AZ-Neu

Die Informationsplattform für ArbeiterInnen, Angestellte, KMUs, EPUs und PensionistInnen

Lieferbar ab Jänner 2022

von Heidi Kastner

ISBN: 9783218012881
Reihe: übermorgen
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 128 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 14.10.2021
Verlag: Kremayr & Scheriau
Preis: € 18,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Dummheit begegnet uns in vielerlei Form – doch woran kann man sie er­ken­nen?“ Was ha­ben so unter­schied­li­che Dinge wie „alter­na­ti­ve Fak­ten“, men­schen­leere Be­geg­nungs­zo­nen in Satel­liten­sied­lun­gen und Schön­heits-OPs als Matura­ge­schenk ge­mein­sam? Heidi Kas­tner wagt sich an den auf­ge­la­de­nen Be­griff der Dumm­heit und be­trach­tet so­wohl die so­ge­nann­te mess­bare Intel­li­genz (IQ) so­wie die „hei­li­ge Ein­falt“ und die emo­tio­nale In­tel­li­genz, deren Feh­len im­men­sen Scha­den an­rich­ten kann. Was treibt Men­schen, die an sich ratio­nal-kogni­tiv nach­den­ken könn­ten, dazu, sich und an­dere durch „dumme“ Ent­schei­dungen ins Un­glück zu stür­zen? Wie ist kol­lek­ti­ve Be­reit­schaft zu Igno­ranz zu er­klä­ren und wa­rum nimmt die­ses Phäno­men schein­bar so ekla­tant zu? Gibt es einen Kon­sens da­für, dass lang­fris­tig fa­ta­les, aber un­mit­tel­bar sub­jek­tiv vor­teil­haf­tes Ver­hal­ten als „dumm“ an­zu­se­hen ist? Sind Ab­wägen und Nach­den­ken alt­mo­disch? Und was um Him­mels Wil­len ist so at­trak­tiv am Kon­zept des Leit­ham­mels, der uns das Den­ken ab­nimmt, oder des In­fluen­cers, der uns den ein­zig wah­ren Weg zeigt?

Falter-Rezension

„Querulanten sind unglückliche Menschen“

Was’ wiegt, des hat’s“, lautet eine bekannte Rede­wen­dung. Die in Linz ge­bo­re­ne und eben­dort als Chef­ärztin an der Landes­ner­ven­kli­nik tä­ti­ge Heidi Kas­tner scheint sie zu ihrer Lebens­ma­xime er­ho­ben zu ha­ben. Die in der Öf­fent­lich­keit recht prä­sente und medi­al nach­ge­fragte Medi­zi­nerin nimmt sich kein Blatt vor den Mund und hält sich nicht an poli­tisch kor­rekte Sprach­impe­ra­tive.

Auch nicht in ihrem soeben erschienenen Büchlein mit dem schlich­ten Ti­tel „Dumm­heit“. Kurz­wei­lig, un­aka­de­misch und un­eitel ver­sucht Kas­tner da­rin, ei­ni­ge kons­ti­tu­tive Merk­male der Dumm­heit zu be­stim­men. Sie unter­schei­det zwi­schen Intelli­genz­min­de­rung und Dumm­heit, lie­fert einen kur­zen his­to­ri­schen Ab­riss der Intel­li­genz­for­schung und kom­men­tiert das ak­tuel­le Ges­che­hen um Pan­de­mie und deren Be­gleit­de­bat­ten. Da­rü­ber hi­naus er­zählt sie teils ziem­lich komi­sche Fall­bei­spiele nach, die ihr in ihrer Tätig­keit als Ge­richts­gut­ach­terin unter­ge­kommen sind.

Dabei vermeidet es Kastner, in die Falle der Selbst­über­hebung je­ner zu tap­pen, die die Dumm­heit im­mer nur bei den an­de­ren kons­ta­tie­ren. Dum­me Hand­lungen, so heißt es an einer Stell­e, be­ruh­ten „auch auf un­zu­rei­chen­dem Wis­sen, aber nur dann, wenn man den ei­ge­nen Wis­sens­man­gel nicht als proble­ma­tisch erkennt“.

Falter: Naheliegende Einstiegsfrage: Wie dumm haben sich unsere Poli­ti­ker wäh­rend der Pan­demie ver­halten?

