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Warten 

Eine verlernte Kunst

von Timo Reuter

Verlag: Westend
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 240 Seiten
Erscheinungsdatum: 04.11.2019
Preis: € 18,50

 

Rezension aus FALTER 20/2020


Warten müssen wir alle lernen: sei es auf den Zug, den mächtigen Ansprechpartner oder auf bessere Zeiten. Timo Reuter, der zuletzt ein Plädoyer für das bedingungslose Grundeinkommen vorgelegt hat, beschäftigte sich bereits vor dem Ausbruch der Corona-Krise, die viele als kollektiven Wartesaal erleben, mit der Unruhe, die durch äußere Ruhigstellung entsteht. Dabei verarbeitet er psychologische Studien und ergänzt sie durch viele präzise Alltagsbeobachtungen, historische Beispiele sowie griffige Zitate.

„Geduld ist die Tür zur Freude“ lautet ein altes Sprichwort. Und so gibt es abschließend noch zehn „Lektionen gegen die Zeitnot“: Bei Empfehlungen von Achtsamkeit bis Langsamkeit neigt sich das Ende des Buchs steil Richtung Ratgeber. Doch man kann es dem ambitionierten Autor nicht übelnehmen. Reuters Auseinandersetzung mit allen Schattierungen des Wartens verleiht der zähen Zeit Farbe.

Andreas Kremla in FALTER 20/2020 vom 15.05.2020 (S. 34)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 13, 2020 12:08:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Populismus für Anfänger 

Anleitung zur Volksverführung

von Walter Ötsch, Nina Horaczek

Verlag: Westend
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.08.2017
Preis: € 18,50

 

Rezension aus FALTER 32/2017

Steh zu deinen Werten!

Walter Ötsch und Nina Horaczek sezieren die Tricks der Demagogen – und erklären, wie man mit ihnen umgehen soll

Sie mögen sich vielleicht fragen, ob es ein solches Buch in Österreich unbedingt gebraucht hat: „Populismus für Anfänger. Anleitung zur Volksverführung“. Wir hier in Österreich sind ja ohnehin unfreiwillige Experten auf diesem Feld: Seit 30 Jahren, seit dem Amtsantritt Jörg Haiders, sind wir den rhetorischen und den narrativen Tricks der Demagogen ausgesetzt und entsprechend mit ihnen vertraut.
Wozu das also? Und außerdem, mögen Sie schließlich zu bedenken geben, wollen Sie ja gar kein Populist und Volksverführer werden. Wozu also eine Anleitung dazu?

Aber die Antwort ist einfach: Weil man die Tricks durchschauen muss, um auf sie angemessen reagieren zu können. Der Populist will spalten – und wer rein emotional reagiert, läuft ihm schon ins Messer.
Hier haben sich zwei Autoren gefunden: Nina Horaczek, Falter-Journalistin, eine Expertin auf dem Gebiet der rechten Politik und exzellente Schreiberin. Walter Ötsch wiederum ist Universitätsprofessor, Kommunikationstrainer, wahrscheinlich der ausgewiesene linke NLP-Trainer. Er hat schon Politiker gegen Jörg Haider erfolgreich gecoacht und vor einem Jahr in Falter-Videos die Hofer-Auftritte minutiös seziert.
Das Buch ist nun tatsächlich im Stil der Ratgeberliteratur geschrieben. „Wenn sie Populist werden wollen, dann tun sie dies und das ...“
Man kann das einen erzählerischen Kunstgriff nennen: denn natürlich richtet sich das Buch nicht an Möchtegern-Populisten. Aber gerade der Kunstgriff erlaubt eine Nüchternheit. Nie wird die Schrecklichkeit der Populisten gegeißelt, sondern deren Geschick herausgestrichen.

