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Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste

von Catherine Belton

Verlag: HarperCollins
ISBN: 9783749903283
Umfang: 704 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 07.02.20221
Format Hardcover
Ausgabe: 5. Auflage
Übersetzung: Elisabeth Schmalen, Johanna Wais
Preis: € 26,80

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Als Ende der 1980er-Jahre die Sowjetunion zusammen­brach, ahnte nie­mand, dass ein ehe­ma­liger KGB-Agent sich über Jahr­zehnte als russi­scher Prä­si­dent be­haup­ten würde. Doch ein Allein­herr­scher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich auf ein Netz­werk ehe­ma­li­ger sowje­ti­scher KGB-Agen­ten, dessen Ein­fluss weit über Russ­land hinaus­reicht.
Catherine Belton, ehemalige Moskau-Korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, hat mit zahl­rei­chen ehe­ma­li­gen Kreml-In­si­dern ge­spro­chen. Etwas, das bisher ein­ma­lig sein dürfte. Es sind Män­ner, deren Macht Putin zu groß wurde und die nun selbst vom Kreml »ge­jagt« wer­den.
Belton beleuchtet ein mafiöses Geflecht aus Kon­trol­le, Kor­rup­tion und Macht­be­sessen­heit, und das ge­fällt nicht allen Pro­ta­go­nis­ten. Vier Oli­gar­chen haben sie des­wegen wegen Ver­leumdung ver­klagt.
Ihr Buch liest sich in all seiner Kom­plexi­tät so span­nend wie ein Agenten­thriller, doch vor allem ent­hüllt es, wie das Sys­tem Putin uns alle mehr be­trifft, als uns lieb ist.
 

FALTER-Rezension
Putins Machtbasis: Geheimdienst, Kleptokratie

Die ehemalige Moskau-Korres­pondentin der Financial Times, Catherine Belton, re­kons­truiert den Auf­stieg Wladimir Putins

Wladimir Putin hat nicht wenige Sympa­thi­santen unter west­euro­päi­schen Lin­ken, trotz sei­ner Unter­stützung rechts­ex­tre­mer Par­teien. Sie sehen in ihm eine Bar­ri­ere ge­gen die gren­zen­lose Ex­pan­sion der Nato und der USA. Eine Ana­ly­se sei­nes Auf­stiegs unter der Schirm­herr­schaft des KGB vom un­be­deu­ten­den Agen­ten in Dresden über das Kabi­nett des Peters­bur­ger Re­form-Bür­ger­meis­ters bis zum Nach­fol­ger Boris Jelzins wirft ein neues Licht auf ihn.

Putin hat die chaotische neo­li­bera­le Trans­for­ma­tion der russi­schen Wirt­schaft ge­stoppt, die so­zia­le Gegen­sätze und eine ge­setz­lose Oli­gar­chie er­zeugt hatte. Er hat dieses Sys­tem aber nur um­ge­lei­tet, die Oli­gar­chen in sei­nen Dienst ge­zwun­gen und seine ei­ge­nen Leute be­rei­chert. Und er unter­wan­dert die libe­ralen Demo­kra­tien des Westens.

In ihrem sorgfältig recherchierten Buch zeigt die ehe­ma­li­ge Mos­kau-Korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, Catherine Belton, wie das alte KGB-Netz­werk durch Putin seine Macht­po­si­tion zu­rück­er­obert hat. Frü­her als andere hatte der Geheim­dienst den Zu­sammen­bruch der Sowjet­union kom­men sehen und Mil­liar­den aus dem Land ge­schafft sow­ie ein Netz­werk für die Zeit da­nach auf­ge­baut.

