeit, die ich sowieso mache, Kinder, Familie, Vereine, abgegolten wäre. Fände ich sehr erfreulich.“

Barbaba Tóth in FALTER 31/2018 vom 03.08.2018 (S. 17)

Posted by Wilfried Allé Monday, August 6, 2018 11:28:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Das terrestrische Manifest 

Eine Serie politischer Unwetter hat die Welt durcheinandergebracht. Die Instrumente, mit denen wir uns früher orientierten, funktionieren nicht mehr. Verstanden wir Politik lange als einen Zeitstrahl, der von einer lokalen Vergangenheit in eine globale Zukunft führen würde, realisieren wir nun, dass der Globus für unsere Globalisierungspläne zu klein ist. Der Weg in eine behütetere Vergangenheit erweist sich ebenfalls als Fiktion. Wir hängen in der Luft, der jähe Absturz droht.
In dieser brisanten Situation gilt es zuallererst, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und sich dann neu zu orientieren. Bruno Latour unternimmt den Versuch, die Landschaft des Politischen neu zu vermessen und unsere politischen Leidenschaften auf neue Gegenstände auszurichten. Jenseits überkommener Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär plädiert er für eine radikal materialistische Politik, die nicht nur den Produktionsprozess einbezieht, sondern auch die ökologischen Bedingungen unserer Existenz. Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie, von 1982 bis 2006 Professor am Centre de l'Innovation an der Ecole nationale supérieure de mine in Paris. Gastprofessor an der University of California San Diego, der London School of Economics und am historischen Seminar der Harvard University. Seit Juni 2007 ist Bruno Latour Professor am Sciences Politiques Paris und dem Centre de Sociologie des Organisations (CSO). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2013 den Holberg- Preis.

Übersetzung: Bernd Schwibs
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 136 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.04.2018
Preis: € 14,40
Eine Rezension von Elisabeth von Thadden

27. Juni 2018 DIE ZEIT Nr. 27/2018, 28. Juni 2018

Der Platz wird eng. Eine gemeinsame Welt, die sich unter allen teilen ließe, gibt es nicht mehr, denn die alte Erde ist zu klein, sie wird durch die Erwärmung vielerorts unbewohnbar. Boden, auf dem sich wirtschaften lässt, ist knapp, das handelsübliche Wachstum ist ökologisch mörderisch, und an wandernden Menschen, die Heimat suchen, herrscht Überfluss. Mit wenigen stilistischen Handgriffen schiebt so der Pariser Starintellektuelle Bruno Latour in seinem jüngsten Buch Das terrestrische Manifest drei Kontinente des Politischen aneinander: Klima, Ungleichheit, Migration. Latour plakatiert eine verbindende, kraftvolle Großthese: Wer unter den Reichen die klimatisch bedingte Knappheit einmal begriffen hat, schweigt vom Klimawandel fortan fein still, steigt dafür zügig aus der Solidarität mit den anderen Weltbewohnern aus und zieht die Mauern des Nationalstaates hoch – um offshore zu gedeihen, das Eigene zu schützen, die Menschen wie ihren unverhandelbaren Lebensstil. Genau dieses Programm, sagt Latour, führen die Eliten im Zeitalter Trumps gerade durch: Der Klimawandel ist nicht von ihrer Welt, sie bewohnen lieber ungestört eine andere, imaginäre, mit Klimaanlage, und die hat nun für Fremde geschlossen. Latour hält diesem Wahn hart entgegen: Heimatlose sind wir auf einem toten Planeten doch alle. Es komme darauf an, sich als Bürger neu zu erden. Sich an einen Boden zu binden, der sich uns unter den Füßen entziehen will, und durch diese Bindung "welthaft" zu werden.

Damit wäre man bereits im Reich der Latourschen Sprachschöpfungen angekommen, die seine Kritiker seit Langem mit Kopfschütteln quittieren: Was soll das sein, Boden, geht es um Überweidung, Abholzung, Brachen? Was ist dann mit "welthaft" gemeint? Geht es auch etwas weniger verschwörungsmetaphorisch? Und: Es sind doch die Eliten gewesen, die vom Pariser Klimavertrag über die energiepolitischen EU-Normen bis zu den Sustainable Development Goals der UN in den vergangenen Jahren die Standards für die Staaten der Welt zur Unterschriftsreife geformt haben, an die sich nun kaum einer hält. Warum bedauert Latour das arme Volk, das von seinen Eliten genarrt werde? Es waren europäische Gesellschaften, die seit den Achtzigerjahren ihre Eliten zum klimapolitischen Handeln gedrängt haben. Einwände ohne Ende also.

Aber Latour ist nicht zuletzt ein brillanter Ironiker, er spricht in seiner dialogisch arabesken Prosa mit aller Kraft auch gegen sich selbst: gegen die eigenen unbeweisbaren Hypothesen, gegen seine so haarspalterische wie eigenmächtige Sprache, er weiß, dass er methodisch auf Autopilot fährt. Doch als ein entschiedener Europäer hält er das Regelwerk in Ehren, das in Brüssel entstand, und zugleich tritt dieser klassisch subsidiär denkende Kosmopolit aus der Provinz der französischen Winzer mit dem neuen antifatalistischen Paris-Faktor auf: Bruno Latour weiß, dass seine Stimme bei vielen Gehör findet, weil er es für unanständig hält, sich im Fatalismus zu baden. Er weiß, dass er Fragen stellt, die sonst kaum als öffentlich verhandelbar gelten: "Woran hängen Sie am meisten? Mit wem können Sie leben? Wessen Überleben hängt von Ihnen ab? Gegen wen werden Sie kämpfen müssen? Wie lässt sich all das in eine Reihenfolge der Prioritäten bringen?" Latour nimmt die durchschnittliche europäische Gewöhnungsnormalität angesichts des Klimawandels nicht hin. Er will die Schockstarre lösen: Gesucht wird die Erde, auf der Menschen sich erden können. Gesucht wird: Politik.