Die populistische Rhetorik spaltet die Welt in ein „Wir“ und ein „Sie“. Wir – „das Volk“ – gegen sie – „die Anderen“ (Ausländer, Flüchtlinge, Eliten, der politische Gegner, die Gutmenschen ...). Reines Schwarz-und-Weiß.
Das Volk, das eigentlich nicht existiert (in der Realität gibt es nur eine buntscheckige Bevölkerung), wird gleichsam erfunden, und oft wird die große Mehrzahl der Bevölkerung aus dem Volk ausgemeindet. Eine absurde Operation – aber sie funktioniert.
Konzentriere dich auf Einzelfälle. Verwandle Sachprobleme in Personenprobleme.
Wenn in einer komplexen Welt manche Dinge nicht gut funktionieren, erzähle, dass irgendein korrupter Typ dafür verantwortlich ist, den man auf der menschlichen Ebene unbedingt abwerten muss. Dinge sind nicht einfach schlecht, jemand muss auf persönlicher Ebene unbedingt Schuld daran tragen. Geriere dich als Opfer. Dann ist selbst die aggressivste Rhetorik nichts als Notwehr einer verfolgten Unschuld. ­Spiele auf der Klaviatur der Gefühle, auf Body-Talk. Dominanzgesten, Erfolgsgesten, Aggressivität und Schwung zeigt man am besten nonverbal. Verstehe, dass man „sprechen“ kann, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Erst im letzten Kapitel springen Autor und Autorin in die andere Perspektive – wie man kontern soll.
Zeige nicht deinen Ärger, bleibe ruhig. Nichts hilft dem Populisten mehr, als wenn er dich auf sein Terrain lockt und dort zur Weißglut treibt.
Unterlaufe seinen Stil, wechsle die Ebene, etwa, indem man direkt anspricht, dass er mit permanenten persönlichen Unterstellungen kommt.
Hinterfrage sein Schwarz-Weiß-Bild.
Und vor allem: Stehe zu deinen Werten. Passe dich dem Diskurs, den der Populismus etabliert, nicht an. Schon aus dem einen Grund: „Wer schon bei leichtem Gegenwind ins Wanken gerät, darf sich nicht wundern, wenn ihm niemand vertraut.“
Denn das Publikum, mag es auch anderer Meinung sein als du, wird nichts mehr verabscheuen als Wendehalsigkeit. Wenn du zeigst, dass du nicht zu deinen Werten stehst, kann der Populist eine Champagnerflasche aufmachen – dann hast du nämlich seine Behauptung bestätigt, dass du für nichts stehst und für den Machterhalt alles tun würdest.

Robert Misik in FALTER 32/2017 vom 11.08.2017 (S. 15)

 

Rezension aus FALTER 8/2020

Einmal Diskurs zertrümmern, bitte

Message-Control, das konzertierte Durchhalten einer Botschaft auf allen Kanälen durch alle Protagonisten, ist das eine. Aber wie versuchen sich Politiker einer Partei mit ihrer Sicht der Dinge in der veröffentlichten Meinung durchzusetzen? Welche rhetorischen Techniken wenden sie an, wie weichen sie Kritik aus, welche übergeordneten Kommunikationsziele verfolgen sie dabei? Anhand der – durch einen Bericht des Falter ausgelösten – Debatte über die Unabhängigkeit der österreichischen Justiz lässt sich das exemplarisch darstellen.

Zur Erinnerung: In einem Hintergrundgespräch hat Kanzler Sebastian Kurz seinen Unmut über die seiner Meinung nach schleppende und parteiisch agierende Justiz, allen voran die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), geäußert. Der Falter-Bericht führte zu einer breiten Debatte, in der Folge gab Kurz mehrere Fernsehinterviews im ORF und bei den Privatsendern Puls 4 und Servus TV, Kanzleramtsministerin Karoline Edt­stadler verteidigte die ÖVP-Linie in der ORF-Diskussionssendung „Im Zentrum“.

Gemeinsam mit dem Kommunikationsexperten Walter Ötsch (Autor des Buches „Populismus für Anfänger. Anleitung zur Volksverführung“, zusammen mit Falter-Autorin Nina Horaczek) haben wir Edtstadlers Auftritt am Sonntag, dem 9. Februar, und Kurz’ Auftritt bei Armin Wolf in der „ZiB 2“ tags darauf am Montag, dem 10. Februar, analysiert, zehn typische Kommunikationsmuster herausgegriffen und sie als Anleitung zur Diskurszertrümmerung aufgeschrieben.