Detailliert zeichnet Belton nach, wie dieses Netz­werk die Macht zu­rück­ero­bert und sei­nen Ein­fluss auf Fi­nanz-und Macht­zen­tren in Lon­don, New York und auch Wien aus­ge­baut hat. Die Vor­gangs­weise war skru­pel­los: un­lieb­same Wirt­schafts­ak­teure wur­den aus dem Weg ge­räumt, Unter­nehmen ent­eig­net und wie­der unter die großen Staats­kon­zerne ge­zwun­gen. Namen aus der Peters­burger Unter­welt, derer sich der KGB schon zu Sowjet­zeiten be­dient hatte, tau­chen in den ak­tuel­len Fällen von Geld­wäsche, Kor­rup­tion und Mor­dan­schlä­gen ge­gen Kri­ti­ker im Exil wie­der auf. Auch Wien bildet eine Kon­stante im kor­rum­pie­ren­den Ein­fluss auf west­liche Demo­kra­tien. Man denke nur an die Rol­le eini­ger Ban­ken und Mit­tels­män­ner bei du­bio­sen Geld­trans­fers bis hin zu den russi­schen Ver­sorgungs­posten für ehe­ma­lige öster­rei­chi­sche Spitzen­po­li­ti­ker diver­ser Par­teien.

Ursprünglich, schreibt Belton, habe sie nur die Über­nahme der Wirt­schaft durch Putins frü­here KGB-Kol­legen doku­men­tieren wollen. Ihre Recher­chen hät­ten aber einen noch be­un­ruhi­gen­deren Hinter­grund auf­ge­deckt: "Die Über­nahme der Wirt­schaft - und der Jus­tiz und des po­li­ti­schen Sys­tems - durch die KGB-Kräfte führte zu ei­nem Re­gime, in dem die Dollar-Mil­li­arden, die Putins Kum­pa­nen zur Ver­fü­gung ste­hen, ak­tiv da­für ge­nützt wer­den, die Insti­tu­tio­nen und Demo­kra­tien des Wes­tens zu unter­gra­ben."Die alte KGB-Tak­tik, libe­rale Ge­sell­schaf­ten durch Des­in­for­ma­tion, Kor­rup­tion von Poli­ti­kern und Unter­stüt­zung radi­kaler Or­ga­ni­sa­tionen zu de­sta­bi­li­sieren, er­lebe unter Putin eine Neu­auf­lage. Was per­fekt zu sei­ner geo­po­li­ti­schen Stra­te­gie passt, die alten Ein­fluss­sphä­ren mit Ge­walt wieder­her­zu­stellen. Die eng­lische Aus­gabe des Buchs er­schien 2020 und wurde als eine der am bes­ten doku­men­tier­ten Ana­ly­sen des Sys­tems Putin ge­prie­sen.

hre Stärke ist zugleich ihre Schwäche: Belton hat für ihre Re­cher­che auch ehe­mals engste Ver­trau­te Putins inter­viewt. Sie haben pro­fun­des In­sider­wis­sen und sich zu Putin-Kri­ti­kern ge­wan­delt, ten­die­ren aber da­zu, ihre eigene Rolle zu be­schönigen. Selbst wenn man Beltons These einer per­fekt ge­plan­ten Zu­rück­er­obe­rung Russ­lands durch eine neue Klepto­kra­tie nicht teilt, bietet das Buch einen auf­schluss­rei­chen Ein­blick in die Macht­struk­turen unter Putin.

Franz Kössler in Falter 8/2022 vom 25.02.2022 (S. 22)
 

Putin wirklich verstehen

Ein Hooligan" sei er gewesen, erzählte Wladimir Putin in einem Inter­view vor mehr als 20 Jahren, auf seine Jugend­tage an­ge­spro­chen. Auf die un­gläu­bige Frage des Inter­viewers, ob er damit nicht ein wenig flun­kere, er­wi­derte Putin: "Wollen Sie mich be­lei­digen? Ich war ein echter Schläger."

Putin selbst ist immer wieder auf diese Geschichten zu­rück­ge­kom­men, hat die Straße "meine Uni­ver­si­tät" ge­nannt. Unter den vier Grund­sätzen, die er aus sei­ner Gangster­zeit mit­ge­nom­men habe, ist auch "Schluss Num­mer drei: Ich habe ge­lernt, dass man - egal ob ich im Recht war oder nicht -stark sein müsse. Ich musste in der Lage sein, da­gegen­zu­halten Schluss Nummer vier: Es gibt kei­nen Rück­zug, du musst bis zum Ende kämpfen. Letzt­end­lich war es das auch, das ich später im KGB ge­lernt habe, aber im Grunde wurde mir das schon viel früher bei­ge­bracht - in die­sen Kämp­fen als Junge."