Posted by Wilfried Allé Sunday, July 29, 2018 5:40:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Radikale Alternativen 

Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann

von Alberto Acosta, Ulrich Brand, Stephan Lessenich

Übersetzung: Nadine Lipp
Verlag: oekom verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 192 Seiten
Preis: € 16,50
Erscheinungsdatum: 19.03.2018
Rezension aus FALTER 18/2018

„Van der Bellen tut nichts“

Politikprofessor Ulrich Brand über eine Alternative zum Kapita­lismus, die Macht der Provo­kation und fette Autos

Ulrich Brand schrieb vergangenes Jahr mit der Kapita­lismus­kri­tik „Imperiale Lebens­weise“ einen Best­seller. Nun legt der Poli­tik­pro­fes­sor ge­mein­­sam mit dem ecuadorianischen Volks­wirt und ehe­mali­gen Ener­gie­mi­nis­ter Alberto Acosta sein neues Buch „Radikale Alter­nativen“ vor, in dem er Wege aus der Kapi­ta­lis­mus­krise auf­zeigt. Ein Ge­spräch über die ver­heerende De­re­gu­lierungs­poli­tik der türkis-blauen Re­gie­rung, Pro­test mit ab­ge­bro­chenen Mer­cedes-Ster­nen und das gute Leben.

Falter: Herr Professor Brand, eine Ihrer radikalen Alter­na­tiven zur zer­störe­rischen Wachs­tums­logik des Kapi­ta­lis­mus heißt „Degrowth“. Was heißt das?
Ulrich Brand: Der Begriff wird vor allem in sozial radi­kalen Be­we­gungen und der kri­ti­schen Wis­sen­schaft ver­wendet. Die Aus­rich­tung lau­tet: Die Gesell­schaft und Wirt­schaft müs­sen so or­ga­ni­siert wer­den, dass sie nicht mehr den kapi­ta­lis­tischen Wachs­tums­zwängen unter­liegen. Es ist ein An­griff auf jene, die vom kapi­ta­lis­tischen Wachs­tums­impe­ra­tiv be­son­ders profi­tieren.

Kann man mit so einem unsexy Begriff die Menschen überhaupt für sich gewinnen?
Brand: Nein, wenn von „Degrowth“ oder „Postwachstum“ ge­spro­chen wird, dann ge­hen bei vie­len die Ohren zu. Da denkt je­der an Ver­zicht. Es geht eher darum: Wir müs­sen die Ge­sell­schaft so­zial und öko­lo­gisch um­bauen und brau­chen ein ande­res Wohl­stands­modell. Das hört sich ganz an­ders an. Da­zu kommt die For­de­rung: Ein gutes Leben für alle.

Was wäre dieses gute Leben?
Brand: Wir haben heute zum Beispiel dieses wahnsinnige Fast Fashion, schneller Um­schlag im­mer neuer Klei­dung, im­mer der neueste Schrei. Degrowth würde heißen, dass wir weni­ger Kla­mot­ten haben. Man könnte das als Ver­zicht sehen, oder aber auch als Be­freiung von Über­fluss und Kon­sum­zwang. Man würde Schäd­li­ches ver­meiden und statt­des­sen Dinge tei­len. Das würde zu einem res­sour­cen­leichten Wohl­stand führen.

In China hat der Kapitalismus für sehr viele Menschen ein gutes Leben ge­bracht, er hat eine neue Mit­tel­schicht ge­schaffen.
Brand: In China gibt es eine unglaublich produktive Ent­wicklung für nicht so wenige – aber auch nicht für alle. Die Frage ist, ob wir es anders machen können. Marx hat die Dop­pel­seitig­keit des Kapi­ta­lis­mus ge­zeigt: Da ist diese enorme Pro­duk­ti­vi­tät des Kapi­ta­lis­mus und zu­gleich seine enor­me Des­truk­ti­vi­tät. Wenn wir heute nach China fah­ren, sind viele Land­striche ver­wüs­tet, die Luft in vie­len Städten ist ent­setz­lich. Denn Natur wird dort nur als aus­zu­beu­tende Res­source ge­sehen. Über den kapi­ta­lis­ti­schen Markt wird der Markt zu einem Zwang, in den im­mer mehr hinein­ge­zogen wird. Den kapi­ta­lis­ti­schen Welt­markt kann man nicht mehr steuern. Die Macht der trans­natio­nalen Unter­nehmen ist so stark, dass man kaum raus­kommt. Es fehlt ein inte­gra­ler öko­no­mi­scher An­satz, der nicht al­les aus­beutet, son­dern um­sich­tig steuert – eine nach­hal­tige Ent­wicklung oder Kreis­lauf­wirtschaft.

Was hindert uns daran auszusteigen?
Brand: Da kom­men viele Fak­toren zu­sammen. Das sieht man etwa an der span­nenden Frage in Öster­reich: Kom­men wir aus der öko­lo­gisch zer­stö­re­ri­schen Auto­mo­bi­li­tät und der Auto­mobil­indus­trie raus? Also kön­nen wir alter­na­tive Ver­kehrs­kon­zepte ent­wickeln, die drin­gend not­wen­dig sind – wir wis­sen schließ­lich, dass wir auf­grund der Klima­ziele von Paris de­kar­bo­ni­sie­ren müs­sen. Das Elektro­auto wird hier nicht rei­chen. Was uns da­ran hin­dert, sind die der­zei­tigen Struk­turen – an ihnen hän­gen Be­schäf­ti­gung, Infra­struk­tur, Unter­nehmens­pro­fite, so­wie die Legi­timi­tät von Poli­tik durch Wachs­tum. Aber auch die Raum­struk­turen, der im länd­lichen Raum un­zu­rei­chende öffent­liche Ver­kehr und die Wün­sche vie­ler Men­schen, die gerne im Auto sitzen. Der Kapi­ta­lis­mus hat also pro­duk­tive An­teile, aber er ver­selb­ststän­digt sich. Durch den Neo­libe­ra­lismus ist die Steue­rungs­fähig­keit, die es nach dem Zwei­ten Welt­krieg gab, noch ein­mal zu­rück­ge­nom­men worden. Frü­her konnte die Poli­tik in die Wirt­schaft ein­grei­fen und Regeln auf­stel­len, damit nicht alles mög­lich war. In Öster­reich gibt es das zum Teil noch. Aber wir sehen ge­rade bei dem ge­plan­ten Ver­fas­sungs­ge­setz zur Wett­bewerbs­fähig­keit und der Ent­schlackung von Ge­setzen, dass noch stär­ker de­regu­liert wer­den soll. Die türkis-blaue Re­gie­rung hat eine Dere­gu­lierungs­agenda. Dere­gu­lie­rung be­deutet oft, dass die Star­ken noch stär­ker werden.

