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Eine berührende Biographie

von Gertrude PressburgerMarlene Groihofer, Oliver Rathkolb

Gertrude Pressburger war zehn, als Hitler in Österreich einmarschierte. Obwohl die jüdische Familie katholisch getauft worden war, musste sie fliehen. Fast sechs Jahre dauerte die Flucht, die 1944 in Auschwitz endete. Gertrude überlebte den Holocaust – ihre Eltern und die zwei jüngeren Brüder wurden von den Nationalsozialisten umgebracht. Jahrzehntelang hat Gertrude Pressburger geschwiegen. Dass ein maßgeblicher Politiker in Österreich 2016 von einem drohenden Bürgerkrieg spricht, hat sie bestürzt. Per Videobotschaft warnte sie vor einer Rhetorik der Extreme. Dass ihre wahrhaftigen Worte Gehör finden, hat sie bestärkt, mit einer jungen Journalistin ihre Autobiographie zu schreiben: „Ich bin nicht zurückgekommen, um dasselbe noch einmal zu erleben.“

Preis: € 19,60
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 29.01.2018

Rezension aus FALTER 5/2018

Frau Gertrude erzählt ihre ganze Geschichte

Eine berührende Biografie schildert, wer die Frau ist, die die Präsident­schaftswahl für Alexander Van der Bellen im Finale mitentschied

Im Präsidentschaftswahlkampf kannte man nur ihren Vornamen. „Frau Gertrude“ war die Holocaust-Überlebende, die in einem Video klar und eindringlich vor einem Blauen in der Hofburg warnte. Über 3,9 Millionen Mal wurde ihre Botschaft gesehen, die 89-jährige Dame machte Schlagzeilen bis zur New York Times. 
Jetzt ist Gertrude Pressburgers Biografie erschienen, aufgezeichnet von der Journalistin Marlene Groihofer. Und endlich kennt man nicht nur ihren Nachnamen, sondern ihre ganze Geschichte. Sie ist besonders. Nicht nur, weil sie so klar, lakonisch und eindrücklich erzählt wird, sondern weil Pressburger die ganze Geschichte erzählt. Die Schrecken des Holocausts und die Schrecken der Verdrängung der Nachkriegszeit.
Groihofer überlässt Gertrude Pressburger die Erzählregie. Viele ihrer Gedanken beginnen in der Gegenwart und tragen sie zurück in die Vergangenheit. Sie handeln von Wiener Orten, die sie nicht aufsuchen kann, Nächte, in denen die schrecklichen Erinnerungen sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Jede Zeile ihrer Biografie ist eine Gegenrede zum Mythos der „Stunde null“, des großen Schnitts, den es im Jahr 1945 nach offizieller Darstellung ja gegeben haben soll. Doch diesen Neuanfang gab es nur für wenige. Vor allem für jene, die sich von ihrer Schuld abnabeln wollten.

Gertrude Pressburger wächst mit ihren beiden jüngeren Brüdern in Meidling in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familie ist jüdisch, die Kinder werden aber katholisch getauft – auf Wunsch des Vaters. Mit kindlich-naivem Blick erleben wir die Machtergreifung der Nazis und den Alltagsrassismus. Die Geschichte von der Pfanne, die jemand aus dem Gemeindebau auf die Mutter wirft und sie fast erschlägt. Das jüdische Zuckerlgeschäft nebenan, das von den Nazis geschändet wird. Die Sonderklassen, die sie als Schulkind plötzlich besuchen muss. Der Vater, der mit verschwollenem Gesicht aus der Gestapo-Zentrale am Morzinplatz zurückkommt und den sie zuerst gar nicht erkennt, weil er wie ein alter Mann ausschaut, obwohl er erst 34 Jahre alt ist. 
Im September 1938 flüchtet die Familie über Jugoslawien ins faschistische Italien, immer von der Angst begleitet, nach Deutschland deportiert zu werden. Im Frühling 1944 werden sie schließlich ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Gertrude, inzwischen 16 Jahre alt, wird als arbeitsfähig eingestuft, von ihrer Familie getrennt und überlebt als Einzige den Krieg mit Glück und viel Mut. Pressburger erzählt von der Frauensolidarität in den Baracken und dem grauenvollen Alltag so distanziert, dass es wehtut. Im November 1944 schwindelt sie sich in eine Arbeitskolonne für eine Philips-Fabrik ­hinein und entkommt dem KZ. Das Kriegsende erlebt sie in Padborg in Dänemark, danach verschlägt es sie nach Schweden, wo sie den späteren Kanzler Bruno Kreisky kennenlernt, der dort im Exil lebt. 

Kreisky besorgt der „Gerti“, wie er sie nennt, einen Pass und organisiert die Rückkehr nach Wien. Schweden? Israel? Gertrude Pressburger entscheidet sich für das „zerstörte Wien“ und ein Leben im „Feindesland“. Ein Arzt operiert ihr die KZ-Nummer weg, sie macht Karriere als Handelsangestellte und mit 35 bekommt sie von ihrem Mann Erich eine Tochter, ihr größtes Glück. „Das Leben mit meiner Tochter ist die beste Therapie, die ich bekommen konnte“, heißt es im Buch. 
Therapie ist auch das Buch selbst. Denn über ihre Erlebnisse reden konnte Gertrude Pressburger in all den Jahren nie. Gut für sie und Österreich, dass sie ihre Geschichte aufschreiben hat lassen.

Barbaba Tóth in FALTER 5/2018 vom 02.02.2018 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Saturday, February 3, 2018 1:38:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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