Vielleicht gibt uns diese Geschichte einen Ein­blick in das Den­ken von Wladimir Putin, wie er "tickt". Viel­leicht aber auch nur, wie er ge­sehen wer­den will. Putin er­zählt Ge­schich­ten nicht ohne Ab­sicht, seit Be­ginn sei­nes Auf­stiegs bas­teln er, seine Entou­rage und seine Spin­dok­to­ren an seinem öffent­lichen Image.

Was aber sind seine ideo­lo­gi­schen An­schauungen? Wen schart er im inne­ren Macht­appa­rat um sich? Wer ist also dieser Putin? Was treibt ihn an?

Spulen wir zurück. Es ist der 31. Dezem­ber 1999. Der letzte Tag des Jahr­tausends. Boris Jelzin, der erste Prä­si­dent der Rus­si­schen Föde­ra­tion, tritt über­raschend zu­rück. Nie­mand hatte damit ge­rech­net. Aber Jelzin - und seine Entou­rage, be­kannt als "die Fami­lie" - ver­fol­gen einen Plan. Jelzin über­gibt die Prä­si­dent­schaft ver­fas­sungs­gemäß an den Minis­ter­prä­si­denten, an Wladimir Putin, der zu diesem Zeit­punkt noch keine fünf Monate als Minis­ter­prä­si­dent amtiert. Putin ist tat­säch­lich ein "Mann ohne Ge­sicht". Ein un­be­schrie­benes Blatt. Sie glau­ben, ihn kon­trol­lie­ren zu kön­nen.

Jelzins Umfragewerte liegen im Keller. Er war in den 80er-Jahren der Un­ge­stümste der Re­former in der KPdSU, war Mos­kauer Par­tei­chef, gilt als der Demo­krat unter den Spitzen­kom­mu­nis­ten. Als die alte Garde ge­gen Michail Gor­bat­schow und seine Öffnungs­poli­tik putscht, ist es Jelzin, der den Um­sturz zum Schei­tern bringt. Die Sowjet­union löst sich auf, auch an der Peri­pherie Russ­lands be­gin­nen Ab­spal­tungen. Es sind die Jahre des chao­ti­schen Zer­falls an den Rän­dern, aber auch im Inne­ren. Die Wirt­schafts­leis­tung fällt, einige wer­den schnell reich.

Putin, zuvor als KGB-Mann in Dresden, landet als stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­meis­ter in Sankt Peters­burg, sei­ner Heimat­stadt, wo er am Stadt­rand, in Tra­ban­ten­städten, in einer Arme-Leute-Ge­gend auf­ge­wachsen ist. Der Bür­ger­meis­ter, Putins Chef, ist da­mals Ana­toli Sobt­schak, ein ehe­ma­li­ger Rechts­pro­fes­sor, der An­führer der Demo­kra­ten, der be­rühm­tes­te rus­sische pro-west­liche Re­former.

Er ist eine strahlende Figur, doch kein be­son­ders guter Or­ga­ni­sator, aber auch ein Trick­ser, der sich als Li­be­raler gibt und hinten­rum mit den al­ten Macht­ha­bern pak­tiert. Da­für hat er Putin, sei­nen Stell­ver­tre­ter, zu­stän­dig für alles, wo­für Sobt­schak kein be­son­deres Ta­lent hat. Putin ist Sobt­schaks "Fixer", der, der die Dinge er­ledigt.

Putin tut sich mit der Mafia zusammen, die da­mals den Großen Hafen in Sankt Peters­burg in der Hand hat. Putin ist mit sei­nen KGB-Leu­ten ver­bun­den, nutzt sein Netz­werk, zu­gleich schließt er Bünd­nis­se mit dem or­gani­sier­ten Ver­bre­chen. Es wird ein Muster.

