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Wurzeln 

Die trügerischen Mythen der Identität

von Maurizio Bettini

Ein heilsames Vademecum gegen die Leitkultur- Debatte, eine kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Missbrauch von Tradition und Geschichte.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von unseren »Wurzeln« sprechen? In unsicheren Zeiten beschwören wir (statt der Zukunft) gern Geschichte und Tradition, unser kulturelles Erbe, die gemeinsame Identität. Doch Bilder und Metaphern sind keineswegs unschuldig. Mit dem der »Wurzeln« – so Bettini – drücken wir aus, dass unsere Welt so bleiben soll, wie sie ist. Wir wehren uns gegen Wandel und grenzen uns von anderen ab, deren eigenen kulturellen Wurzeln wir keineswegs dieselbe Wertschätzung entgegenbringen.
Die Metapher suggeriert etwas Naturgegebenes, im wahrsten Sinne »Fundamentales«, eine quasi automatische Zugehörigkeit. Dabei wissen wir eigentlich, dass auch unsere Kultur wie alle anderen durch Aneignung, Wandel und Vermischung mit fremden Einflüssen entstanden ist; dass die vielzitierte kollektive Erinnerung oft nicht mehr ist als persönliche Nostalgie.
Mit funkelnder Ironie umkreist Bettini die vielen Spielarten unserer neuen identitären Obsession: von wiederentdeckten, wenn nicht gar erfundenen Traditionen bis zur Inflation von Gedenktagen, vom Kult der Authentizität und Ursprünglichkeit bis zur Idealisierung von Großmutters Küche. Maurizio Bettini, geb. 1947, lehrt als Professor für klassische Philologie an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Mythologie und Anthropologie und schreibt regelmäßig für »La Repubblica«.
Wurzeln
 
Preis: € 16,50
Übersetzung: Rita Seuß
Verlag: Kunstmann, A
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.02.2018


Rezension aus FALTER 11/2018

Verabsolutierung des Eigenen und Provinzialismus

Wurzeln: Maurizio Bettini legt ein Plädoyer gegen identitäre Bewegungen und für die freie Gesellschaft vor

Die Figur auf dem Buchumschlag macht schon klar: Wurzeln sind dem Autor nicht geheuer. Sie wachsen dem Menschen auf dem Cover aus den Füßen beziehungsweise ist er durch sie mit dem Boden verwurzelt und muss wie ein Baum an Ort und Stelle stehen. Wurzeln beengen – lautet die These von Maurizio Bettini. Sie schmälern unseren Blick auf die Gegenwart, auf die kulturelle Vielfalt, auf unsere Freiheit, Ungebundenheit und unsere Möglichkeiten. Er sieht die pluralistische Gesellschaft in Gefahr, wenn neue Bewegungen Begriffe wie „Identität“ oder „Wurzeln“ von Rechtsaußen okkupieren und über Nationalstaatliches stülpen.
In Deutschland wurde der Begriff „Heimatministerium“ salonfähig, und die FPÖ forderte ein „Heimatschutzministerium“. US-Präsident Trump rief protektionistisch „America first!“ und es ging um die christlichen Wurzeln, die wieder heraufbeschworen wurden. Italien, Polen und Irland wollten sie in der Präambel einer europäischen Verfassung verankern, die allerdings nicht zustande kam. Gleichzeitig leben wir in einer mobilen globalen Gesellschaft. Nie zuvor gab es so viel Anknüpfung und Bezugspunkte zu anderen Kulturen. Ganz ohne Verlust der persönlichen Identität bereichern uns diese Erfahrungen und schärfen den Blick sowohl auf Gewohntes als auch auf Neuartiges.

Dass Identität schwer zu definieren ist, verleiht der Metapher der Wurzel ihre Popularität, mag sie auch noch so abgedroschen sein. Wurzeln sind ein sprachliches Bild, das eine Tradition und die daraus abgeleitete Identität als biologisches Schicksal oder unvermeidliches Erbe beschreibt. Aber Tradition ist keine genetische Anlage, die sich mechanisch von einer Generation zur nächsten überträgt, meint Bettini, sondern wird Schritt für Schritt aufgebaut.
Geht es nach ihm, so sind Muster rekonstruiert und erlernt: mit der Schrift verbreitet, mit Sprache und Tracht zur Schau gestellt und besonders im Bereich der Kulinarik verklärt.
Dabei ist der Apfel quasi ein Integrationswunder aus Kasachstan, und die Marille kam aus Armenien zu uns. Der gebürtige Toskaner bringt aber natürlich das Beispiel Polenta. Er schont sich selbst nicht und relativiert an seinem eigenen Beispiel den nostalgischen Schleier, der ihm den Blick zurück trübt, wenn er sich an seine Jugend in Livorno erinnert.
Im italienischen Original, unter dem Titel „Radici. Tradizioni, identità, memoria“, ist sein Büchlein 2016 übrigens als eine Weiterentwicklung des Essays „Contro le radici“ (Gegen die Wurzeln, 2012) erschienen. Der kleine, feine Kunstmann-Verlag war auf der Suche nach interessanten Stoffen zum Thema Identität. Er hatte dazu zuletzt 2013 den Titel „Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“ des Belgiers Paul Verhaeghe im Programm. Bettinis Buch kam da gerade recht.

Der Professor für klassische Philologie lehrt an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Dementsprechend liefert er zuerst eine Begriffsklärung und warnt dann mit historischem Unterfutter vor dem Phänomen der sozialen Ausgrenzung. Den 19 knappen Kapiteln schließt sich ein übersichtliches, umfangreiches Quellenverzeichnis an.
Künstliche ethnische Zuschreibung und erfundene Tradition polarisieren und spalten die Gesellschaft. Das zeigt er nicht nur anhand von Beispielen aus der Antike. Besonders erhellend und erschreckend ist die Schilderung der Hintergründe des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi. Die imperialistischen Europäer projizierten Wurzeln und Unterschiede, wo vorher keine waren, und spalteten Ruandas Bevölkerung in zwei Gruppen – eine tragische und paradoxe Situation, die in Krieg mündete.
Bettini beruft sich auf den Schriftsteller Fernando Pessoa, wenn er Folgendes verdeutlicht: Wenn man das Eigene verabsolutiert, führt das immer zu Provinzialismus. Einerseits sind wir so geschichtsvergessen, dass wir, wie der Zeit-Kolumnist Harald Martenstein sagt, die Vergangenheit mit ihren Fehlbildungen ausradieren möchten. Andererseits verklären wir Vergangenes und gehen davon aus, dass wir ausgerechnet heute wissen, was die einzige Wahrheit ist.