Die Regierung will das Staatsziel „Wirtschaftsstandort“ in die Ver­fas­sung schrei­ben, damit um­welt­schäd­liche Pro­jekte wie die drit­te Piste am Wie­ner Flug­hafen problem­los ge­baut wer­den können. Gegen den Bau demons­trierten aller­dings bloß ein paar hundert Leute. Viel­leicht inter­es­siert das gar nie­manden.
Brand: Degrowth ist ein Minderheitenkonzept, und ein grund­legen­der sozial-öko­lo­gi­scher Um­bau wird heute eher von weni­gen aktiv ge­wollt. Im Gegen­satz zum Kon­zept der Nach­haltig­keit ist es eine Waffe, die nicht zu ver­ein­nahmen ist. Der Be­griff Degrowth ist eine radi­kale Pro­vo­ka­tion. Machen wir es an der drit­ten Piste fest. Da be­deu­tet Degrowth: Wir müs­sen raus aus den Nah­flügen, raus aus einer Logik, dass man schnell mal von Wien nach Berlin fliegt.

Die breite Masse will aber fliegen.
Brand: Ja, da bin ich nicht naiv. Aber die Kritik an der Gesell­schaft kam im­mer von den Rän­dern. Den­ken wir an Zwenten­dorf zurück. Die Men­schen, die ge­gen das Atom­kraft­werk Zwenten­dorf waren, sind an­fangs für ver­rückt er­klärt wor­den. Doch irgend­wann ist die Stim­mung ge­kippt. Und heute gibt es in Öster­reich einen to­ta­len Anti-Atom-Konsens. Das Inter­essante an der drit­ten Piste ist, dass jetzt Wis­sen­schaft­ler, Intellek­tuelle und so­ziale Bewe­gungen – so schwach sie viel­leicht heute noch sind – sagen: Wir müs­sen um­denken. Der Kon­flikt um die drit­te Piste ist hoch auf­ge­laden und re­prä­sen­ta­tiv für die Frage: Welches Ver­kehrs­sys­tem wol­len wir? Er kann da­zu führen, dass wir auf­hören, im­mer nur an Flug­mobi­li­tät zu den­ken, wenn wir in Europa von Mobi­li­tät sprechen. Wenn wir die Gesell­schaft ver­ändern wol­len, brau­chen wir die Provo­kation vom Rand, die guten und nach­ahm­baren Bei­spiele und eine De­batte über ein gu­tes Leben. Ich bin über­zeugt, dass es die­sen Stachel braucht, damit ein Um­denken und dann auch reale Ver­ände­rung ge­lingen.

Derzeit denken die meisten Österreicher in eine andere Richtung. In Salz­burg wurde die Klima­poli­ti­kerin Astrid Rössler nach einem Um­welt-Wahl­kampf ab­ge­wählt. In der Bundes­re­gierung sitzt wie­derum ein Vize­kanzler, der am Klima­wandel zwei­felt. Was kann man da noch tun, damit in der Klima­poli­tik etwas weitergeht?
Brand: Wir brauchen zunächst weitere Initiativen, die Poli­ti­ker da­für kri­ti­sieren, wenn sie den Klima­wandel leug­nen. Außer­dem sind die staat­lichen Appa­rate nicht homo­gen. Im Nach­haltig­keits­minis­terium gibt es eine un­glaub­liche Frus­tra­tion, wie es ak­tuell läuft. Nehmen wir ak­tuell die Klima- und Ener­gie­stra­te­gie: Die ist der­zeit wachs­weich, ohne Ziel­vor­gaben und Finan­zie­rung. Da gibt es auch Kri­tik aus dem Ap­parat. Wir müs­sen schauen, wo die Kräfte sind, die über­haupt etwas in eine sozial-öko­lo­gi­sche Rich­tung ver­ändern könnten und wol­len. Und wir müs­sen über­legen, wie wir sie stär­ken können. Ich kriti­siere des­halb Bundes­prä­si­dent Van der Bellen, weil er seine sym­bo­lische Funk­tion als grüner Bundes­präsi­dent über­haupt nicht wahr­nimmt, um im­mer wieder diesen Stachel zu setzen. Das könnte er. Wenn er auf­tritt, ist er in al­len Medien. Aber er tut nichts. Und wo sind die pro­gres­si­ven Unter­nehmer, die sich für die ÖBB ein­setzen und die Asfinag oder Niki Lauda zu­rück­drän­gen, dessen Flug­linie zu einem Preis­kon­kur­renz­kampf führt?