Als Sobtschak später abgewählt wird, wech­selt Putin nach Mos­kau in den Kreml, auf einen Or­gani­sations­posten im Prä­si­den­ten­stab. Dort steigt er schnell auf. "Er war folg­sam wie ein Hünd­chen", be­rich­tet Ser gei Pugat­schow, da­mals im Kreml eine große Num­mer, in ei­nem Ge­spräch mit der Au­to­rin Catherine Belton.

Putin rückt zum stellvertretenden Stabs­chef auf, da­nach zum Chef des In­lands­ge­heim­dienstes FSB, des Nach­folgers des KGB. Als er Ministerpräsident wird, übernimmt sein Kumpan Nikolai Patruschew seinen Posten. Mit Putin holen sich die alten KGB-Seilschaften die Macht. Aber noch gilt Putin als Demo­krat und Libe­ra­ler. Immer­hin kommt er aus Sobt­schaks Stall. Und Sobt­schak war der Poster­boy der Demo­kra­ten.

Jelzin macht Putin zu seinem Nach­folger, um den Demo­kra­ten die Macht zu ret­ten. Denn ohne wag­hal­si­ges Ma­nö­ver hät­ten, so die Be­fürch­tung, Leute wie KP-Chef Sjuga­now, der Mos­kauer Bür­ger­meis­ter Lusch­kow oder der alte KP-Hau­degen Prima­kow die bes­ten Chan­cen auf einen Sieg bei der Prä­si­dent­schafts­wahl ge­habt. Die Jelzin-Leute hatten Angst, dass dann das Rad zu­rück­ge­dreht würde. Es ist ein Trep­pen­witz der Ge­schich­te: Putin wur­de in­stal­liert, um die Li­be­ralen zu ret­ten.

Was Putin und seine KGB-Truppe auszeichnet, ist mehrer­lei: List, die Fähig­keit, lang­fris­tige Pläne zu ver­fol­gen, und aus­rei­chen­de Bru­ta­li­tät.

Putin legt in einer Fernsehansprache und einem großen Essay - bekannt unter dem Titel "Millen­nium Bot­schaft" - zum Zeit­punkt sei­ner Amts­über­nahme 1999 seine Sicht dar. Russ­land ist als Macht ab­ge­stie­gen, spielt nicht ein­mal mehr eine zweit­sondern eine dritt­ran­gi­ge Rol­le, die Ord­nung im Staat ist zer­fallen.

"Es wird nicht so bald geschehen - falls es über­haupt jemals ge­schieht -, dass Russl­and eine zweite Aus­gabe von bei­spiels­weise den USA oder Groß­bri­tan­nien wird, deren libe­ra­le Werte tiefe his­to­ri­sche Tra­di­tionen haben", schreibt er. "Für Rus­sen ist ein star­ker Staat keine Ab­nor­ma­li­tät, die man los­wer­den will. Im Gegen­teil, sie sehen ihn als Quelle und Ga­rant der Ord­nung an und als Ini­tia­tor und haupt­säch­liche Trieb­kraft für je­den Wan­del."

Bereits 1993 hatte Putin keinen Hehl aus seinen Auffassungen gemacht. Da­mals hat­te das Neue Deutsch­­land, die ehe­ma­lige Tages­zei­tung der DDR-Staats­par­tei SED, über eine öffent­liche De­batte Fol­gen­des zu be­rich­ten gewusst:

"Wladimir Putin hat vor deutschen Wirt­schafts­ver­tretern deut­lich ge­macht, dass eine Mili­tär­dik­tatur nach chile­nischem Vor­bild die für Russ­land wün­schens­werte Lö­sung der ge­gen­wär­ti­gen po­li­ti­schen Pro­ble­me wäre. Er, Putin, bil­lige an­ge­sichts des schwie­ri­gen pri­vat­wirt­schaft­lichen Weges even­tuelle Vor­be­rei­tun­gen Jelzins und des Mili­tärs zur Her­bei­füh­rung einer Dik­ta­tur nach Pinochet-Vor­bild aus­drück­lich."