Doch Kultur ist kein monolithischer Block. Sie verändert sich. Es geht nicht darum, etwas zu verleugnen, sondern mit ungetrübtem Blick zu sehen und für sich selbst zu definieren, wer man ist und welche Werte für einen gelten. Wer das plumpe Argument der Wurzeln vorschiebt, läuft Gefahr, sich mit reaktionärer Sicht zu erinnern, Vergangenes aufzuwärmen und zu überhöhen, was längst nicht mehr zeitgemäß ist, aber auch früher nicht die heute fantasierte Kraft besaß. Selbst Griechenland sei als einzige Wiege der Demokratie erst im Nachhinein in einer Art Heilsgeschichte (v)erklärt worden.
Als Basis für eine Leitkulturdebatte, die nicht an der Oberfläche bleibt, bietet sich Bettinis kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung im Schlepptau von reaktionärer Idealisierung an. Er zerlegt abgedroschene Metaphern unter Berücksichtigung der Erkenntnisse von Etymologie, Biologie, Kulturgeschichte und Rhetorik. Und er betont, dass die gerne bemühte „Tabula rasa“ auch keine Option darstellt. Als Wappnung gegen populistische Vereinnahmung propagiert er das Grundgerüst der Werte der Aufklärung.
Eine zukunftsfähige Tradition beinhaltet für den Autor Menschlichkeit, Toleranz und Offenheit. Diese europäischen Werte kann man besser verteidigen, wenn der Blick nicht engstirnig und der Standpunkt nicht festgenagelt ist. Statt den Wurzeln schlägt er die Metapher des fließenden Stroms mit vielen Einflüssen aus Nebenflüssen vor, die die Identität im wahrsten Sinne „beeinflussen“.

Juliane Fischer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 35

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:12:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Liebe in Zeiten des Kapitalismus 

Unsere Gesellschaft in zehn Thesen

Wie funktioniert die Liebe in Zeiten des Kapitalismus? Warum sehnen wir uns nach Sicherheit? Was wird uns die Zukunft bringen? An welchen Gott wollen wir noch glauben? Warum finden wir Geiz geil? Was bedeutet uns Freiheit? Welche Konsequenzen hat Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung?
Robert Misik, der renommierte Sachbuchautor, macht sich Gedanken zu unserer Gegenwart. Anhand zehn exemplarischer Begriffe, die Zeitgeist und Verfasstheit unserer Gesellschaft treffend skizzieren, geht er der Frage nach, welchen Paradigmen wir unsere Leben unterwerfen. Robert Misik, arbeitet regelmäßig für die in Deutschland erscheinende taz sowie für die in Österreich erscheinenden Zeitschriften profil und Falter, des Weiteren betreibt er auf der Homepage der Tageszeitung Der Standard einen Videoblog. Er ist Sachbuchautor, etwa des Theoriebestsellers Genial dagegen, publizierte bisher bei Aufbau und Picus. Jüngste Publikation: Was Linke denken, 2015.

Preis: € 19,90
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

Rezension aus FALTER 9/2018

Misiks Stichworte zur geistigen Situation der Zeit

Publizist Robert Misik hat ein unterhaltsames wie kluges Handbuch für kritische Zeitgenossen geschrieben

Denken ist das größte Abenteuer. Es gibt kein entschiedenes Handeln, das mit zahmem Denken einhergeht: Stay Strong, Stay Brave, Stay Rebel!“, schreibt Robert Misik im Vorwort seines neuen Buches „Liebe in Zeiten des Kapitalismus“.
Es wäre zu gefällig zu schreiben, dass das Denken eine Renaissance erlebt. Gedacht wurde immer, neu (oder besser gegenwärtig) ist, dass sich wieder mehr Menschen für Theorien und Erklärungsmuster und damit auch für Handlungsanweisungen interessieren.
In Zeiten der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, nach bald zehn Jahren der Wirtschafts- und Politikkrise, die Trumpismus, Orbánismus und Kurzismus an die Macht gebracht hat, im Angesicht neuer Religionen wie Apple und neuer sozialer Gesellschaftsformen wie Facebook, sucht man nach Antworten. Was ist los mit uns? Was sind unsere Werte? Ist das noch meine Welt? Und wenn nein, wo ist hier der Ausgang?

Misiks Antworten und Wegweiser sind zeitgemäß mit Hashtags versehen und in 33 kurze Kapitel verpackt. Jürgen Habermas’ „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“, erschienen 1979, waren ihm dabei Vorbild. Der Vielschreiber griff dabei auch auf Vorlesungen, Vorträge und Essays zurück, die er in den letzten 17 Jahren für die taz, den Falter, das Profil und den Standard geschrieben hat. Das macht das Buch – im Unterschied zu vielen klugen, aber langweiligen wissenschaftlichen Publikationen – erfreulich gut lesbar und zugänglich.
Wer gerade frisch verliebt ist, blättert beispielsweise zum Kapitel #Liebe, das Misik klugerweise mit den Schlagworten #Kapitalismus und #Tinderisierung zusammenfasst und in dem er uns eine Tour d’Horizon über den Einbruch der Konsumkultur und der Selbstoptimierung in unser Beziehungsleben gibt. Es geht um „sexuelle Performance“, also Sex als Leistung, um unsere Vorstellungen von romantischer Liebe, die im Grunde ein Klischee westlichen Upperclass-Kapitalismus sind – Kerzenlichtdinner, Schampus und Erdbeeren, ein Trip nach Venedig.
Sein ganzes Können als philosophischer Feuilletonist und feuilletonistischer Philosoph spielt Misik bei Begriffen wie #Spiessigkeit oder #Ironie aus, die er mit Witz, Leichtigkeit und sehr viel Selbstironie seziert. Wir erfahren nicht nur Autobiografisch-Anekdotisches, etwa wie Misik – bekanntermaßen selbst dem Gestus des Intellektuellen gehorchend mit wildem Haar, Lederjacke und im Sommer auch schon einmal bloß im Ruderleiberl – einmal verzweifelt die Polizei rief, weil das Männermodel unter ihm unentwegt Party feierte und er nicht mehr schlafen konnte. Zudem liefert uns Misik natürlich auch klassische Zugänge der kritischen Soziologie. Weil Waren heute „Kultur-Waren“ sind, imitieren Firmen den „Gestus der Avantgarde – immer neu, immer hip, immer am Puls der Zeit. So wurde auch die Schrägheit, wie die Spießigkeit, zu einem Lifestyle unter vielen“, schreibt Misik.