­ Selbst wenn ein Österreicher extrem ökologisch lebt, hat er noch immer einen größeren Fuß­abdruck als der Durch­schnitts­bürger eines Ent­wicklungs­landes – wir leben auto­ma­tisch über den Ver­hält­nis­sen der Erde. Wie weit muss Degrowth gehen?
Brand: Es geht zunächst ums Umkehren. Mit Karl Polanyi (Anm.: siehe Seite 20) ge­spro­chen: Wir müs­sen die gesell­schafts­poli­tische und intel­lek­tuelle Gegen­be­wegung ge­gen eine im­mer weiter selbst­ver­ständ­liche, igno­rante Natur­ver­nutzung und impe­riale Lebens­weise ein­leiten. Dann sind Lern­pro­zes­se mög­lich, die ich bei eini­gen meiner Stu­die­renden schon sehe: Die wol­len gar kein Auto mehr haben, einige so­gar nicht mehr flie­gen. Sie wol­len ein­fach und gut leben. Das wäre der Hori­zont: Ein wach­sender Teil der Gesell­schaft will diese andere Lebensweise.

Gleichzeitig ist jeder vierte Neuwagen in Österreich heute ein SUV. Was denken Sie sich, wenn Sie einen SUV sehen?
Brand: Für die Stadtentwicklung ist das dramatisch, weil ja immer mehr Platz in An­spruch ge­nommen wird, per­sön­lich fühle ich mich als Radler ge­fährdet. Ich habe mir vor kur­zem zum ersten Mal einen Helm ge­kauft, weil die Autos im­mer brei­ter werden. Als Jugend­licher hatte ich noch Mercedes-Sterne ab­ge­rissen, um gegen Autos zu pro­tes­tieren. Das geht heute nicht mehr. Auf der Ebene der Stadt­ent­wicklung wün­sche ich mir aber, dass es einen Un­mut gibt in Bezug auf SUVs. Die hin­dern auf­grund ihrer Breite im­mer wieder Straßen­bahnen am Weiter­fahren, die Leute müs­sen manch­mal sogar aus­steigen. Es könnte einen posi­ti­ven Kultur­kampf gegen SUVs geben: „Ihr, die ihr euch im­mer sicher be­wegen wollt, schränkt unsere Mobi­li­tät ein, weil ihr euch imm­er fet­ter auf die Bim-Gleise stellt.“ Könnte es nicht heute wieder ein Un­be­hagen in den Städten geben, das dann dazu führt, dass die Städte eigent­lich viel lebens­werter werden, weil es weniger Autos gibt?

Ist es legitim, für dieses Ziel Gewalt anzuwenden wie Mercedes-Sterne abzureißen oder flächendeckend „CO2“ in SUVs zu ritzen, damit weniger Leute SUVs kaufen?
Brand: Ich würde heute keine Mercedes-Sterne mehr abbrechen und auch in kein Auto ritzen. Das war in den 1990ern so eine Wut und ge­schah in einem kultu­rel­len Milieu in Frank­furt oder Berlin, in dem es viele ge­macht haben. Der Pro­test müsste sich in einer kul­tu­rellen Aus­ein­ander­set­zung äußern. Aber viel­leicht ist das Rein­rit­zen ein wüt­en­der Aus­druck von Un­be­hagen – eine be­wusste Sach­be­schä­digung. Eine Ab­wägung derer, die das machen, nach dem Motto: „Das, was ich an deiner Tür be­schä­dige, ist viel weniger, als du die Stadt, das Klima, die Zu­kunft und die Res­sour­cen be­schä­digst.“ Die Be­schä­di­gung könnte zur Dis­kus­sion füh­ren, wel­che Funk­tion SUVs heute in Städten ha­ben, wa­rum es diese ver­rückte Form von Status­konsum gibt. Da hät­ten wir den Stachel wieder. Der Stachel kommt über die Pro­vo­kation. Aber man muss jetzt nicht flächen­deckend SUVs beschädigen.

Die Provokation kommt heute nur von den Rechten, die damit die Themen bestimmen.
Brand: Ja, das ist heute so. Aber das war nicht immer so. Eine Provo­ka­tion kann dazu füh­ren, sich zu ver­stän­digen, was eine hohe Lebens­quali­tät und gute Lebens­weise für alle Men­schen ist. Nicht eine, die andere Men­schen aus­grenzt, die ab­wertet und auf deren Kosten ge­lebt wird. Man könnte so den Rech­ten viel­leicht sogar das Was­ser abgraben.

Benedikt Narodoslawsky in FALTER 18/2018 vom 04.05.2018 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Saturday, July 14, 2018 10:08:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Würde 

Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft

Verlag: Knaus
Preis: € 20,60
von: Gerald Hüther, Uli Hauser
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 192 Seiten
Erscheinungsdatum: 05.03.2018

Rezension aus FALTER 27/2018

Die Würde würdevoll wiederentdeckt

Würde – ein großes Wort scheint in Vergessenheit zu geraten. Der Hirnforscher Gerald Hüther beobachtet einen allgemeinen Verlust an Würde, der freie Menschen zu Getriebenen macht, die sich sodann als Objekte missbrauchen lassen. Was Würde für unsere Spezies bedeutet und wie sie sich wahren oder wiederherstellen lässt, erklärt er in einem schlanken Buch anhand konkreter Fragen.
Gut, dass sich ein Naturwissenschaftler des großen Themas angenommen hat! Denn es gerät schnell in Schieflage – in Richtung Moralin – und birgt gar Ratgeber-Risiko. Dieser Gefahr erliegt Hüther nicht. Er erklärt, wie unsere Vorstellung von Würde im Gehirn verankert ist. Dabei geht es einmal mehr um Neuroplastizität, die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich auch nach der Adoleszenz immer wieder neu zu verdrahten. Von diesem Fundament ausgehend kommt Hüther zu ethischen und psychologischen Fragen: Was ändert das Erkennen der eigenen Würde? Wie können wir einander helfen, uns unserer Würde bewusst zu werden?