Es ist ein Kreis von Hardlinern aus den Sicher­heits­diensten, allen voran aus Putins KGB-Seil­schaf­ten, der nach dem Amts­an­tritt Putins zur Jahr­tausend­wende vor 22 Jahren die Ge­schicke im Kreml be­stimmt und die Macht suk­zes­sive kon­so­li­diert. Und am Aus­gangs­punkt von all­dem steht Krieg. Mit dem Krieg ge­gen Tschet­sche­nien, der ab­trün­ni­gen Pro­vinz im Nord­kau­ka­sus, be­gann Putins Macht­spiel.

Bombenanschläge in mehreren Wohnhaus­anlagen in Moskau am Be­ginn sei­nes Auf­stiegs im Herbst 1999 wurden tschet­sche­nischen Ter­ro­risten an­ge­lastet, und es ist nie völ­lig auf­ge­klärt wor­den, ob diese An­schlä­ge nicht vom KGB ins­zeniert wor­den waren, um eine Inter­ven­tion in Tschet­schenien zu recht­fertigen. Jeden­falls er­laubte der Tschet­schenien­krieg Putin, sich als coura­gier­ten und ent­schlos­senen Kriegs­herrn mit volks­tüm­li­cher Sprache zu prä­sen­tieren. "Wir werden sie in ihren Scheiß­häusern aus­räu­chern", er­klärte er.

Tschetschenien wird, wie das einmal eine Journalistin for­mu­lierte, zu einem "Schlacht­haus, das 24 Stunden am Tag in Betrieb ist".

Die "Oligarchen", also jene Freibeuter, die die Jahre der chaoti­schen Pri­va­ti­sierung ge­nützt hat­ten, ent­mach­tet Putin, be­son­ders jene, die unter Ver­dacht stehen, sie könnten in die Poli­tik oder auch nur in die öffent­liche Mei­nung ein­grei­fen wollen -sie gehen ins Exil oder landen im Straf­lager.

Die anderen dürfen ihr Vermögen behalten, wenn sie sein Primat akzeptieren.

Die neuen "Oligarchen" sind eigentlich keine mehr, sondern KGB-Funk­tio­näre, die an die Spitze von Staats­be­trieben plat­ziert wer­den und dort Putins kor­ruptes Sys­tem ab­sichern. Sie üben nur den Job des Oli­gar­chen aus, was nicht heißt, dass sie nicht Mil­li­ar­den auf die eige­nen Kon­ten ver­schie­ben dür­fen.

Die pluralistische, offene Gesellschaft? Sie wird in einem schlei­chen­den Putsch ab­ge­würgt. Dissi­denten und Mit­wisser wer­den ver­gif­tet, Oppo­si­tio­nelle auf of­fener Straße er­schos­sen, wie Boris Nemzow oder die legen­däre Journa­listin Anna Polit­kows­kaja, die 2006 in ihrem Trep­pen­haus ab­ge­knallt wird.

Wer im "System Putin" heute wirklich die Macht hat, weiß nie­mand so genau. Sicher ist nur: Da ist Niko­lai Patru­schew, der Chef des Natio­nalen Sicher­heits­rates, ein KGB-Mann, der seit bald 30 Jahren an Putins Seite agiert; da ist Sergei Nary­schkin, der Chef des Aus­lands­geheim­diens­tes, der aber vor dem Ein­marsch in die Ukraine bei einer ins­ze­nier­ten öffent­lichen Sitzung des Natio­nalen Sicher­heits­rates vor lau­fen­den TV-Kame­ras selbst von Putin lächer­lich ge­macht wurde; da ist Sergei Shoigu, der Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter; da ist Igor Set­schin, der schon in Sankt Peters­burg als Putins Sekre­tär ar­bei­tete, mit ihm dann in Jelzins Präsi­dial­kabi­nett über­sie­delte und nun das Öl­kon­glo­merat Ros­neft lei­tet, das nach der Bünde­lung von eins­ti­gen Oli­gar­chen-Fir­men zu ei­nem staat­lichen Mega-Kon­zern wurde.

Da ist Gazprom-Chef Alexei Miller, auch er aus Jelzins Sankt Peters­burger Seil­schaft - als Chef des Hoch­see­hafens war er ge­wisser­maßen Ver­bindungs­mann zur or­gani­sier­ten Kri­mi­na­li­tät. Da ist Putins Sprecher Dimitrij Peskow, längst mehr als ein Presse­sekre­tär -seit 22 Jahren steht er schon dem Auto­kraten zur Seite.