Kritisch geht Misik auch mit der #Ironie ins Gericht, die ihre „große Zeit hinter sich“ habe, wenn sie „sich selbst zur stets gegenwärtigen Dauerironie verallgemeinert“. Zwar sei „die totale Ironieunfähigkeit“ immer noch „unerträglicher als die Totalironie“, aber trotzdem habe die Ironie uns in eine Sackgasse manövriert.
In der Süddeutschen Zeitung würdigte Heribert Prantl die Geschwister Scholl, die vor 75 Jahren von einem Unrechtsrichter zum Tode verurteilt wurden, als Heldinnen des Widerstands gegen Adolf Hitler. Das Deutsche Grundgesetz kennt Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und – anders als das österreichische – auch Artikel 20 Absatz 4. Gegen jeden, der es unternimmt, die Grundrechte zu beseitigen, haben „alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Deutsche Juristen nennen das „kleiner Widerstand“. Widerspruch, Zivilcourage, Whistleblowerei, Gutmenschentum.
Misik hat ein kleines, feines Handbuch für jene geschrieben, die an den kleinen Widerstand glauben.

Barbaba Tóth in FALTER 9/2018 vom 02.03.2018 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 28, 2018 12:56:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Ende der Kreidezeit 

Ein bisschen Schule - und der irre Rest des Lebens

von Niki Glattauer

Schule war gestern, diesmal geht es um den Rest des Lebens. Bestsellerautor Niki Glattauer, nebenberuflich berühmtester Schuldirektor Österreichs, legt in seiner neuen Satire den Kreidefinger auf die Wunden unserer digitalen Irrwitz-Gesellschaft: Navis mit bitterbösem Eigenleben, Do-it-Yourself-Kassen im Supermark ohne t, Callcenter in Kalkutta, ländliche Orte ohne Kerne, und – wohin man starrt – Handys, Handys, Handys. Glattauers Heldin ist die aus seinen „Lukas ...“-Büchern („Österreichischer Buchliebling“, Belletristik, 2014) bekannte Mathe-Lehrerin Reingard Söllner. Pointenreich, vergnüglich und surreal überzeichnet führt Glattauer die alleinerziehende Mutter durch den Wahnsinn „Alltag“, er lässt sie wütend werden, lachen, verzweifeln, staunen – und beim Bärlauchpflücken zwischen galoppierenden, selbstfahrenden Gigalinern sogar ihr kleines Glück finden. Glattauer eben.

Preis: € 24,90
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Natur, Technik/Astronomie
Umfang: 196 Seiten
Erscheinungsdatum: 05.02.2018

 

Rezension aus FALTER 8/2018

 

Nicht Pippi hat ein Problem

Kinder & Smartphones: Die wahren Fallen der Verdigitalisierung sind andere

Mein Sohn, 9, ist so einer: Als er in der Kapuze seiner Winterjacke Kastanien sammelte, sagte er nicht: „Ich tu die Kastanien in die Kapuze“. Er sagte: „Ich tu die Kastanien in den Speicherplatz da.“ Und meine Tochter, 15, ist so eine: Wenn du sie ein Mal ohne Stöpsel in ihren Ohren aus dem Zimmer kommen siehst, in dem sie ihre Pubertät zuzubringen pflegt, fragst du dich irritiert, was in ihrem Gesicht plötzlich nicht stimmt.
Was ich damit sagen will: Meine Kinder sind beide genau wie diese Pippi Langstrumpf 2.0 auf den Illus in der letzten Falter-Ausgabe, die die Welt vor allem per Display wahrnimmt. Und trotzdem schrillen bei mir die Alarmglocken, wenn ich sehe, wie Menschen 30+ plötzlich konzertiert gegen das Handy mobilisieren und eine Phalanx bilden, um den Untergang des Abendlands zu beklagen, oder zumindest den der Kindheit.

Bestimmt. Der Smarttrottel macht etwas mit uns. Und mitunter höchst Unerfreuliches. Ich sehe junge Menschen, die nur noch miteinander reden, wenn sie gerade kein Netz haben, und ihre Eltern höchstens dann ansprechen, wenn ihr Smarttrottel leider lädt; ich stelle fest, dass das, was einmal ein ordentlicher Fußgängerfließverkehr war, inzwischen vollkommen zum Erliegen gekommen ist, weil die Blicke sämtlicher Beteiligten 20 Zentimeter unter dem eigenen Kinn wieder enden; und ich sehe Menschen im strömenden Regen stehen und auf der Wetter-App nachschauen, ob sie einen Schirm brauchen. Ich nenne das in meinem neuen Buch das „Ende der Kreidezeit“ – wir analogen Menschen sind die Dinosaurier unserer Zeit.
Ich kenne aber auch Mütter, die seit Jahren keine TV-Serie auslassen und jetzt ihre Kinder dafür kritisieren, am „digitalen Tropf“ zu hängen; ich weiß von Vätern, die es schaffen, sogar beim Sex mit ihrem Arbeitsplatz zu telefonieren oder eingehende Mails zu checken, aber für den Fortpflanz (© Polly Adler) mit erhobenem Zeigefinger handyfreie Zonen, Tage und sogar Schulen fordern. Und die heftigsten Ex-68er sprechen sich plötzlich für den kalten Entzug von Drogen aus, solange es sich bei diesen um iPhone, Smartphone, Tablet & Co handelt.