Die vom Aussterben bedrohte Grundhaltung ist für Hüther vor allem auch ein gesellschaftliches Thema, von den Menschenrechten, die uns Würde als unantastbares Gut garantieren, bis zur alltäglichen Selbstbestätigung. „Ein Mensch, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, leidet nicht an einem Mangel an Bedeutsamkeit“, befindet er und definiert damit einen klaren Gegenpol zum grassierenden Narzissmus.
Neben Fachpublikationen hat der Autor bereits einen Bestseller vorgelegt: „Jedes Kind ist hochbegabt“ (Knaus, 2012). Bei diesem wie auch beim aktuellen Werk hat ihn Stern-Redakteur Uli Hauser unterstützt. Das macht die Sache flüssig lesbar, doch auch ein wenig glatt. Inhaltlich punktet das Buch mit Präzision und Offenheit.
Hüther seziert mit Sachlichkeit unser neurologisches und genetisches Fundament, erforscht mit Neugier, was Menschen antreibt, und leitet klar ab, was würdevolles Verhalten bedeutet. Dem Hirnforscher gelingt es, das heikle Thema Würde mit Würde zu behandeln.

Andreas Kremla in FALTER 27/2018 vom 06.07.2018 (S. 26)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, July 4, 2018 2:10:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Der Weg zur Prosperität 

Die gängige neoliberale Theorie ist falsch und schädlich.

von Stephan Schulmeister

"Am Ende einer Sackgasse muss man neue Wege suchen." Seit 45 Jahren nehmen Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und Armut zu. Der Sozialstaat wurde geschwächt, Millionen Menschen in Europa leiden Not. Immer mehr erhoffen sich soziale Wärme in der nationalen Volksgemeinschaft. Was hat die herrschende Wirtschaftstheorie damit zu tun? Weshalb vertiefen ihre Empfehlungen die Krise? Wie kommt man aus diesem Teufelskreis heraus? Und wie prägt eine Ideologie, nach der nur die Konkurrenz das ökonomisch Beste ermöglicht, unser Zusammenleben? Der Ökonom Stephan Schulmeister erklärt den "marktreligiösen" Charakter der neoliberalen Theorien und entwirft eine neue "Navigationskarte" für den Weg zur Prosperität in einem gemeinsamen Europa.

Verlag: Ecowin Verlag
Erscheinungsdatum: 24.05.2018
Preis: € 28,00
ISBN: 3711001483, 9783711001481
Länge: 480 Seiten
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Rezension aus FALTER 21/2018

Die Sprengkraft des langsamen Denkens

Die gängige neoliberale Theorie ist falsch und schädlich. Der Ökonom Stephan Schulmeister plädiert für eine moralisch orientierte Wissenschaft

Auf manche Menschen fällt der Lichtkegel des Erfolgs nicht. Sie meiden dieses Licht, weil ihnen bereits der Drang zu dieser Art von Licht suspekt erscheint. Solche Menschen prägen eine Epoche mehr als die meisten denken. Naturgemäß sind sie wenig bekannt, oder unter einem Etikett, das ihrem Wesen nicht entspricht. Die Wahrheit, hofft man, kommt schließlich doch ans Licht.
So ein Mensch ist der Ökonom Stephan Schulmeister. 71 Jahre alt, flott mit dem Motorrad unterwegs, einer Yamaha 500, aber ein Denker der langsamen und vorsichtigen Art. Ein Zweifler. Gern wird er als Querdenker präsentiert. Dabei scheint sein Denken nur kurios, weil er anders denkt als der Mainstream in Politik, Wissenschaft und Journalismus. Fast 40 Jahre hat es gebraucht, bis er seine Erkenntnisse in einem Buch niederlegte. Danach, sagt er, wird er keines mehr schreiben. Jedenfalls kein so fundamentales.
In seinem Buch „Der Weg zur Prosperität“ fasst Stephan Schulmeister seine Forschungen und Erkenntnisse der vergangenen vier Jahrzehnte zusammen und versucht, die einseitig von Ökonomen der neoliberalen, neoklassischen und Chicagoer Schule dominierte Weltsicht zu entzaubern. Diese Sicht ist falsch, schreibt er, mehr noch, sie ist verrückt, sie stürzt Millionen Menschen in die Krise, macht sie arm, und das alles nur, weil ein einziges Erkenntnissystem die Wissenschaft und damit die Politik beherrscht. Eines, das selbst blind ist für die Katastrophen, die es anrichtet.
Wer ist es, der da im Alleingang solche Beweise führt? Der als Einzelner antritt, eine seit fast fünf Jahrzehnten dominierende Denkschule zu stürzen, die heute das Denken von tausenden Universitätslehrern, Millionen Wirtschafstreibenden und vor allem der in der Politik maßgeblichen Personen beherrscht?

Es war einmal eine Zeit, da lief im ORF die Runde der Chefredakteure, und sie bedeutete noch etwas (1955 war es überhaupt die erste Sendung, die im Fernsehen on air ging). Großvater Schulmeister ging mit dem zwölfjährigen Stephan ins Kaffeehaus, denn zu Hause gab es Anfang der 1960er-Jahre keinen Fernseher, zum Fernsehen besuchte man das Casino Zögernitz. Dort sahen die beiden Stephans Vater zu, dem berühmten Otto, dem Chefredakteur der Presse, wie er mit Hugo Portisch (Kurier) und Franz Kreuzer (Arbeiter-Zeitung) diskutierte und nicht selten die Runde dominierte.
Stephan Schulmeister, kann man sagen, ist ein im besten Sinn Bürgerlicher, dem das Bürgertum abhanden kam. Klar war er stolz auf den Vater, sagt er. Bei Schulmeisters ging es großbürgerlich zu, wenn auch nicht immer friedvoll. Vater hielt intellektuell Hof, in seinem Haushalt war Österreich. Otto Mauer, den Domprediger zu St. Stephan, den legendären Galeriengründer und Freund zeitgenössischer Künstler, nennt der Sohn ironisch den „Hausdruiden“. Der junge Wolfgang Schüssel und der junge Heinz Fischer gastierten als hoffnungsvoller politischer Nachwuchs.
Die Familie traf sich vor allem sonntags beim Frühstück, Stephan, seine vier Geschwister und die Eltern. Mit deren Ehe stand es nicht zum Besten, aber der katholische Schein musste gewahrt bleiben; für die Kinder war das nicht leicht. Sonntags wurde mit Leidenschaft gestritten. Aus dieser Schule hat Schulmeister seine Wortgewalt; die Auseinandersetzungen zwischen seinem Vater und Otto Mauer, die oft in Schreiduelle ausuferten, waren lehrreich. Der Friede bekam Risse, als der junge Stephan merkte, dass sein autoritärer Vater eine Nazi-Vergangenheit hatte. Aber er brach nie mit ihm. Auch nicht, als er sich von seinen eigenen Plänen und seinem Weltbild verabschiedete: Politiker hatte er werden wollen, und katholisch war er.