Heidi Kastner: (Lange Pause.) Ich weiß nicht, ob es Dummheit war. Für mich setzt Dumm­heit vor­aus, dass man für sich selbst einen Vor­teil sucht und Kol­la­teral­schä­den billi­gend in Kauf nimmt. Zu Be­ginn der Pan­de­mie war die In­for­ma­tions­grund­lage gleich null. Man hat auf Ber­ga­mo ge­schaut und sich ge­fürch­tet. Und wenn man zu die­sem Zeit­punkt sagt: „Es wird bald je­der je­man­den ken­nen, der an Coro­na ver­stor­ben ist“, dann ist das we­der mani­pu­la­tiv noch blöd, son­dern eine Prog­nose, die zwar falsch, in Hin­blick auf den da­ma­li­gen In­for­ma­tions­stand aber rea­lis­tisch war.

Eineinhalb Jahre und vier Lock­downs später sieht es aber anders aus.

Kastner: Der vierte Lockdown war ein kommuni­ka­ti­ver Super-GAU. Es ge­hört zum poli­ti­schen Ge­schäft, zu wis­sen, dass Krisen­kom­mu­ni­ka­tion ver­ständ­lich, ein­deu­tig und ein­stim­mig sein muss. Das war tat­säch­lich dumm.

Und die Entscheidung, ihn so lange hinauszuzögern …

Kastner: … war auch nicht klug. Man hätte bereits im Som­mer für den Fall einer dra­ma­ti­schen Ver­schlech­te­rung eine Impf­pflicht in den Raum stel­len, die recht­li­chen Ab­klä­run­gen vor­neh­men und den Ge­setzes­ent­wurf in Be­gut­ach­tung schicken kön­nen. Wir hät­ten dann die Demons­tra­tio­nen schon im Au­gust ge­habt, was nicht so dra­ma­tisch ge­we­sen wäre. Jetzt ren­nen relat­iv viele In­fi­zierte mas­ken­los und brül­lend durch die Ge­gend. Das ist ein idea­les An­steckungs­sze­nario.

Mit Überzeugungsarbeit richtet man bei solchen Leuten wohl nichts mehr aus?

Kastner: Wer nach einem Jahr der Debatten über Impf­ef­fi­zienz und über die be­kannten und neu ak­qui­rier­ten Fak­ten nichts davon wis­sen will, den wird man nicht mehr er­reichen.

Dafür kennen solche Leute „alternative Fakten“. Nur, wenn ich einen Mikro­chip in meine Ober­arm­mus­ku­la­tur in­ji­ziert be­komme – was genau rich­tet der an?

Kastner: Keine Ahnung. Der wird halt irgendwo „andocken“ und ver­heerende Din­ge an­rich­ten. Sol­che An­sich­ten kenne ich an­sons­ten nur von psy­cho­ti­schen Patien­ten. Die fah­ren sich dann mit dem Schrau­ben­zie­her ins Ohr oder boh­ren sich mit der Bohr­ma­schine den Zahn auf, um den Chip zu ent­fer­nen. Es ist ein­fach bloß ein Blöd­sinn, den man aber nicht mehr als sol­chen be­zeich­nen soll. Denn na­tür­lich muss man mit al­len­ re­den, alle ver­ste­hen und sich be­mü­hen, „die Ab­ge­häng­ten“ zu über­zeu­gen. Es gibt frei­lich Stu­dien, denen zu­folge ge­bil­dete Frauen mitt­le­ren Al­ters das Gros der Impf­ge­gner aus­machen. Von „abgehängt“­ kann da keine Rede sein.

Apropos. Wer sich die Auftritte von Dagmar Bela­ko­witsch an­schaut, dem wird klar, dass die ihre sie­ben Zwetsch­ken nicht bei­ei­nan­der hat. Wie kann so je­mand „Gesund­heits­spre­cherin“ werden?

Kastner: Na ja, da muss man sich fragen: von wel­cher Par­tei? Und das ist auch schon die Ant­wort. Der Herr Haim­buchner (Man­fred Haim­buchner, FPÖ-Landes­partei­ob­mann und Landes­haupt­mann­stell­ver­tre­ter Ober­öster­reichs so­wie ge­ne­se­ner Corona-Inten­siv­patient, Red.) ist nicht so gut bei­einan­der ge­wesen. Gar nicht gut. Also über­haupt nicht gut. Aber selbst der hat sei­ne Posi­tion nicht wirk­lich revi­diert, weil das in der FPÖ ohne voll­kom­menen Ge­sichts­ver­lust nicht geht. Ich habe in die­sem Zu­sammen­hang sehr oft an das den­ken müs­sen, was Hannah Arendt über die Stim­mung im Natio­nal­sozia­lis­mus ge­schrie­ben hat: Die Men­schen ha­ben al­les für mög­lich und nichts für wahr ge­hal­ten. In einer sol­che Situa­tion hat man dann ab­so­lut freie Wahl und kann sich auch ent­schei­den, den ab­stru­ses­ten Blöd­sinn zu glauben.

