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Roman von Serhij Zhadan

In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt.

Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn „geparkt“ hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.
Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft. Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. Zhadan lebt in Charkiw.

Preis: € 22,70
Übersetzung: Juri Durkot
Übersetzung: Sabine Stöhr
Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 300 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.03.2018

Rezension aus FALTER 11/2018

Wenn nichts mehr so ist, wie es war

Serhij Zhadan erzählt vom Krieg in der Ukraine aus der Perspektive jener, die zwischen die Fronten gerieten

Wenn Menschen ums Leben kommen, Städte brennen, Tausende ihr Zuhause hinter sich lassen und fliehen müssen, dann ist es auch mit dem Alltag des Schriftstellers vorbei. Das sagte der ostukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan angesichts des Krieges zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten im Donbass vor vier Jahren in einem Interview mit Spiegel online. „Wir alle sind heute in einer Situation, in der es gilt, das Wichtigste zu behaupten: das Recht auf Freiheit, das Recht auf unseren souveränen Staat, das Recht auf unsere Zukunft. Ob man darüber schreiben kann? Man kann nicht, man muss.“
Als Sänger einer Band ist Zhadan in den letzten Jahren immer wieder in den Donbass gereist, um Konzerte zu geben und Hilfsmittel dorthin zu transportieren. Seine Texte sind von anschaulicher Direktheit, seine Beobachtungen von lakonischer Präzision. „Jeder Tote an der Front“, so Zhadan, „schürt den Hass, jedes zerbombte Haus provoziert Flüche, jeder Tag im Widerstreit ist ein weiterer Baustein an der endlosen Mauer, die wir jetzt zwischen uns errichten.“

Vom Krieg, vom Hass und dem tiefen Graben zwischen den Menschen im Donbass erzählt Serhij Zhadan nun auch in seinem neuen, beeindruckenden Roman „Internat“. Es ist die Geschichte einer Metamorphose: Der unpolitische, sich aus allem heraushaltende Lehrer Pascha bricht auf, um seinen 13-jährigen Neffen aus dem nahe gelegenen Internat abzuholen. Aber nachdem die Kriegshandlungen eingesetzt haben, ist die Situation brenzlig, die üblichen Kommunikationskanäle sind zusammengebrochen, auf die Infrastruktur ist ebenso wenig Verlass wie auf die Behörden, die sich in Auflösung befinden.
Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Stadt in eine bedrohliche, undurchschaubare Zone der Gewalt verwandelt. Wo eben noch Nachbarn waren, gibt es nun Flüchtende, wo eben noch Ordnung herrschte, regiert nun Willkür. Die kurze Reise zum Internat wird für Pascha zu einer surrealen Erfahrung, die auch ihn verändert. Er durchquert eine Landschaft, in der sich urbane und dörfliche Kulissen ablösen, die etwas Unwirkliches, Geisterhaftes, Apokalyptisches angenommen haben. Er begegnet Rohheit und Zynismus, Elend und Hilfsbereitschaft, und die Zeit dehnt sich, während er sich seinen Weg durch die einstmals vertraute, nunmehr vollkommen fremd gewordene Umgebung bahnt.
Unklar bleibt, wer hier überhaupt das Sagen hat oder seine Kompetenzen unrechtmäßig überschreitet – es ist ein rechtsfreier Raum, in dem fortwährend Kontrollen stattfinden, als müsste der Schein gewahrt werden, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Von Unterschlupf zu Unterschlupf kämpft sich der erschöpfte und zugleich hellwache Pascha weiter zu seinem Ziel, von seiner Angst und Mutlosigkeit weniger gelähmt als angetrieben.
Pascha erreicht schließlich das Internat, er findet seinen Neffen unversehrt, aber die Szenerie gleicht auch hier einer befremdenden Kriegslandschaft. Jede einzelne Begegnung auf seiner Odyssee lässt ihn die Orientierungslosigkeit stärker wahrnehmen. Und während er mit seinem Neffen durch Minenfelder und Kanonenfeuer im Zickzack zurückzufinden sucht in die noch verschonte Heimat, erkennt er nach und nach die Unhaltbarkeit seines bisherigen Lebens. Er wusste, wie ihm nun in aller Drastik vor Augen geführt wird, nichts über die Welt. Es ist eine existenzielle Erfahrung.
„Internat“ – das bedeutet im Ukrainischen auch Waisenheim. Und genau das ist diese Ostukraine, die aufgerieben wird zwischen den verschiedenen Interessen: ein Ort, an dem die heimatlos Gewordenen ums Überleben kämpfen.
Das Großartige an Zhadans Roman ist, wie sich hier Realitätspartikel und Albtraumsplitter auf gespenstische Weise vermischen. Fast schon parabelhaft erzählt „Internat“ von einer zeitenthobenen Schreckenssphäre: Die Bilder, die Zhadan von dieser dreitägigen Wanderung durch die versehrte Stadt zeichnet, sind von immenser Suggestivität. Man fühlt sich durch die Wucht der Sprache, die fortwährend gesteigerte Gereiztheit der Protagonisten, die zum Reißen gespannte Atmosphäre hineinversetzt in eine Zwischenwelt, in der das Alltägliche als Vorhölle erscheint.

Wo die Kampflinien verlaufen, ist kaum zu sagen. „Es schlägt ganz in der Nähe ein, vor allem aber schlägt es so ein, dass man nicht weiß, wohin es als Nächstes fallen wird. Die ganze Zeit Explosionen: mal hinter den Gleisen, mal hinter dem Boulevard. Alle drücken sich an die Wände, nach der Explosion hört man ein gedämpftes Heulen, dann wird es still. Bis die Stille hinter den Fenstern wieder reißt und das Heulen wieder anfängt. ,Es brennt!‘, ruft jemand am Eingang, und alle stürzen dorthin, schauen aus dem Fenster. Auch Pascha schaut hinaus, steht mitten in dieser Menschenmenge, die ihn vor einer halben Stunde noch fast mit ihren Goldzähnen zerrissen hätte, und sieht, wie hinter den Hochhäusern öliger schwarzer Qualm aufsteigt, so ölig und schwarz, als würden dort Leichen verbrannt.“
Zhadan erzählt von der Absurdität des Krieges – nicht aus der Perspektive der Soldaten, sondern aus dem Blickwinkel jener, die unversehens und unverschuldet zwischen die Fronten geraten.
In jeder Zeile sind die Erfahrungen spürbar, die der Autor auf seinen Reisen in den Donbass gesammelt hat und von denen ihm die Menschen erzählt haben. Zu einem Kunstwerk aber wird der Roman durch seine verstörende Szenerie und der von Juri Durkot und Sabine Stöhr brillant ins Deutsche gebrachten Sprache.

Ulrich Rüdenauer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 17)

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:57:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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