In 1968er-Zeiten wurden viele Pläne geändert, viele Familienverhältnisse komplizierten sich. Die beiden älteren Geschwister waren gefestigt, verheiratet und steckten die Probleme im Haus Schulmeister besser weg. Die jüngeren revoltierten. Schwester Therese ging in die berüchtigte Kommune des später wegen Sexualverbrechen verurteilten Aktionisten Otto Mühl, Stephan, schon in der Schule ein schlimmer Knabe, ging zum Cartellverband; auch das ein Bruch. Ein Schulmeister gehörte nicht zum CV, kamen die Eltern doch aus einer anderen katholischen Ecke, der Neulandbewegung.
Ganz zum Bruch zwischen Eltern und Kindern kam es sowieso nie; der alte Schulmeister besuchte seine Tochter auch in der Kommune, ging mit der Kahlgeschorenen (damals unerhört) einkaufen und verstand sich glänzend mit Otto Mühl, dessen Machenschaften noch wenig durchschaut waren. Stimmt es, dass Mühl Schulmeisters Tochter heiraten wollte, um deren Namen anzunehmen? Stephan lacht. Er kennt das Gerücht, aber es ist nur ein guter Schmäh. Mit einem Körnchen Wahrheit, denn beide Ottos waren autoritäre Typen, „zwei Alphatiere, die sich gut verstanden“.
Mühl malte den Herausgeber der Presse sogar großformatig. Stephan war „aus Neugierde drei-, vier-, fünfmal im Jahr“ bei den Mühls, weil er das Projekt interessant fand und seine Schwester besuchte. Als Ende der 1970er-Jahre die Abschaffung des Privateigentums in der Kommune in dessen Fetischisierung umkippte, erlahmte sein Interesse. Mühl selbst war ihm immer unsympathisch, Stephan „ging immer auch nach Bauchgefühl“, und für die Mutter war Mühl überhaupt der Teufel. „Der war er ja auch. Den Missbrauch und dessen Ausmaß haben wir alle nicht geahnt.“

Ab 1968 klammerte der Sohn im Gespräch mit dem Vater „gewisse Themen wegen Sinnlosigkeit aus“, Vietnam zum Beispiel, wo der Vater in Leitartikeln Bombardements noch 1972 verteidigte. Das verdarb ein ganzes Weihnachtsfest. „Ich glaube, ich habe Schreibtischmörder zu ihm gesagt.“ Chile war ein nächster Bruchpunkt. Stephan Schulmeister mochte Salvador Allende, den sozialistischen Präsidenten Chiles. Als General Pinochet diesen 1973 unter dem Beifall der Kirche wegputschte, trat er aus der Kirche aus. Weder die Mühl-Kommune noch das Post-68er-Milieu der K-Gruppen stellten für ihn eine Versuchung dar. Mit Parteien hatte er nie etwas am Hut.
Auch Priester wollte er nie werden. Von denen sah er zu viele und spürte, da stimmt zwischen Wort und Wahrheit einiges nicht. „Aber ich merke, dass mich eine Person wie Papst Franziskus betört. Da ist eine Resonanz in mir aus Urzeiten. Den finde ich toll.“ Denn damals, 1968, war Stephan von gefestigter katholischer Weltanschauung.
Was brachte die Festung ins Wanken? Ironischerweise der CV. Werner Vogt, der junge Arzt und Publizist, war federführend in der CV-Verbindung Austria. Zusammen mit dem wohlbekannten Journalisten Werner A. Perger und Leuten wie dem Industriemanager Manfred Leeb und dem Historiker Michael Mitterauer waren dort „kritische und unabhängige Geister“ versammelt. Vogt lehrte Schulmeister „den aufrechten Gang“. Es wurde eine Lebensfreundschaft daraus. 2002 initiierten die beiden das Sozialstaatsvolksbegehren, das über 700.000 Unterschriften bekam. Vogt überzeugte Schulmeister, in die Hochschulpolitik zu gehen. Er trat auch der Austria bei, weil er dachte, „wenn die beim CV sind wie der Vogt“, könne auch er dabei sein. Als Vogt aus dem Cartellverband ausgeschlossen wurde, ging Schulmeister mit.

