AZ-Neu

Die Informationsplattform für ArbeiterInnen, Angestellte, KMUs, EPUs und PensionistInnen

Eine Serie politischer Unwetter hat die Welt durcheinandergebracht. Die Instrumente, mit denen wir uns früher orientierten, funktionieren nicht mehr. Verstanden wir Politik lange als einen Zeitstrahl, der von einer lokalen Vergangenheit in eine globale Zukunft führen würde, realisieren wir nun, dass der Globus für unsere Globalisierungspläne zu klein ist. Der Weg in eine behütetere Vergangenheit erweist sich ebenfalls als Fiktion. Wir hängen in der Luft, der jähe Absturz droht.
In dieser brisanten Situation gilt es zuallererst, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und sich dann neu zu orientieren. Bruno Latour unternimmt den Versuch, die Landschaft des Politischen neu zu vermessen und unsere politischen Leidenschaften auf neue Gegenstände auszurichten. Jenseits überkommener Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär plädiert er für eine radikal materialistische Politik, die nicht nur den Produktionsprozess einbezieht, sondern auch die ökologischen Bedingungen unserer Existenz. Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie, von 1982 bis 2006 Professor am Centre de l'Innovation an der Ecole nationale supérieure de mine in Paris. Gastprofessor an der University of California San Diego, der London School of Economics und am historischen Seminar der Harvard University. Seit Juni 2007 ist Bruno Latour Professor am Sciences Politiques Paris und dem Centre de Sociologie des Organisations (CSO). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2013 den Holberg- Preis.

Übersetzung: Bernd Schwibs
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 136 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.04.2018
Preis: € 14,40
Eine Rezension von Elisabeth von Thadden

27. Juni 2018 DIE ZEIT Nr. 27/2018, 28. Juni 2018

Der Platz wird eng. Eine gemeinsame Welt, die sich unter allen teilen ließe, gibt es nicht mehr, denn die alte Erde ist zu klein, sie wird durch die Erwärmung vielerorts unbewohnbar. Boden, auf dem sich wirtschaften lässt, ist knapp, das handelsübliche Wachstum ist ökologisch mörderisch, und an wandernden Menschen, die Heimat suchen, herrscht Überfluss. Mit wenigen stilistischen Handgriffen schiebt so der Pariser Starintellektuelle Bruno Latour in seinem jüngsten Buch Das terrestrische Manifest drei Kontinente des Politischen aneinander: Klima, Ungleichheit, Migration. Latour plakatiert eine verbindende, kraftvolle Großthese: Wer unter den Reichen die klimatisch bedingte Knappheit einmal begriffen hat, schweigt vom Klimawandel fortan fein still, steigt dafür zügig aus der Solidarität mit den anderen Weltbewohnern aus und zieht die Mauern des Nationalstaates hoch – um offshore zu gedeihen, das Eigene zu schützen, die Menschen wie ihren unverhandelbaren Lebensstil. Genau dieses Programm, sagt Latour, führen die Eliten im Zeitalter Trumps gerade durch: Der Klimawandel ist nicht von ihrer Welt, sie bewohnen lieber ungestört eine andere, imaginäre, mit Klimaanlage, und die hat nun für Fremde geschlossen. Latour hält diesem Wahn hart entgegen: Heimatlose sind wir auf einem toten Planeten doch alle. Es komme darauf an, sich als Bürger neu zu erden. Sich an einen Boden zu binden, der sich uns unter den Füßen entziehen will, und durch diese Bindung "welthaft" zu werden.

Damit wäre man bereits im Reich der Latourschen Sprachschöpfungen angekommen, die seine Kritiker seit Langem mit Kopfschütteln quittieren: Was soll das sein, Boden, geht es um Überweidung, Abholzung, Brachen? Was ist dann mit "welthaft" gemeint? Geht es auch etwas weniger verschwörungsmetaphorisch? Und: Es sind doch die Eliten gewesen, die vom Pariser Klimavertrag über die energiepolitischen EU-Normen bis zu den Sustainable Development Goals der UN in den vergangenen Jahren die Standards für die Staaten der Welt zur Unterschriftsreife geformt haben, an die sich nun kaum einer hält. Warum bedauert Latour das arme Volk, das von seinen Eliten genarrt werde? Es waren europäische Gesellschaften, die seit den Achtzigerjahren ihre Eliten zum klimapolitischen Handeln gedrängt haben. Einwände ohne Ende also.

Aber Latour ist nicht zuletzt ein brillanter Ironiker, er spricht in seiner dialogisch arabesken Prosa mit aller Kraft auch gegen sich selbst: gegen die eigenen unbeweisbaren Hypothesen, gegen seine so haarspalterische wie eigenmächtige Sprache, er weiß, dass er methodisch auf Autopilot fährt. Doch als ein entschiedener Europäer hält er das Regelwerk in Ehren, das in Brüssel entstand, und zugleich tritt dieser klassisch subsidiär denkende Kosmopolit aus der Provinz der französischen Winzer mit dem neuen antifatalistischen Paris-Faktor auf: Bruno Latour weiß, dass seine Stimme bei vielen Gehör findet, weil er es für unanständig hält, sich im Fatalismus zu baden. Er weiß, dass er Fragen stellt, die sonst kaum als öffentlich verhandelbar gelten: "Woran hängen Sie am meisten? Mit wem können Sie leben? Wessen Überleben hängt von Ihnen ab? Gegen wen werden Sie kämpfen müssen? Wie lässt sich all das in eine Reihenfolge der Prioritäten bringen?" Latour nimmt die durchschnittliche europäische Gewöhnungsnormalität angesichts des Klimawandels nicht hin. Er will die Schockstarre lösen: Gesucht wird die Erde, auf der Menschen sich erden können. Gesucht wird: Politik.

Posted by Wilfried Allé Sunday, July 29, 2018 5:40:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
Rate this Content 0 Votes

Comments

Comments are closed on this post.

Statistics

  • Entries (292)
  • Comments (5)

Categories