Als Erklärung für die Konjunktur von Verschwörungs­narra­tiven wird oft auf die große Ver­un­si­che­rung ver­wiesen.

Kastner: Es ist unüberschaubar geworden, was sich gegenseitig bedingt. Das sprich­wört­liche Fahr­radl, das in China um­fällt, kann tat­säch­lich Fol­gen für mich ha­ben. Warum, bit­te, krieg ich keine Dach­zie­geln mehr, wenn ein Schiff im Suez­kanal fest­steckt? Das ist auch für mich nicht mehr nach­voll­ziehbar.

Hat es nicht damit zu tun, ob man über ein gewisses Weltvertrauen ver­fügt oder nicht?

Kastner: Ich habe mit 23 promoviert und bin jetzt 59. Ich über­blicke also meh­rere Jahr­zehnte ärzt­li­cher Tätig­keit. Frü­her sind die Leute ge­kom­men, man hat sie durch­unter­sucht, eine Diag­nose er­stellt, und die ha­ben ge­sagt: „Aha, was kann man da ma­chen?“ Vor 25, 30 Jah­ren ging es los mit: „Ich hol mir eine zwei­te Mei­nung ein.“ – „Okay, machen Sie das.“ Und da­nach kam: „Ich muss mich erst er­kun­digen.“ Da wusste man schon, was folgt: „Ich habe im Inter­net nach­ge­sehen und weiß jetzt, was ich habe und brauche.“

Mit den exponentiell steigenden Möglichkeiten, an Informationen zu kommen, steigt auch das Miss­trauen?

Kastner: Ja. Das hat aber schon Anfang der 80er-Jahre begonnen, als die erste Aus­gabe von „Bit­tere Pil­len“ er­schie­nen ist. Da hieß es dann: „Ja, diesen Fir­men geht’s nur um den Ge­winn.“ Ja, no na. Die Pharma­indus­trie ist nicht die Cari­tas. Es kommt aber noch eines hin­zu: Man er­fährt vor al­lem da­von, wenn etwas schief­läuft. „Das Anti­bio­ti­kum hat Herrn Huber von der Pneumo­nie ge­heilt“ ist halt keine Schlag­zeile.

Die Schulmedizin ist generell in Misskredit geraten?

Kastner: Ja, nicht zuletzt durch die ganze Esoterik. Wozu die Ärzte­kam­mer aller­dings auch ein Scherf­lein bei­ge­tra­gen hat, in­dem sie zum Bei­spiel ein Fort­bil­dungs­curri­cu­lum Homöo­pathie an­ge­boten hat. Da hätte man auch gleich noch „Hand­auf­legen und Gesund­beten“ dazu­neh­men kön­nen. Der Haus­arzt, der alles über seine Patien­ten ge­wusst hat, ist auch ver­schwun­den. Aber klar, wenn der allei­ne da­sitzt und ihm die Leute die Ordi ein­re­nnen, kann er sich nicht für jeden eine Stun­de Zeit nehmen.

Der Arzt als Autorität hat abgedankt?

Kastner: Nicht nur der Arzt. Die gewiss auch frag­wür­di­ge Autori­täts­hörig­keit von seiner­zeit ist ins Ge­gen­teil um­ge­schla­gen: Den ober­gschei­ten Eli­ten glaubt man von vorn­herein ein­mal gar nichts. Un­längst habe ich mit einem Kol­legen ge­spro­chen, der eine Coro­na-Infor­mations­ver­an­stal­tung für Lehr­linge ge­macht hat. Er hat die aller­dings nach einer Viertel­stunde ab­ge­bro­chen, weil er an­satz­los mit „Oida, schleich di, red kan Schas!“ empfan­gen wurde. Der Mann ist 35.

In Ihrem Buch zitieren Sie den deutschen Psychi­ater Eduard Hitzig, der sich im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert mit dem „Queru­lan­ten­wahn­sinn“ be­fasst hat. Gibt es die­ses Krank­heits­bild noch?