1968 beschlossen ein paar junge bürgerliche Wiener Hochschulpolitiker, darunter Schulmeister, nach Berlin zu fahren und den Studentenführer Rudi Dutschke zu treffen. Der Februar 1968 war kalt, die Windschutzscheibe das Autos barst, die DDR-Grenzer nahmen den Wienern alle Bücher weg. An der TU fand der berühmte Vietnamkongress der Linken statt, mit Dutschke als Hauptfigur. Die Rechten hatte ihn in einen Saal an der FU geladen, um ihn „aufzumachen“.
Schulmeister erinnert sich: „Der Saal war voll mit Kappelträgern und Konservativen. Ich saß in der ersten Reihe und hatte eine negative Grundhaltung Dutschke gegenüber, weil mir die Zeitungen das Bild des Demagogen vermittelt hatten. Er hat mich tief erschüttert. Das Publikum hat ihn verspottet und provoziert. Seine priesterliche Art hat mich sicher auch angesprochen. Er redete langsam, predigthaft, eindringlich. Er ließ sich durch überhaupt nichts aus der Fassung bringen. Er hatte unglaublich viele Argumente. Mir wurde klar, dass ich über Gesellschaftswissenschaften, Philosophie gar nichts weiß. Und das löste einen gewaltigen Zweifelsschub bei mir aus. Ich bin ein Typ, der ganz langsam denkt.“
Nicht, dass Dutschke Schulmeister „umgedreht“ hätte. Langsam denken, schnell studieren. In neun Semestern absolviert er sein Jusstudium und hängt eineinhalb Gerichtsjahre an, „denn das war damals ganz gut bezahlt und zu Hause gab es kein Taschengeld“. Im Hinterkopf hat er die Idee, Armenanwalt zu werden. Die autoritäre Realität österreichischer Gerichte lässt ihn das bald als aussichtslos erscheinen. Das ist schon die zweite Karriere, die er ausschlägt.
Die erste, jene des Politikers, hat er trotz vielversprechender Ausgangsposition als ÖH-Vorsitzender nach dem Rausschmiss der Vogtianer aus der Austria abgehakt. Statt Anwalt zu werden, studiert er nun Ökonomie. Er will die Gesellschaft verstehen. Diesen Floh hat ihm Rudi Dutschke ins Ohr gesetzt. Als Jurist wird ihm eine Staatsprüfung angerechnet, wieder ist er schnell mit dem Studium fertig, noch immer ist er ratlos, was er wirklich machen soll.

Nun, 1972, lehnt er eine dritte Karriere ab, jene als Banker. Er hat eine Freundin und sucht einen Job. Es gibt Angebote von überall. „Als Schulmeister-Sohn hatte ich es sicher ein bisschen leichter.“ Das Geld war bei einem Bankjob attraktiv. Aber jeden Tag Krawatte tragen, das eben abgelegte Zeichen der Unfreiheit? Nein. Er spricht bei Heinz Kienzl vor, dem roten Gewerkschafter und damals Vizepräsidenten der Nationalbank. „Wissen S’ was, Sie gengan jetzt einfach ins Wifo und lernen was, und nach zwei Jahren können Sie was anderes machen“, rät der. Im Wifo lernte man das Handwerkszeug für Karrieren.
Schulmeister kennt Hans Seidel, den Leiter des Wifo, weil der seine Jus-Prüfung in Volkswirtschaft abgenommen hatte. Er fängt an mit Tourismusforschung. Auch interessant, sagt Schulmeister heute, „um die Entfremdung des Menschen zu erforschen“. Schulmeister ist nun „wissenschaftlicher Mitarbeiter des Wifo“, das bleibt er die nächsten Jahrzehnte. Alle späteren ­Wifo-Leiter lassen ihm diese Position. Er hat Carte blanche und eine Mitarbeiterin, solange er Finanzierungen für seine Studien auftreibt. Außerdem lehrt und forscht er in Deutschland, den USA und Österreich.
„Zweifel ist ein interessantes Phänomen“, sagt Schulmeister. Bei ihm sei das „ein ganz langsamer Prozess, wo die Widersprüche wie Spalten in Gemäuern sind, wo sich Wurzeln bilden, die die Spalten auseinanderreißen. Und da es bei mir immer sehr langsam zugeht, habe ich Jahre gebraucht, bis ich mich verabschiedet habe.“ Von Kirche, Glaube, Weltanschauung, Familie und ökonomischem Mainstream.

Ein Zufall hilft. Sein Psychoanalytiker weist ihn auf Ludvik Fleck hin. Der Biologe und Wissenschaftstheoretiker Fleck, dessen Werk erst Anfang der 1980er-Jahre auf Deutsch erschien, fragt: Wie etablieren Wissenschaftler Denkmodelle, deren Konsequenzen sie vor sich selbst verbergen? Wie schaffen sie es, sich als strenge Wissenschaftler darzustellen, obwohl sie Interessen dienen? Und wie funktioniert es, dass sie zu einer Herde werden, in der – gegen alle Evidenz – einer dem anderen folgt, bis eine Hierarchie des Denkens etabliert ist?
Fleck wird sein „theoretischer Lebensbegleiter“. Auch Bertolt Brechts Turandot-Drama und sein Romanfragment über die „Tui“, eine Analyse des Verhaltens von Intellektuellen, die sich instrumentieren lassen und es vor sich selbst verbergen, sind ihm wichtig. Das polit-ökonomische Schlüsselerlebnis wird Lateinamerika. Richard Nixons Abschaffung des Systems fester Wechselkurse und das Verhalten von Devisenhändlern stürzen den Kontinent 1981 in eine Finanzkrise und verursachen Millionen Tote. Staaten hatten sich bei niedrigem Dollarkurs verschuldet und konnten nun bei gestiegenem Kurs die Zinsen ihrer Kredite nicht mehr bedienen.
Die zugehörige Theorie ist Hayeks Neoliberalismus, verschärft durch Milton Friedmans Monetarismus. Der Markt, sagen sie, regelt alles. Dabei berufen sie sich auf den großen Aufklärer Adam Smith, der angeblich dem rationalen Egoismus des Menschen und der unsichtbaren Hand des Markts das Wort redet. Unsinn, ruft Schulmeister empört, gerade Smith ist der Sozialphilosoph eines aus Eigeninteresse mitfühlenden Menschen!
Wie greift man eine als falsch erkannte Theorie an? „Man kann versuchen, innerhalb des Denksystems logische Widersprüche herauszuarbeiten. Dafür bin ich nicht intelligent genug und das haben andere schon gut gemacht.“ Man könne mathematisch ihre Schwachstellen aufzeigen. Linke Ökonomen haben auch das getan. „Mein dritter Weg orientiert sich an Hegels Satz ,Die Wahrheit ist konkret‘ und konfrontiert die Aussagen und die Hypothesen der Theorie mit dem, was ist.“ Eine Art detektivischer Forschung, bei der die Mainstream-Ökonomie die Rolle des Dr. Watson übernimmt, der immer gleich alles weiß, und Schulmeister jene von Sherlock Holmes, der an schnellen Wahrheiten zweifelt, aber am Ende recht behält.