Überhaupt, warum wird alles, was jemand mit Leidenschaft tut, als Sucht abgestempelt? Ich bin auch nicht radiosüchtig, nur weil ich mir, so oft ich kann, das Radio aufdrehe, oder fernreisesüchtig, nur weil ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit so weit wie möglich verreise. Oder das: Da kriegt eine wochenlang ihren Kopf nicht hoch, isst nur nebenbei und zwischendurch, redet nicht, reagiert nicht, wenn man sie anspricht, benimmt sich, als lebte sie in einem Paralleluniversum, weil sie nämlich, nein eben nicht …, sondern BÜCHER VERSCHLINGT.
Bezeichnen wir jemanden, der oder die gern und viel liest, abwertend als süchtig? Unterstellen wir solchen auch Kontaktunfähigkeit und Soziopathie und diskutieren dann über die Höhe der maximal zulässigen Dosis, pro Tag 30 Minuten Lesen für Zehnjährige sind genug, ab 15 Jahren 60 plus ein bücherfreier Tag, so was? Meine beiden Kinder sind Leseratten, sind ziemlich gut in der Schule, haben einen wachen Geist und eine ausgeprägte Empathiefähigkeit, und das, obwohl wir den Smarttrottelgebrauch in all den Jahren nie groß reglementiert oder gar verboten haben. Ein paar Tabus gibt es: Kein Kasterln (so heißt glattauerintern das mentale Versinken in elektronischen Quadern aller Art) beim gemeinsamen Essen, keines bei der gemeinsamen Fahrt in einem Öffi, keines nach dem Zubettgehen, keines, wenn Freunde oder Freundinnen zu Besuch sind. Den Rest der Zeit verbringen wir alle mehr oder weniger online. Nicht selten stundenlang.

Und nur als Gedanke jetzt: Kann es sein, dass uns die Handy-Diskussion in Wahrheit nur von der wahren Falle der aktuellen Verdigitalisierung unserer Gesellschaft ablenken soll? In diese sind wir nämlich, wenn du mich fragst, längst getappt: Angefangen von Netbanking über Do-it-yourself-Kassen im Supermarkt bis zum Web-Check-in am Flughafen lassen wir uns sehenden Auges ununterbrochen Arbeiten umhängen, die noch bis gestern andere Menschen für uns getan haben und dafür auch mehr oder weniger anständig bezahlt worden sind. Überall werden Arbeitsplätze wegrationalisiert, weil wir so dumm sind, Dienstleistungen an uns nun selber zu verrichten.
Die sprichwörtliche Billa-Kassierin, die Stewardess, die Bankangestellte sind demnächst Schnee von gestern, als Nächstes, lese ich, sind Chauffeure, Briefträger und Notare dran. Die Protagonistin meines neuen Buches, eine doppelte Mutter und Mathe-Lehrerin, unterrichtet noch selbst. Im richtigen Leben da draußen hält so mancher Physiklehrer seine Stunden bereits, indem er seine Lieben vor den Laptop setzt, ihnen kurz zeigt, welcher Youtuber die Gravitation am besten erklärt, und sich dann liebevoll George zuwendet.

Nikolaus Glattauer in FALTER 8/2018 vom 23.02.2018 (S. 46)

Posted by Wilfried Allé Monday, February 26, 2018 5:58:00 PM Categories: Sachbücher/Natur Technik/Astronomie
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... sind Bücher und Zeitschriften 

ausgewählt nach ganz persönlichem Geschmack von Wilfried

Also lassen Sie sich nichts einreden, was gut und lesenswert ist. Entscheiden Sie stets selbst, was lesenswert ist!
Wenn das hier Vorgestellte eine Hilfestellung ist, freuen wir uns darüber und kann auch bewertet werden (Rate this Content:  5 Sterne  = Bestnote) und/oder in einem Kommentar (Comments) festgehalten werden
Gerne geben wir hier auch Empfehlungen vom Magazin "Falter" 1:1 weiter.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 7, 2018 1:04:00 PM
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Puszta-Populismus 

Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?

Als Viktor Orbán 2010 die Wahl in Ungarn gewann, sprach er von einer „Revolution an der Wahlurne“. Seitdem hat der Rechtspopulist die Institutionen in Ungarn auf seine Machtbedürfnisse maßgeschneidert und will nun auch die EU umkrempeln.
In der Wählergunst ist der Ungar nach wie vor unumstritten – trotz Korruptionsskandalen rund um die Regierungspartei Fidesz. Was macht Orbán so erfolgreich ? Seine populistische Rhetorik ist ein Schlüssel seines Erfolges, meint Autor Stephan Ozsváth.
Er zeigt auf, wie meisterhaft der ungarische Ministerpräsident mit Ängsten spielt und daraus politisches Kapital schlägt. Er bedient sich dabei nationaler Mythen und Rollenbilder. Orbán setzt auf Symbole wie den Mythenvogel Turul, er okkupiert den Aufstand von 1956 und inszeniert sich als Anführer einer Nation von Freiheitskämpfern, die sich gegen ausländische Mächte zur Wehr setzt: Der David-Goliath-Mythos im magyarischen Gewand. In seinem Rhetorik-Baukasten hat Orbán Globalisierungskritik, Anti-Establishment-Parolen und sogar antisemitische Verschwörungstheorien.
Während der Flüchtlingskrise stellte sich Orbán als Verteidiger des Christentums dar - und Ungarn als Bollwerk gegen den Ansturm der Muselmanen. Eine Rhetorik, die sein Publikum in das Jahr 1526 versetzt, als die Türken die Ungarn bei Mohács überrannten. Diese populistischen Assoziationsfelder machen Angst und sie kommen an. Nicht nur in Ungarn, sondern zunehmend auch im Rest Europas. Fast unwidersprochen kann sich Viktor Orbán als Verteidiger Mitteleuropas gegen eine „Völkerwanderung“ inszenieren – ein Anti-Merkel.
Aus dem liberalen Revoluzzer von einst ist ein Politiker geworden, der einen illiberalen Staat errichtet. Im Herzen der EU ist er der Spaltpilz, der die Union von innen angreift. Kämpfernatur Orbán wettert heute gegen die Macht der „Brüsseler Bürokraten". Er sieht sich als Vorkämpfer einer anti-liberalen Gegenbewegung, die mehr Nation und weniger Europa will.
Als Populist braucht Orbán Sündenböcke. Er trat eine perfide Kampagne los, die Flüchtlinge pauschal mit Terroristen gleich setzte, er hält die ungarische Gesellschaft in einem ständigen Erregungszustand, einem künstlichen Krieg mit Worten und Symbolen: Ein Heerführer ohne Soldaten. Seine Waffe sind Trugbilder, Halbwahrheiten, Lügen.
All das dient letztlich nur einem Ziel: Dem eigenen Machterhalt. Der Kollateralschaden ist enorm. Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten, Hass statt Zusammenhalt ist die Devise, Hunderttausende kehren ihrer Heimat den Rücken. Doch Orbán wird zum Vorbild für Europas Populisten, sein illiberaler Staat ist die Blaupause.