Kastner: Ja. Und er hat das damals schon kor­rekt be­schrie­ben: Was auch im­mer die Re­gie­rung tun wird, diese Wahn­sin­ni­gen wird sie nicht über­zeu­gen kön­nen. Die Wis­sen­schaft ist ein­fach nicht im­stande, die Men­schen von ihren „ge­fühl­ten Wahr­hei­ten“ ab­zu­bringen.

Was macht das Wesen eines Querulanten aus?

Kastner: Das ist im Kern jemand, der aus seiner gefühl­ten Zu-kurz-Gekom­men­heit die Über­zeu­gung ent­wickelt, dass die Welt ein grauen­haf­ter Ort ist, in der er stets auf der Hut sein muss, weil er sonst im­mer und über­all über­vor­teilt und über den Tisch ge­zogen wird. Alles, was ihm be­geg­net, nimmt er durch die­sen Fil­ter wahr. Meine Groß­tante Wilhel­mine war die Gat­tin eines Ritt­meis­ters und hat in Hiet­zing ge­wohnt. Das Beste war für sie ge­rade gut ge­nug. Also haben ihre bei­den Schwes­tern in der Nach­kriegs­zeit, in der man ohne­dies nichts ge­kriegt hat, ihr unter un­glaub­li­chen Mühen ein Kasch­mir-Twinset be­sorgt. Als sie das Packerl auf­macht, bricht sie in Trä­nen aus: „Ihr wollt mir da­mit nur sagen, dass ich imm­er schlecht an­ge­zogen bin!“

Das ist ja wie ein Musterbeispiel aus Paul Watzlawicks „Anleitung zum Un­glück­lichsein“!

Kastner: Querulanten sind auch total unglückliche Menschen, weil alle Welt gegen sie ist. Und wenn sie da­gegen an­kämp­fen, ent­wickeln sie sich zu einem Michael Kohlhaas …

… den Kleist als einen der „rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen“ beschreibt.

Kastner: Ja, natürlich gibt es Anlässe, wo wirklich etwas falsch ge­laufen ist. Das pas­siert al­len. Nur wis­sen wir, weise wie wir sind: „Shit happens“ – und gehen wei­ter. Wohin­gegen sich der Queru­lant hi­nein­stei­gert und völ­lig verrennt.

Und ignoriert, dass er vielleicht nicht ganz so gerecht und edel ist, wie er gerne wäre.

Kastner: Ja, weil das ein Mindestmaß an Selbstreflexion und -kritik vor­aus­setzt. Das ist aber grad nicht sehr an­ge­sagt. Lie­ber geht man in Thera­pie, vor­zugs­weise zu je­man­dem, der einem die eige­ne Mei­nung be­stä­tigt. Und wenn man nicht gleich „ver­stan­den“ wird, kann man den Thera­peuten ja wechs­eln, bis man end­lich einen fin­det, der „passt“.

Im Zusammenhang mit der Pandemie ist viel vom Versagen der Politik die Rede. Das Wort „Eigen­ver­ant­wor­tung“ kommt eher selten vor.

Kastner: So wie im Schulkontext seit längster Zeit auch immer nur die Lehrer oder Schul­psycho­lo­gen schuld sind, wenn ir­gend­et­was nicht hin­haut beim Kind. Aber nie­mand nimmt die El­tern als Er­zie­hungs­be­rech­tigte in die Pflicht. Jetzt ist eben die Poli­tik da­für ver­ant­wort­lich, wenn sich die Men­schen nicht in­for­mieren oder sich nicht mehr als Teil eines größe­ren Gan­zen ver­ste­hen, für das sie auch mit­ver­ant­wort­lich sind.

Sie spielen auf die Situation in den Spitälern und den Inten­siv­sta­tionen an?

Kastner: Ja. Es ist kein Einzelfall, dass jemand eine dringend nötige Opera­tion nicht be­kommt und auch nie mehr be­kom­men wird, weil er oder sie in­zwi­schen ge­stor­ben ist. Die Leu­te auf den Warte­lis­ten ster­ben weg. Und dann meint eine Pas­san­tin im „ZiB“-Inter­view: „Ja, die Leute ster­ben halt. Das kommt vor.“ Ob sie das auch sa­gen würde, wenn sie selbst drin­gend ein Inten­siv­bett bräuchte? Das Recht auf Le­ben ist das funda­men­talste Men­schen­recht. Wenn ich meine Frei­heit, nicht ge­impft zu wer­den, be­an­spruche, spreche ich ande­ren in­di­rekt das Recht auf zeit­nahe Be­hand­lung und damit das auf kör­per­liche Un­ver­sehrt­heit oder gar das Le­ben ab. Das ist bru­tal, ego­is­tisch und wirk­lich nicht klug.