Die meisten aus dieser Seilschaft stammen aus dem Sankt Peters­burger Klüngel und aus den Sicher­heits­appa­ra­ten. Sie se­hen sich als "Out­sider" am Kreml-Par­kett, sind Pro­vinz­ler, die Mos­kau "über­nehmen". Sie sind leise, ent­schlos­sene Macher, die "die Poli­ti­ker" ver­achten.

Die Führungsfiguren aus KGB-und Sicherheits­appa­raten, die mit Putin ge­mein­sam an die Macht kamen, sind all­gemein als die "Siloviki" be­kannt, was so viel heißt wie "die Harten", die "harten Männer".

Allesamt sind sie radikale Konservative mit Schlag­seite Rich­tung Fa­schis­mus, die Russ­land als anti­west­liche Macht sehen, das Land als ideo­lo­gi­schen Ge­gen­spie­ler der libe­ralen, plura­len Geistes­welt des Westens. Patru­schew ver­tritt die anti­west­lichen Ideen noch be­geis­terter und durch­ge­knallter, als das Putin tut. "Vater und Mutter wer­den im Westen in Eltern Nummer eins und Eltern Nummer zwei um­be­nannt", fan­ta­siert Patru­schew schon einmal, "Kinder dürfen sich ihr Ge­schlecht aus­suchen und in man­chen Ge­gen­den ist man schon so weit, dass die Ehe mit Tieren legali­siert wird."

Wie genau die Machtfäden in diesem Netz laufen, weiß nie­mand so recht. Gelegent­lich ist von einem "One-Boy-Net­work" im Kreml die Rede, also einem Beziehungs­ge­flecht, in dem Putin das allei­nige Zen­trum ist, mit Fä­den zu den an­deren, aber ohne be­last­bare Fäden zwi­schen den an­deren.

Dass Putin von jemandem aus dieser Macht­clique ge­stürzt wird, ist un­wahr­schein­lich. Noch un­wahr­schein­licher scheint ein Volks­auf­stand. Nicht ein­mal ein logi­scher Nach­fol­ger ist in Sicht -und das, ob­wohl Putin im Herbst 70 Jahre alt wird und zumin­dest äußer­lich ra­pi­de altert. Jeden­falls sieht er sicht­lich un­ge­sund aus.

"In Russlands Geschichte während des 20. Jahr­hunderts hat­ten wir die unter­schied­lichsten Peri­oden", hatte Boris Jelzin Mitte der 90er-Jahre in einem hell­sich­tigen Moment er­klärt. "Monarchis­mus, Totalitari­smus, Peres­troika, und, schließ­lich, den demo­kra­ti­schen Ent­wick­lungs­weg. Jede dieser Etap­pen", be­merkte Jelzin, "hatte ihre eigene Ideo­logie. [] Aber jetzt haben wir keine."

Vom ersten Tag der Herrschaft an konso­li­diert die Putin-Trup­pe nicht nur den Griff über das Land, sie ent­wickelt auch eine neue "Staats­ideo­lo­gie". Was Putin in sei­ner Millen­niums-Bot­schaft schon an­legte, wird im­mer mehr radi­kali­siert. Vier Kom­po­nen­ten hat diese Ideo­lo­gie: ers­tens die Idee von der "sou­veränen Demo­kra­tie", also einer ge­lenk­ten Schein­demo­kra­tie, in der ein star­ker Ein­ziger an der Spitze steht - der An­führer, Prä­si­dent, Zar.

Das zweite Element ist Patriotismus ver­bunden mit Volks­tüm­lich­keit. Das "Narod", ver­stan­den als "ein­faches Volk", mit sei­nem ge­sun­den Patrio­tis­mus.

Drittens: Territorium, das Reich, das Imperium des russi­schen Viel­völker­staates. 2005 be­zeich­net Putin den Zu­sammen­bruch der Sowjet­union als "die größte geo­po­li­ti­sche Katas­trophe" des 20. Jahr­hunderts. Min­des­tens Belarus, Geor­gien und vor allem die Ukraine werden als his­to­ri­scher Teil einer "Russkyj Mir", der "russi­schen Welt", ver­standen.

