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Gipsy Queen 

Hüseyin Tabaks Spielfilm „Gipsy Queen“ erzählt, wie eine jungen Mutter aus einer ru­mä­ni­schen Roma-Sied­lung in den Box-Ring auf St. Pauli kommt.

Reihe Feine Filme
Erscheinungsdatum 04.12.2020
Umfang 117 min
Genre Spielfilm/Drama
Verlag Falter Verlag
EAN 9783854397786
Personen Alina Serban, Tobias Moretti, Irina Kurbanova, Sarah Ulda Carcamo Vallejos, Aslan Yilmaz Tabak
Regisseur Hüseyin Tabak
Preis € 14,99

Der Job als Zimmermädchen ist weg. Ali (Alina Șerban) braucht so­fort etwas Neues, egal was. So­gar für Ab­riss­ar­bei­ten in einer Ham­bur­ger Villa lässt sie sich an­heu­ern. Fünf Euro pro Stunde be­kommt sie für die Schwarz­arbeit. Die ru­mä­ni­sche Mut­ter von zwei Kin­dern klagt nicht, son­dern schuf­tet als ein­zi­ge Frau sto­isch neben den an­de­ren Ar­bei­tern.

Als nächstes steht eine Aushilfsschicht in einem Schmuddel-Schup­pen auf St. Pauli an. Zum Auf­räu­men scheucht die Theken­frau sie in den Keller, wo ein Box­ring auf­ge­baut ist. Dort hat Ali keine Au­gen für die Fla­schen und Glä­ser, die sie ein­sam­meln soll, son­dern nur für die Männer im Ring.

Der Vater verstößt die junge Frau

Sie analysiert deren Bewegungen, versteht ganz genau, was pas­siert. Denn nicht zu­fällig trägt Ali den Namen des größten Boxers aller Zei­ten. Ihr box­ver­rückter Va­ter hat ihn ihr ge­ge­ben, sie spä­ter trai­niert und zu Sie­gen ge­führt. Für ihn war sie nicht nur der Stolz der Fami­lie, son­dern die Köni­gin aller Roma.

Doch als Ali ihr zweites uneheliches Kind be­kam und nicht mehr kämpfen konnte, fiel eine wich­ti­ge Ein­nahme­quelle für ihre irgend­wo in der Pro­vinz le­ben­de Roma­fami­lie weg. Nun brauchte die junge allein­ste­hen­de Mut­ter selbst Hilfe – doch der Vater ver­stößt sie.

Das dramatische öffentliche Zer­würf­nis der bei­den steht am Be­ginn von Hüseyin Tabaks zwei­tem Lang­spiel­film „Gipsy Queen“, der an­schließend einige Jahre in die Zu­kunft springt. Ali und ihre Kin­der wohnen in Ham­burg zu­sam­men mit der Deut­schen Mary (Irina Kurbanova), die ver­sucht Tän­ze­rin zu wer­den, aber vor allem Traum­tän­zerin ist. Weil von ihr in Sachen Miete nicht viel kommt, ist Einzel­kämpferin Ali gefragt.

In der „Ritze“, der Kiezkneipe mit Box­schuppen, die es übri­gens wirk­lich gibt, er­öffnet sich eine neue Per­spek­tive für die Frau mit der dunk­len Locken­mähne. In­haber Tanne (Tobias Moretti) be­merkt, dass sie boxen kann und en­ga­giert sie zu­nächst für sein Show­pro­gramm mit Publi­kums­be­tei­li­gung.

In einem formatierten TV-Drama würde jetzt die ab­seh­bare Auf­stiegs­ge­schichte einer Außen­sei­terin be­gin­nen, die neben­bei auch noch dem runter­ge­rockten Ex-Boxer Tanne eine Runde neuen Sinn schenkt. Aller­dings macht es sich Hüseyin Tabak, von dem auch das Dreh­buch stammt, nicht so ein­fach. Er be­müht sich so­wohl bei den sport­li­chen als auch bei den ge­sell­schaft­li­chen As­pek­ten sei­nes Wer­kes um eine ge­wisse Rea­li­täts­nähe. Und so bleibt Alis Weg von Tief­schlä­gen ge­prägt.

Frauen sind selten im Boxfilm-Genre. Wenn sie wie in „Million Dollar Baby“, „Girlfight“ oder „Die Boxerin“ doch ein­mal im Zentrum ste­hen, geht es im­mer auch da­rum, sich ge­gen die Vor­ur­teile über weib­liche Faust­kämpferin­nen zu be­haupten.

Interessanterweise hat Ali dieses Problem nicht. Dafür ist stets prä­sent, dass sie als Romnija in einer ras­sis­ti­schen Ge­sell­schaft einen be­son­ders fra­gi­len Sta­tus hat. So kämpft sie außer­halb des Rings ge­gen die Stereo­typen an, die den Roma zu­ge­schrie­ben wer­den.

Als ihre Tochter Esmeralda (Sarah Carcamo Vallejos) eine Jacke klaut, schreit Ali sie an: „Du tust genau das, was die Weißen von uns er­warten. Du solltest dich schä­men.“ An­schließend be­straft sie Es­me­ral­da hart, ohne zu wis­sen, dass der die ei­gene Jacke zu­vor von einem Mädchen mit Ge­walt ab­ge­nom­men wor­den war. Sie hat­te ver­sucht, das zu ver­tuschen.

Tabak fängt die komplizierte Mutter-Tocher-Dynamik auf ein­dring­liche und ein­fühl­same Weise ein. Es wird deut­lich, dass Ali zwar Über­men­schli­ches für ihre Kin­der leis­tet, doch oft zu wenig Kraft hat, um nach­zu­voll­zie­hen, was Es­me­ral­da fühlt und er­lebt. Da­für setzt sie – ähn­lich wie ihr ei­ge­ner Va­ter – auf Stren­ge, um ihre Kin­der für die feind­se­ige Welt zu wappnen. Alina Șerban, die selbst in einer ru­mä­ni­schen Roma­fami­lie auf­wuchs und Ab­sol­ven­tin der Royal Aca­demy of Dra­ma­tic Art in Lon­don ist, spielt das mit großer In­ten­si­tät und Glaub­wür­dig­keit.

Den berührendsten Moment von „Gipsy Queen“ schafft sie mit einer stil­len Sze­ne, in der die große Ein­sam­keit ihrer Fi­gur kon­den­siert zum Aus­druck kommt: In der U-Bahn sitzt Ali einem Rom ge­gen­über. Die bei­den sagen nichts, schau­en sich nur an, irgend­wann hat Ali Trä­nen in den Au­gen, der Mann nickt ihr zwei Mal leicht zu. Es wirkt wie eine liebe­vol­le väter­liche Er­mu­ti­gung. Ali steht auf – ein Kampf steht an. Sie steckt ihre gan­ze Lebens­wut in ihre Schläge.

Posted by Wilfried Allé Tuesday, September 7, 2021 12:21:00 AM Categories: Spielfilm/Drama
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