Apropos brutal: Was in letzter Zeit leider für Aufmerksamkeit gesorgt hat, sind die hier­zu­lande sehr ho­hen Ra­ten von Mor­den an Frauen. Was sind Ihrer Mei­nung nach die Ur­sachen dafür?

Kastner: Wir haben hierzulande mehr Morde an Frauen als an Män­nern bei einer ins­ge­samt sehr ge­rin­gen Mord­rate. Män­ner ster­ben eher bei es­ka­lie­ren­den Raufe­reien oder im Kon­text von Banden- be­ziehungs­weise or­gani­sier­ter Krimi­na­li­tät, und da­von gibt es in Öster­reich nicht sehr viel. Wir ha­ben al­ler­dings den glei­chen An­teil an ge­tö­teten Frauen aus den über­all üb­li­chen Grün­den. Wo­bei man auch sagen muss, dass die im­por­tierte Ge­walt recht hoch ist: Der Aus­län­der­an­teil bei Femi­ziden liegt bei 30 Pro­zent. Die sind bei Mord­delik­ten also deut­lich über­re­prä­sen­tiert. Aber natür­lich bleibt im­mer noch ein ge­rüt­telt Maß an Frauen­morden, die von „ge­stan­denen Öster­rei­chern“ be­gan­gen werden.

Wobei man zu dem nunmehr sehr häufig verwendeten Begriff „Femizid“ viel­leicht sa­gen sollte, dass das hier­zu­lande keine legi­time Praxis und etwas ande­res ist als eine Steini­gung in der Scharia?

Kastner: Es ist etwas anderes, aber das Endergebnis ist das Gleiche: Die Frauen sind tot. Und die Me­dien be­rich­ten über sol­che Fälle dann als „Fami­lien­tra­gö­dien“ und spre­chen da­von, dass der Mann „die Tren­nung nicht ver­kraf­tet“ und „aus Ver­zweif­lung“ seine Frau um­ge­bracht hat … Hallo?! Ich kann das Gere­de von der Ver­letz­lich­keit der Män­er nicht mehr hören. Er hat sich selbst er­mäch­tigt, ihr das Le­ben zu neh­men. Das ist ein bru­ta­ler, meis­tens ein ge­plan­ter Mord. Und den soll man dann auch als sol­chen be­zeich­nen und nicht als „Fami­lien­tra­gö­die“ oder „Be­zie­hungs­drama“.

Ich frage mich allerdings, an wen es sich richtet und was es bringt, sich einen „Stop Femicide“-Button an die Jacke zu pinnen?

Kastner: Gar nichts. Das ist ja nicht wie bei einem Karussell, wo man auf einen Knopf drücken kann und es hört auf, sich zu dre­hen. Man wird auch nie alle Frauen­morde ver­hin­dern kön­nen, weil ein Teil der Tä­ter völ­lig un­auf­fäl­lig ist. Der Kitz­büh­ler Fünf­fach­mör­der hat seine Freun­din nie ge­schlagen, er hat sie nicht kon­trol­liert, war nicht einmal eifer­süch­tig. Er war bloß deut­lich älter als sie und halt fad. Als sie et­was unter­neh­men wollte, ist er mit ihr in den Alpen­zoo ge­gangen. Das ist viel­leicht pat­schert, aber nicht böse. Sol­che Typen, die auf eine Tren­nung mit einer völ­lig radi­ka­len Ver­wer­fung rea­gieren, wird man nie raus­fil­tern können.

Es gibt aber genug andere, die davor schon auffällig geworden sind?