Das vierte Element dieser neuen imperialen Staatsidee ist ein Kon­ser­va­ti­vis­mus, der die Wer­te und die Spiri­tua­li­tät des "Narod" hoch­hält und eng mit der christ­lich­ortho­doxen Kir­che ver­bunden ist.

Und über all dem liegt, gewissermaßen als Guss, ein Gefühl der aggres­si­ven Ge­kränkt­heit. Putin, for­mu­liert der Slawist Riccardo Nicolosi, be­schreibt Russ­land als ein Volk der "Er­nied­rig­ten und Be­lei­dig­ten", er model­liere in seiner Rhe­torik Russ­land "als ein zu­tiefst ge­kränk­tes Land, das vom Westen wieder­holt be­leidigt und be­tro­gen worden sei".

2014, nach der Annexion der Krim, sagt Putin: "Wir wurden ein ums andere Mal be­trogen. Aber alles hat seine Grenzen."

Bei der Ausformulierung dieser Staatsphilosophie greift Putin auf reak­tio­näre Den­ker wie Iwan Iljin zu­rück, der in den 20er-Jahren von Lenin ins Exil ge­trie­ben und zu einem Bewun­derer Musso­linis und Hitlers wurde. "Putins Philo­soph eines russi­schen Fa­schis­mus", nennt ihn der His­to­ri­ker Timothy Snyder. Der Fa­schis­mus habe "ein ret­ten­des Über­maß an patrio­ti­scher Will­kür", attes­tiert Iljin -und er meint das po­si­tiv.

Je kleiner der Kreis einer verschworenen Truppe ist, deren Ideo­logie von der Vor­stel­lung ge­tra­gen ist, dass Russ­land vom Westen über­rumpelt, ge­fähr­det und im Inneren von Intri­ganten und Separa­ti­sten be­droht ist, umso größer kann auch die Paranoia sein, in die sich ein immer kleiner werden­des Küchen­kabi­nett selbst hinein­schraubt.

Dass Putin seit Jahren nur von Jasagern umgeben ist, neben seiner höf­lichen Seite auch eine sehr jäh­zor­nige Ader hat und die Speichel­leckerei ge­nießt, ist all­ge­mein be­kannt. "Irgend­wann stieg ihm das zu Kopf", meint Sergei Pugat­schow. Leute hiel­ten Toasts auf Putin mit Wen­dungen wie "du bist ein Geschenk Gottes", wundert sich Pugat­schow, "und er genoss das richtig­gehend".

Über Jahre hinweg gelingt es Putin und seiner Truppe, viele zu täu­schen und zu ver­wir­ren, da sie eine Art "post­moder­ne Dik­ta­tur" ent­wickeln. Sie ent­fachen einen Nebel, trom­meln eine Staats­ideo­logie, ver­sehen sie aber regel­mäßig mit einem Augen­zwinkern.

Eine Schlüsselrolle nimmt darin Wladislaw Surkow ein, ein ver­krach­ter Künstler und Theater­mann, aber auch ein genia­ler Krea­tiver, der als "Er­fin­der der russi­schen PR" und als "graue Emi­nenz" des Kremls be­zeich­net wurde. Sur­kow hört Punk­musik und Rap, schreibt Song­texte und model­liert das Image von Putin. Über lange Jahre ist er Vize­chef der Kreml-Ver­waltung und so etwas wie der oberste Spin­dok­tor, der ganz be­geis­tert ist von der Idee, man könne mit Spin­nen­netzen von Nar­ra­tiven die Öffent­lich­keit völlig mani­pu­lieren. "Ver­wir­ren ist das Ziel, Täu­schung ist Wahr­heit", schreibt er.