Vorwort: Paul Lendvai
Preis: € 16,50
Verlag: danube books Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Sonstiges
Umfang: 200 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.10.2017

Rezension aus FALTER 6/2018

Der kann ja gar kein Ungarisch!

Der Journalist Stephan Ozsváth erklärt, warum Viktor Orbán ausgerechnet in Ungarn reüssiert

Der kann ja gar kein Ungarisch“: Wenn die Ausländer Ungarn nach allem Erklären immer noch nicht verstanden haben, handelt es sich um einen Fall von mangelnder Bereitschaft, sich auf die komplizierte Psyche dieser verkannten Nation einzulassen. Manchmal funktioniert das Argument­ nicht, wie im Falle des früheren Wiener ARD-Korrespondenten Stephan Ozs­váth, Sohn eines ungarischen Vaters. Er kann Ungarisch. Gegen ihn hilft nur der unverblümt ideologische Angriff auf den „Verräter“. Ausländische­ Kritik „an Ungarn“ beruht entweder­ auf schierer Unkenntnis, oder sie kommt in Wirklichkeit von innen, so die Propaganda: Die illoyale Opposition bedient sich ihrer Kontakte zum Ausland.
Ozsváth, der selbst schon Opfer eines nationalen Shitstorms war, beschreibt nachvollziehbar, wie das funktioniert. Der „Werkzeugkasten des Populisten“, so Ozsváths erstes Kapitel, umfasst eher grobe Instrumente: viel Angst, eine Portion Starker-Mann-Getue, Pomp, etwas Ideologie, aber von Letzterem nicht zu viel.

Die Macht Viktor Orbáns, der Ungarn seit siebeneinhalb Jahren ungefährdet regiert, beruht wesentlich auf dessen Bereitschaft, die Minderwertigkeitskomplexe, die Mythisierung der Geschichte, ein diffuses Bedrohungsgefühl, gerechtfertigte Abstiegs- und irrationale Entgrenzungsängste sowie Fremdelei gegenüber der großen, weiten Welt zusammenzusetzen.
Mit der so gewonnenen Popularität zieht man auch die Elite der Nation in seinen Bann, die vielleicht nicht so leicht zu elektrisieren ist, die sich aber von Orbáns Macht gern ein Stück ausleiht. Wer nicht mitmachen will, kann ja gehen. Viktor Orbán, der „Puszta-Populist“, wie Ozsváth seinen negativen Helden im Buch nicht weniger als 16 Mal nennt, war in seinen Zwanzigern nach Ozsváths Befund ein Linksliberaler; im Buch finden sich dafür schöne Belege. Gerade die Konversion macht sein Charisma aus: Hier regiert einer, der auch die andere Seite gut kennt.

Mit Orbáns Psychologie hält Ozsváth sich nicht weiter auf, wie es überhaupt zu den Stärken seines Buches gehört, dass es nichts überhöht, nichts mystifiziert. Etwas mehr hätte man allerdings gern über das nationale Nervengeflecht erfahren, das Orbán so erfolgreich nutzt. Sind die vielzitierten nationalen Traumata alle wirklich so spezifisch ungarisch? Ist das Selbstbild als Glacis Europas nicht auch in allen benachbarten Nationen verbreitet?
„Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?“, fragt schüchtern der Untertitel. Dabei legt Ozsváth überzeugend dar, dass sein „Puszta-Populist“ sich von den Konstruktionsfehlern der Union prächtig nährt. Für einen Regierungschef in der Pose des Volkstribuns und des Rächers der Enterbten ist die Gemeinschaft wie gemacht. Funktionieren kann die Projektion nur in Staaten von mittlerer Größe, deren es in der Union allerdings eine Menge gibt: Sie müssen nur groß genug sein, im Baltikum oder in Luxemburg hätte ein Orbán keine Chance.
In Deutschland oder Frankreich dagegen würden die Wähler ihre Anführer nicht aus der Verantwortung für Europa entlassen.
Im Vorwort zu Ozsváths Buch lobt der alte Ungarn-Kenner Paul Lendvai, dass der Autor „keine abstrakten oder romantischen Zukunftsszenarien skizziert“. Schlussfolgerungen darf der Leser selbst ziehen. Dass Orbán etwa für Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ein schönes Role-Model abgibt, muss man ja nicht unbedingt aussprechen.

Norbert Mappes-Niediek in FALTER 6/2018 vom 09.02.2018 (S. 21)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 7, 2018 12:51:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Sonstiges
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Gelebt, erlebt, überlebt 

Eine berührende Biographie

von Gertrude PressburgerMarlene Groihofer, Oliver Rathkolb

Gertrude Pressburger war zehn, als Hitler in Österreich einmarschierte. Obwohl die jüdische Familie katholisch getauft worden war, musste sie fliehen. Fast sechs Jahre dauerte die Flucht, die 1944 in Auschwitz endete. Gertrude überlebte den Holocaust – ihre Eltern und die zwei jüngeren Brüder wurden von den Nationalsozialisten umgebracht. Jahrzehntelang hat Gertrude Pressburger geschwiegen. Dass ein maßgeblicher Politiker in Österreich 2016 von einem drohenden Bürgerkrieg spricht, hat sie bestürzt. Per Videobotschaft warnte sie vor einer Rhetorik der Extreme. Dass ihre wahrhaftigen Worte Gehör finden, hat sie bestärkt, mit einer jungen Journalistin ihre Autobiographie zu schreiben: „Ich bin nicht zurückgekommen, um dasselbe noch einmal zu erleben.“