Kastner: Ja, klar. Das ist dasselbe wie bei der Brunnenmarkt-Geschichte (2017 erschlug ein psy­chisch kran­ker Keni­aner eine Frau mit einer Eisen­stange, Red.): Da hat es zig Hin­weise ge­geben, die von unter­schied­li­chen Poli­zei­dienst­stellen be­ar­bei­tet wur­den, aber keiner hat die ge­sammelt und sich an­ge­sehen. Diese unter­las­sene Ver­net­zung von Infor­ma­tio­nen und aus­blei­bende Aus­wer­tung ist zu­weilen schlicht töd­lich. Beim BKA gibt es eine total gute Grup­pe, die nennt sich VHR, Victims at Highest Risk, die ganz sorg­fäl­tige und fun­dierte Risi­ko­ein­schät­zungen durch­führt. Die kön­nen aller­dings auch nur die Fäl­le prü­fen, die man an sie heranträgt.

Das Männerbild ist hierzulande jedenfalls noch ein recht archaisches?

Kastner: Mir scheint, dass es in letzter Zeit sogar Aufwind be­kom­men hat. Eine Par­tei wie die FPÖ ist zwar ge­gen Mi­gran­ten, müsste aber eigent­lich froh sein über die Zu­wan­de­rung, denn was das Frauen­bild an­be­langt, sind sie sich eigent­lich einig: Die Frau soll zu­hause blei­ben und den Mund halten.

Und die tradierten Rollenbilder werden in der Familie weiter­gegeben?

Kastner: So ist es. Ich weiß persönlich von einem Fall, der sich vor drei, vier Jahren zu­ge­tra­gen und unter „ge­stan­denen Öster­reichern“ ab­ge­spielt hat. Der Sohn einer Familie, von der man wusste, dass der Mann die Frau drischt, kam in die Volks­schule, und da steht eine Frau Leh­rerin. Was macht der Bub? Er geht zu ihr und sagt: „Du bist a Weib und schaffst mir gar nix an.“ Das, was er halt zu­hause hört und vor­ge­lebt bekommt.

Was ist dann passiert?

Kastner: Man würde annehmen, dass die Schule die Erziehungs­be­rech­tig­ten her­be­stellt und ihnen er­klärt, dass das so nicht geht. Weit gefehlt. Man hat den Buben in eine Klas­se mit einem Leh­rer ver­setzt. Und so­lange sol­che Kon­flikte so ge­re­gelt wer­den, braucht man sich nicht groß zu wun­dern. Das mag in Wien-Neubau etwas an­ders sein, aber in wei­ten Tei­len des länd­li­chen Raums ist Frauen­ver­ach­tung im­mer noch all­täg­lich ge­lebte Realität.

Sie haben jahrzehntelange Erfahrung als Gerichtsgutachterin. Wie haben sich die Moti­va­tions­lagen und die Art der Ver­bre­chen im Laufe der Zeit ve­rändert?

Kastner: Wie überall gibt es auch in der Kriminalität Mode­er­schei­nungen be­zie­hungs­weise ist das Straf­recht auch im­mer Aus­druck der ak­tuel­len ge­sell­schafts­poli­ti­schen Ver­fasst­heit. Der Tat­be­stand der be­harr­lichen Ver­fol­gung, des Stal­king, ist noch rela­tiv jung. Das hat man frü­her halt ein­fach aus­hal­ten müs­sen. Es hat nicht einmal einen Namen gehabt.

Was meinten Sie mit „Modeerscheinungen“?

Kastner: Na, zum Beispiel, dass heute kaum jemand ent­führt wird. Man kann noch so wich­tig und ver­mö­gend sein, aber man wird nicht mehr ent­führt. Das ist ja fast schon krän­kend. Außer­dem schreibt heute kein Men­sch mehr ano­nyme Drohbriefe.

Mediziner und Wissenschaftler, die sich öffentlich für die Impfung aussprechen, müssen aber damit rechnen, Morddrohungen zu erhalten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Kastner: Wenn, dann kriegt man Mails und keine Briefe. Es ist sicher schon zehn Jahre her, dass ich ein ziem­lich graus­li­ches Mail er­hal­ten habe, in dem man mir an­ge­kün­digt hat, wie man mich gerne um­brin­gen würde. Die Spur dazu hat sich bei einem Ser­ver in der Ukraine ver­laufen. Ak­tuell er­halte ich keine Dro­hun­gen, son­dern nur Be­schimpfungen.

Auch nicht schön.

Kastner: Nein, aber if you can’t stand the heat, get out of the kitchen.

Klaus Nüchtern in Falter 49/2021 vom 10.12.2021 (S. 26)

Heidi Kastner im Standard-Interview mit Anna Giulia Fink ->

Posted by Wilfried Allé Friday, December 31, 2021 3:24:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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