Er etabliert eine Wirklichkeit, in der sich niemand mehr aus­kennt, ist ein "Mario­net­ten­spieler", der das Land "aus der De­ka­denz Rich­tung Wahn­sinn treibt", so der bri­ti­sche TV-Jour­na­list Peter Pome­rant­sev, einer der besten Kenner dieses Sys­tems der Meinungs­mani­pu­lation: "Dies ist die Ge­sell­schaft, in der wir leben (eine Dikta­tur), aber wir be­trach­ten sie als eine Art Spiel."

Oppositionelle werden vergiftet und erschossen, der Anführer zu­gleich als "guter Dik­ta­tor" ins­ze­niert, die Des­po­tie senkt sich herab, und zu­gleich herrscht in der Kunst­welt ab­so­lute Frei­heit -solange nie­mandem auf die Zehen ge­tre­ten wird. Die Dik­ta­tur ist real, tut aber so, als wäre sie eine Show, eine Soap-Opera.

Über die Staatsmedien laufen nur mehr Fake News, bis ein­fach die to­tale Lüge herrscht, was zwar jeder weiß, aber nur zur Folge hat, dass jeder zynisch wird. Nichts ist ernst, am Ende aber doch töd­lich. Man redet den Men­schen ein, die Ukrainer er­morden sich ge­gen­seitig, und man inter­veniert, um ihnen Frie­den zu brin­gen. Zwei­fel säen, die Reali­tät als Simu­lakrum be­haup­ten, in der ja alles wahr sein kann, Lüge und Wahr­heit ein­fach nur gleich­wertige "Nar­rative".

Knapp vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe schlug die Nach­richt ein, Surkow, dieser wahr­schein­lich dämoni­schste Spin­doktor der Welt, sei von Putin unter Haus­arrest ge­stellt worden.

Putin spricht in einer Gossensprache, aber auch, um sich als "Normaler" zu positio­nieren, als harter Hund, als "einer von euch". Den Oli­gar­chen Oleg Deri­pas­ka nennt er schon ein­mal eine "Kaker­lake", er klopft Macho­sprüche, macht Ver­ge­walti­gungs-Witz­chen, Georgiens seiner­zeitigem Präsi­den­ten Michail Saakas­chwili droht er, er werde ihn "an den Eiern auf­hän­gen", und kri­ti­schen Jugend­lichen möge man "mit dem Knüp­pel eins über­ziehen", empfiehlt er.

Es ist stets spekulativ zu fragen, inwiefern die Struktur der Macht -also das "System", das eine Macht­clique eta­bliert -und die Per­sön­lich­keit, also indi­vi­duelle Charakter­züge des An­führers, auf­ein­ander ein­wir­ken. Offen­sicht­lich ist aber, wie per­fekt sie sich im Falle Putins er­gänzen. Putin ist routi­niert darin, eine freund­liche Miene auf­zu­setzen und zu­gleich Feinde zu ver­folgen. "Er ist ein klei­ner, rach­süch­ti­ger Mann", wie eine russi­sche Journa­lis­tin über ihn sagte.

Nur ganz selten blitzt das bei öffentlichen Auf­trit­ten auf, etwa bei Journalis­ten­fragen. Aber wenn, dann spürt man mit einem Mal den "un­ver­hoh­le­nen Hass" in Putin. Masha Gessen sagt: "Seine Freunde kannten ihn als jeman­den, der seinen Geg­nern fast die Augen aus­kratzte, wenn er wütend wurde."

Zahllose Episoden zeigen, mit welchem Vergnügen Putin "jeman­den vor Pub­li­kum demü­tigt", ohne die Stimme zu heben, wo­bei er eine kalte Ruhe aus­strahlt.

Ein Vertrauter aus jungen Tagen, dem Putin schon früh ent­hüllte, für den KGB zu ar­bei­ten, fragte sich immer wieder, was genau sein Be­kannter denn mache, was exakt seine Fähig­kei­ten seien. Irgend­wann merkte er, dass er nichts über Putin wusste. "Was kön­nen Sie?", fragte er Putin eines Tages. Der ant­wor­tete: "Ich bin ein Ex­perte für zwischen­mensch­liche Be­ziehungen."

Robert Misik in Falter 16/2022 vom 22.04.2022 (S. 11)

Posted by Wilfried Allé Sunday, May 1, 2022 11:31:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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