Preis: € 19,60
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 29.01.2018

Rezension aus FALTER 5/2018

Frau Gertrude erzählt ihre ganze Geschichte

Eine berührende Biografie schildert, wer die Frau ist, die die Präsident­schaftswahl für Alexander Van der Bellen im Finale mitentschied

Im Präsidentschaftswahlkampf kannte man nur ihren Vornamen. „Frau Gertrude“ war die Holocaust-Überlebende, die in einem Video klar und eindringlich vor einem Blauen in der Hofburg warnte. Über 3,9 Millionen Mal wurde ihre Botschaft gesehen, die 89-jährige Dame machte Schlagzeilen bis zur New York Times. 
Jetzt ist Gertrude Pressburgers Biografie erschienen, aufgezeichnet von der Journalistin Marlene Groihofer. Und endlich kennt man nicht nur ihren Nachnamen, sondern ihre ganze Geschichte. Sie ist besonders. Nicht nur, weil sie so klar, lakonisch und eindrücklich erzählt wird, sondern weil Pressburger die ganze Geschichte erzählt. Die Schrecken des Holocausts und die Schrecken der Verdrängung der Nachkriegszeit.
Groihofer überlässt Gertrude Pressburger die Erzählregie. Viele ihrer Gedanken beginnen in der Gegenwart und tragen sie zurück in die Vergangenheit. Sie handeln von Wiener Orten, die sie nicht aufsuchen kann, Nächte, in denen die schrecklichen Erinnerungen sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Jede Zeile ihrer Biografie ist eine Gegenrede zum Mythos der „Stunde null“, des großen Schnitts, den es im Jahr 1945 nach offizieller Darstellung ja gegeben haben soll. Doch diesen Neuanfang gab es nur für wenige. Vor allem für jene, die sich von ihrer Schuld abnabeln wollten.

Gertrude Pressburger wächst mit ihren beiden jüngeren Brüdern in Meidling in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familie ist jüdisch, die Kinder werden aber katholisch getauft – auf Wunsch des Vaters. Mit kindlich-naivem Blick erleben wir die Machtergreifung der Nazis und den Alltagsrassismus. Die Geschichte von der Pfanne, die jemand aus dem Gemeindebau auf die Mutter wirft und sie fast erschlägt. Das jüdische Zuckerlgeschäft nebenan, das von den Nazis geschändet wird. Die Sonderklassen, die sie als Schulkind plötzlich besuchen muss. Der Vater, der mit verschwollenem Gesicht aus der Gestapo-Zentrale am Morzinplatz zurückkommt und den sie zuerst gar nicht erkennt, weil er wie ein alter Mann ausschaut, obwohl er erst 34 Jahre alt ist. 
Im September 1938 flüchtet die Familie über Jugoslawien ins faschistische Italien, immer von der Angst begleitet, nach Deutschland deportiert zu werden. Im Frühling 1944 werden sie schließlich ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Gertrude, inzwischen 16 Jahre alt, wird als arbeitsfähig eingestuft, von ihrer Familie getrennt und überlebt als Einzige den Krieg mit Glück und viel Mut. Pressburger erzählt von der Frauensolidarität in den Baracken und dem grauenvollen Alltag so distanziert, dass es wehtut. Im November 1944 schwindelt sie sich in eine Arbeitskolonne für eine Philips-Fabrik ­hinein und entkommt dem KZ. Das Kriegsende erlebt sie in Padborg in Dänemark, danach verschlägt es sie nach Schweden, wo sie den späteren Kanzler Bruno Kreisky kennenlernt, der dort im Exil lebt. 

Kreisky besorgt der „Gerti“, wie er sie nennt, einen Pass und organisiert die Rückkehr nach Wien. Schweden? Israel? Gertrude Pressburger entscheidet sich für das „zerstörte Wien“ und ein Leben im „Feindesland“. Ein Arzt operiert ihr die KZ-Nummer weg, sie macht Karriere als Handelsangestellte und mit 35 bekommt sie von ihrem Mann Erich eine Tochter, ihr größtes Glück. „Das Leben mit meiner Tochter ist die beste Therapie, die ich bekommen konnte“, heißt es im Buch. 
Therapie ist auch das Buch selbst. Denn über ihre Erlebnisse reden konnte Gertrude Pressburger in all den Jahren nie. Gut für sie und Österreich, dass sie ihre Geschichte aufschreiben hat lassen.

Barbaba Tóth in FALTER 5/2018 vom 02.02.2018 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Saturday, February 3, 2018 1:38:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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100 Jahre Österreich 

Die Politik 1918–2018 im Spiegel des Humors

Zeitgeschichte in Satire, Witz und Karikatur
Vom Ersten Weltkrieg zum Ständestaat, vom Dritten Reich in die Zweite Republik. Das Wechselbad der Gefühle, das mehrere Generationen von Österreichern in den vergangenen 100 Jahren erlebt haben, ist mit Humor leichter zu durchleben.
Die heimischen Satiriker haben sich darauf verlegt, und mit Kabarett, Witz, Anekdote und Karikatur zeitgeschichtliche Dokumente geschaffen. Dabei spielt der facettenreiche jüdische Humor eine wesentliche Rolle. Populäre Witzfiguren wie die Grafen Bobby und Rudi oder die neureiche Frau von Pollak geben den Zeitgeist wider.
Von diesem speziell österreichischen Humor als Spiegelbild der politischen und gesellschaftlichen Geschichte der Republik erzählt dieses Buch und gewährt damit einen tiefen Einblick in die Mentalität der Menschen dieses Landes. Die österreichische Mentalität verarbeitet die Widernisse der Zeitläufte gemäß der Maxime: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

von: Johannes Kunz
Preis: € 25,00
Vorwort: Heinz Fischer
Verlag: Amalthea Signum
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/Sonstiges
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 02.10.2017