Schulmeister geht langsam vor, studiert Statistiken, Börsenverläufe. Er geht an Börsen in Frankfurt und New York, wo in den 1980er-Jahren die Trader noch gesprächig sind. Der italienische Erdölkonzern ENI finanziert seinen New-York-Besuch; den Italienern war Schulmeister mit einer Studie über den Ölpreiskurs aufgefallen.Er besucht die Wall-Street-Investmentbank Goldman Sachs und bemerkt überall menschliche Motive und Interessen, alles, nur nicht den stets vernünftig handelnden Homo œconomicus, diese Grundfiktion der dominierenden wirtschaftlichen Theorie.
Am Ende findet er Erklärungen, es ist einmal der schwankende Dollarkurs, die Doppelrolle des Dollars als Weltwährung und nationale Währung. Einerseits. Und dann die menschliche Motivation hinter den Bullen- und Bärenmärkten, welche die Kurven der Kurse lang hinauftreiben und dann panisch zum Absturz bringen. Nicht rational handelt der Mensch, sondern beides, emotional und rational.
Schulmeister entdeckt die gigantische Manipulation, die Friedrich Hayek in den 1940er-Jahren in Gang brachte, die Milton Friedman in den 1980er-Jahren fortsetzte und die mit hunderten Millionen Dollar unterstützt wird. „Ich bewundere Hayek ja wirklich“, sagt Schulmeister. Solche Geduld hätten sonst nur Leute vom Schlag Victor Adlers gehabt. „Ein großes Ziel zu verfolgen, die Keynesianer zu vertreiben, aber im Wissen, das kann 30 oder 60 Jahre dauern. Da muss man halt ganz langsam vormarschieren.“ John Maynard Keynes lieferte die Grundlagen zum Wohlfahrtsstaat, Hayek und Friedman jene zur Entfesselung der Finanzmärkte.

Bleibt zu erzählen, wie Schulmeister Publizist wurde. 1994 verlor die SPÖ-ÖVP-Regierung unter Franz Vranitzky und Erhard Busek eine Wahl und beschloss anschließend ein Sparprogramm. Wütend darüber, dass diese scheinvernünftige Maßnahme nach der ökonomischen Mode Jörg Haider in die Hände spielen würde, schrieb Schulmeister einen 24-seitigen Brief an beide. Als er keine Antwort erhielt, schickte er das Papier an Gerfried Sperl, den Chefredakteur des Standard. Der brachte es in vier Teilen, und der Publizist Schulmeister, der bis dahin nur in Fachjournalen publiziert hatte, war auf der Medienbühne. Als Querdenker, als Querulant. Mittlerweile hat er hunderte Artikel und ein Buch geschrieben, hat TV-Auftritte absolviert und fasziniert ein junges Publikum mit messerscharfen Analysen auf seiner Facebook-Seite.
Verstanden wird er bis heute nicht. Die Unternehmer und die Realwirtschaft müssten doch erkennen, dass auch sie die Opfer einer entfesselten Finanzwirtschaft sind, sagt er. In der Politik führt deren Dominanz zum Anstieg von Nationalismus und gefährdet den Zusammenhalt der EU. Der Euro ist nicht das Problem, es ist die Art, in der er verwendet wird. Die Spielanordnung ist falsch, nicht das Spiel.
Es wäre einfach, diese zu reparieren. Statt permanenter, maschinengestützter Spekulation schlägt Schulmeister Auktionen zu fixen Zeiten vor. Und die Finanztransaktionssteuer würde er einführen, natürlich. Die hätte er mit Mitstreitern vor ein paar Jahren politisch beinahe durchgesetzt. Es war eines jener Projekte, mit denen er politisch Gehör fand, bei der Bundesregierung und sogar bei der EU-Kommission. Die Spekulanten wurden beinahe auf dem falschen Fuß erwischt, ehe sie mit von Goldman Sachs und Deutscher Bank abwärts finanzierten „wissenschaftlichen“ Gutachten zurückschlugen und die Steuer doch noch verhinderten.
In solchen Propagandaaktionen sieht Schulmeister das Elend der Intellektuellen bestätigt. Die Notwendigkeit, ihre Meinung zu Markte zu tragen, läuft bei Wissenschaftlern ihrer Pflicht zuwider aufzuklären. „Ich glaube schon, dass ich im Zweifelsfall kein Opportunist bin“, sagt er bescheiden. Typischer Zusatz: „Nicht so sehr wie die meisten.“ Um sich dem Konformitätsdruck nicht auszusetzen, wollte er sich auch nie als Universitätsprofessor habilitieren.

Was ist er denn, der Schulmeister? Ein Heimatloser? „Ja. Das passt irgendwie zu mir. Es zieht sich von meinem Schlimmsein in der Schule bis zu meinem Beruf. Ich bin ein gewordener Außenseiter, habe daher ein Herz für Außenseiter und ich finde, dass man in der Forschung sogar Vorteile hat, wenn man sozusagen im Abseits steht, weil man eine andere Perspektive einnehmen kann. Aber man zahlt einen Preis. Gleichzeitig hat man ja sein Ego und würde gerne anerkannt werden.“
Das große Buch sollte ihm nun endlich diese Anerkennung bringen. Sein Plädoyer für eine moralisch gemäßigte Wirtschaft hat Stephan Schulmeister damit nun vorgelegt. In der langen Schlacht der Intellektuellen hält er recht einsam die Fahne der Menschlichkeit hoch, nicht falsch abstrakt, sondern empirisch, theoretisch und ethisch fundiert. Was könnte man über einen Wissenschaftler Besseres sagen?

Armin Thurnher in FALTER 21/2018 vom 25.05.2018 (S. 10)

Weiters in dieser Rezension besprochen:

Der Weg zur Knechtschaft (Friedrich A. von Hayek)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 23, 2018 5:46:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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