Rezension aus FALTER 4/2018

100 Jahre österreichischer Humor

Johannes Kunz, ehemaliger Pressesprecher Bruno Kreiskys, langjähriger ORF-Manager und unter anderem Erfinder der politischen TV-Duelle, wie sie bis heute im ORF gesendet werden, hat einen besonders aufschlussreichen Blickwinkel auf das 100-jährige Republiksjubiläum 1918 bis 2018 gefunden: den humorvollen.
Welche Witze haben über die Jahrzehnte weg die Politik und das Zeitgeschehen begleitet? Wie spiegeln Kabarettisten und Karikaturisten (siehe Daniel Jokeschs Comic-Strip auf dieser Seite) die Geschehnisse? Was sagt das über das jeweilige nationale Selbstverständnis aus?
In Kunz’ lesenswertem, kurzweiligem und – logischerweise – sehr unterhaltsamem Buch spielt der jüdische Witz eine Hauptrolle. Selbst unter der Nazi-Herrschaft entstanden noch Witze über die Deportation. Fragt ein Schweizer seinen jüdischen Freund in Wien: „Wie kommst du dir vor unter den Nazis?“ „Wie ein Bandwurm. Ich schlängle mich Tag und Nacht durch die braunen Massen und warte, dass ich abgeführt werde.“

Barbaba Tóth in FALTER 4/2018 vom 26.01.2018 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 24, 2018 4:01:00 PM Categories: Sachbücher/Geschichte
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Polens Rolle rückwärts 

Der Aufstieg der Nationalikonservativen und die Perspektiven der Linken

Der politische Rechtstrend in Polen ist unübersehbar. Jarosław Kaczyński, der starke Mann hinter der im November 2015 vereidigten Präsidentin Beata Szydło, verkündet, dass das Jahr 2015 in der jüngsten Geschichte des Landes genauso wichtig sei wie das Jahr 1989.
Verhasst ist ihm die politische Ordnung, die sich nach 1989 zwischen der damaligen »Solidarność«-Opposition und der Regierungsseite in Polen herausgebildet hatte. Er hält die seinerzeit am Runden Tisch gefundene Weichenstellung für Verrat, weil sie einer endgültigen Abrechnung mit dem Staatssozialismus den Weg verbaut habe. Nun greift er die liberale Verfassung von 1997 an, da sie Polens erfolgreichen Weg in die Zukunft verhindere.
Diese auch vor dem Hintergrund der Rechtsverschiebungen in anderen europäischen Ländern beunruhigenden Entwicklungen können nicht ohne den Niedergang der Linkskräfte in Polen verstanden werden. Nach spektakulären politischen Erfolgen wurde ein hoher Preis bezahlt für die unkritische Bereitschaft, das Land für den ersehnten Beitritt zur Europäischen Union fit zu machen.
Nunmehr ist es die Kaczyński-Partei, die mit ihren nationalkonservativen Argumenten den neoliberal geprägten Weg eines möglichst schnellen Wirtschaftswachstums auf den Prüfstein stellt – doch um welchen Preis für die Demokratie in Polen und Europa?

Portrait
Krzysztof Pilawski, polnischer Publizist, nach 1990 Korrespondent der linksgerichteten ­Tageszeitung »Trybuna« in Moskau; Veröffentlichungen zur polnischen Linken und zu geschichts­politischen Strategien der Nationalkonservativen.

Einband Kunststoff-Einband
Seitenzahl 176
Erscheinungsdatum 01.04.2016
Sprache Deutsch
ISBN 978-3-89965-702-9
Verlag VSA Verlag
Preis € 15,30
Maße (L/B/H) 211/139/15 mm
Gewicht 281
Auflage 1
Posted by Wilfried Allé Friday, January 19, 2018 12:36:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Nachtzug nach Lissabon 

Roman von Pascal Mercier

Raimund Gregorius, Lateinlehrer, lässt plötzlich sein wohlgeordnetes Leben hinter sich und setzt sich in den Nachtzug nach Lissabon. Im Gepäck: das Buch des Portugiesen Amadeu de Prado, dessen Einsichten in die Erfahrungen des menschlichen Lebens ihn nicht mehr loslassen. Wer war dieser Amadeu de Prado? Es beginnt eine rastlose Suche kreuz und quer durch Lissabon, die Suche nach einem anderen Leben und die Suche nach einem ungewöhnlichen Arzt und Poeten, der gegen die Diktatur Salazars gekämpft hat.

Portrait
Pascal Mercier, 1944 in Bern geboren, lebt in Berlin. Nach Perlmanns Schweigen (1995) und Der Klavierstimmer (1998) wurde sein Roman Nachtzug nach Lissabon (Carl Hanser Verlag 2004) einer der großen Bestseller der vergangenen Jahre und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2007 folgte die Novelle Lea. Unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri veröffentlichte er, ebenfalls bei Hanser, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens (2001).
Pascal Mercier wurde 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und 2007 in Italien mit dem Premio Grinzane Cavour für den besten ausländischen Roman geehrt. 2007 erhielt er die Lichtenberg-Medaille der Universität Göttingen.

Posted by Wilfried Allé Thursday, January 18, 2018 10:52:00 AM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten 

Narzisstisch? Dissozial? Paranoid?

Besorgte Psychiater brechen mit Berufsethos.

Zwar sind Ferndiagnosen über den Geisteszustand unter Psychiatern eigent­lich ver­pönt. Dazu kommt eine ethische Ver­pflich­tung, sich nicht ohne deren Ein­ver­ständ­nis über Men­schen des öf­fent­lichen Le­bens zu äußern. In Be­zug auf Donald Trump aber haben schon einige Ex­per­ten mit die­sen Grund­sätzen ge­bro­chen - aus Sorge da­rüber, was er als Prä­si­dent an­rich­ten kann.

"Wenn wir als Psychiater von der be­sonderen Ge­fahr wis­sen, die von Trump aus­geht, und da­rü­ber nicht spre­chen, wird die Ge­schich­te nicht gut über uns ur­tei­len", sagte der US-Psy­cho­lo­ge John Gartner. Er ge­hört zu 27 teils höchst re­nom­mier­ten Fach­leu­ten, die in dem Band "The Dangerous Case of Donald Trump" ein Bild von Trumps Per­sön­lich­keit zeich­nen - und zu be­sorg­nis­er­regen­den Fern­di­a­gno­sen kom­men.

Preis: € 20,60
Verlag: Rowohlt
Genre: Politik & Geschichte
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

 

Rezension aus FALTER 3/2018

Being Donald Trump

Michael Wolffs „Fire and Fury“ blickt erstmals hinter die Ku­lis­sen der Trump-Ad­mini­stra­tion und ge­hört un­be­dingt ge­le­sen

Mit der Drohung von „Fire and Fury“, „Feuer und Wut“, hatte Donald Trump Nord­korea einen Atom­schlag in Aus­sicht ge­stellt. Wie man in dem Buch er­fährt, ohne je­de Pla­nung. Den Slo­gan hat sich der Journa­list Michael Wolff für sei­nen Thril­ler über Wahn­sinn und Chaos im Weißen Haus aus­ge­borgt. Der Au­tor hat­te über viele Mo­na­te di­rekten Zu­gang zum eng­sten Um­kreis des Prä­si­den­ten. Er kommt aus dem rech­ten Bio­top der Me­dien­welt New Yorks. Sein Be­richt, wo­nach aus­nahms­los alle Trump-Mit­ar­bei­ter zur Über­zeu­gung ge­kom­men sind, dass der Prä­si­dent psy­chisch ge­stört und un­ge­eig­net für sein Amt ist, ist eine po­li­tische Bom­be mit un­ge­ahn­ter Spreng­kraft.
Michael Wolff erlaubt es seinen Lesern quasi als Mäus­chen hin­term Vor­hang bei ge­hei­men Stra­te­gie­be­spre­chungen, laut­starken Schrei­duel­len und bein­har­ten In­tri­gen um den mächtig­sten Mann der Welt da­bei zu sein. Mit 200 Ver­wand­ten, Freun­den und Be­kannten des Prä­si­den­ten hat der Re­por­ter ge­spro­chen, zu­meist im Hin­ter­grund, häu­fig auch zitier­fä­hig „on the record“.
Trump denunziert das Buch als Fik­tion vol­ler Fake News. Aber er schei­ter­te beim Ver­such, die Aus­lie­fe­rung zu blo­ckie­ren. Abgesehen von Flüchtig­keits­fehlern konnte kein Ge­sprächs­part­ner bis­her be­haup­ten, dass er falsch zi­tiert wur­de. Ame­ri­ka nimmt das von Wolff ge­zeich­nete Sit­ten­bild ernst. Trump er­scheint jetzt als „wahn­sin­niger König“, sagt der Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Tyson Baker vom Aspen Insti­tute in Episode 20 des Falter­Radios.
Mit „Fire and Fury“ meint Michael Wolff den to­talen Krieg ge­gen das Es­tablish­ment, den Trump sei­nen Wählern ver­spro­chen hat, den aber nur eine Frak­tion im Weißen Haus wirk­lich füh­ren will. Die Fol­ge ist ein er­bar­mungs­lo­ser Kampf zwi­schen dem rechts­ra­di­kalen Chef­stra­tegen Steve Bannon als Ver­treter der Wut­bür­ger und der auf Re­s­pek­ta­bi­li­tät be­dach­ten Fa­mi­lien­frak­tion um Toch­ter Ivanka und Schwieger­sohn Jared Kushner.
Gemeinsam ist den ver­feindeten La­gern, dass sie von einem Sieg Hillary Clintons über­zeugt wa­ren. Trump wollte nach der Nieder­lage eine Kam­pagne ge­gen ge­stoh­lene Wahlen star­ten und einen neu­en rech­ten Fern­seh­sen­der grün­den. Der über­ra­schende Er­folg ist der An­fang des nicht en­den wol­len­den Cha­os um den we­der men­tal noch po­li­tisch zum Re­gie­ren ge­eigne­ten Show­man.
Penibel listet Wolff die Kraft­aus­drücke auf, mit denen hohe Re­gierungs­ver­tre­ter den Chef be­denken: „fucking moron“, „Voll­trottel“ (Außen­mi­nis­ter Rex Til­ler­son), „idiot“ (Fi­nanz­mi­nis­ter Steven Mnuchin), „dumb as shit“, „dumm wie Scheiße“ (Wirt­schafts­be­ra­ter Gary Cohn), „dope“, „Trot­tel“ (Sicher­heits­be­ra­ter H.R. McMaster). In den USA ge­bie­tet die Hoch­ach­tung vor dem Amt selbst den Geg­nern einen res­pekt­vol­len Um­gang mit dem Prä­si­den­ten. Das Toll­haus um Trump hat diese Tra­di­tion be­endet.
In Wolffs Darstellung glaubt Rechts­außen­mann Bannon mit Hilfe Trumps das ge­sell­schaft­liche Ruder herum­reißen zu kön­nen. Staats­aus­ga­ben und Steu­ern he­run­ter, Aus­län­der raus, Um­welt­ge­setze und Ge­sund­heits­re­geln außer Kraft setzen, das ist sein Pro­gramm. Das Ame­ri­ka des weißen Pro­le­ta­ri­ats soll wie­der die Ober­hand be­kom­men. Aber Trump ist kein Ideo­loge, son­dern ein Prag­ma­ti­ker, der auch von den kon­ser­va­ti­ven Eli­ten ge­liebt wer­den will. Über ihm schwe­bt das Da­mo­kles­schwert ei­ner my­ste­ri­ösen Ver­bin­dung zu Russ­land und Wla­di­mir Pu­tin. Die Er­mitt­lungen des Son­der­staats­an­waltes Mueller gel­ten als die größ­te Be­dro­hung für die Prä­si­dent­schaft.
Der Rest der Welt spielt eine be­schei­dene Rolle. Die Re­vo­lu­tion fin­det nur auf Twit­ter statt. In Kri­sen­si­tu­a­tionen schlägt sich der Prä­si­dent auf die Seite der Mi­li­tärs, die Aben­teuern ab­hold sind. Ein Drit­tel der Ame­ri­ka­ner hält ei­sern zu Trump. Michael Wolff bie­tet einen Be­richt über die obers­ten Eta­gen des Na­ti­onal­po­pu­lis­mus in Ame­ri­ka, der ver­stö­rend und span­nend zu­gleich ist.

Dazu passend auch das Buch

Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 17, 2018 12:35:00 PM Categories: Gesellschaft Politik & Geschichte Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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