1. Basteln Sie sich eine Verschwörungstheorie!

„Jetzt gibt es ein Dokument, das das belegt, und der Justizsprecher der SPÖ hat das sogar zugegeben.“ (Kurz zu Wolf)

„Jarolim (…) hat auch gesagt, es gab eine Strategie. Das ist die Gefahr, dass von einer Parteizentrale aus hier Richterinnen, Staatsanwältinnen geleitet und gelenkt werden sollen.“

(Edtstadler bei „Im Zentrum“)

„Also schauen Sie, Herr Wolf, wenn jemand mit 25 gepusht worden ist von der Sozialdemokratie vor 20 Jahren in die Justiz, dann rechnen wir gemeinsam einmal nach, wie alt der 20 Jahre später ist, dann ist der heute 45, also im besten Alter …“

(Kurz zu Wolf, wortgleich auch im Interview mit Corinna Milborn auf Puls 4)

Erinnern Sie sich an Ihre Gesprächsstrategie (Punkt 2): Für Ihre gezielte Aktion bzw. Attacke ist es am besten, wenn Sie einen vermeintlichen Beleg in der Hand haben. Medien lieben Aktenstücke, Verschriftlichtes, noch besser sind Bewegtbilder. In Ihrem Fall ist es zwar ein schon etwas angejahrter Aktenvermerk aus der Anwaltskanzlei Gabriel­ Lansky aus dem Jahr 1997, aber das ist fürs Erste egal. Spielen Sie es am besten Journalisten Ihres Vertrauens zu und verkaufen Sie es ihnen als „Skandal“. Dann bringen Sie Ihren politischen Gegner dazu, die Authentizität des Schriftstücks nicht widerlegen zu können, und wiederholen Sie Ihre Verschwörungstheorie in weiterer Folge, so oft es geht (Kanzleramtsministerin Edtstadler schaffte es im Zentrum drei Mal, das ist die goldene Regel!). Immer mit dem Hinweis, die SPÖ habe es ja gar nie bestritten. Bei Zweifel argumentieren Sie mit vermeintlicher Evidenz. Kopfrechnungen, die jeder nachvollziehen kann. Oder eine gefällige Studie oder Statistik, die Sie selektiv wiedergeben.

2. Stay on the message!

„Herr Wolf, Ihre erste Frage war, ob ich belegen kann, was ich kritisiert habe, und ich kann nur sagen, ja, ich kann es belegen, und ich finde es gut, dass es die Debatte gegeben hat …“

(Kurz zu Wolf)

„Ich glaube, keiner in dieser Runde würde behaupten, dass das BVT-Verfahren so abgelaufen ist, wie es lege artis ablaufen sollte.“

(Edtstadler bei „Im Zentrum“)

„Es hat mir keiner widersprochen, dass das BVT-Verfahren ordnungsgemäß gelaufen ist.“

(Edtstadler bei „Im Zentrum“)

Das ist Ihre Gesprächstaktik: Bleiben Sie bei Ihrer allgemeinen Botschaft, und wiederholen Sie sie mindestens drei Mal, gleich am Anfang, am Ende und idealerweise zwischendurch einmal mit dem unterstützenden Hinweis, dass Sie doch alles schon beantwortet und aufgeklärt haben und Ihnen niemand widersprochen hat.

Und das ist Ihre Kommunikationsstrategie: 1) Sie haben eine Hidden Agenda, also eine Grundintention, die aber nicht offengelegt wird. Im aktuellen Fall: Sie wollen das Vertrauen in die Justiz schwächen. 2) Sie überlegen sich dazu eine gezielte Aktion, konkret:
Sie greifen die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft an. 3) Sie kreieren eine allgemeine Botschaft, die das Gegenteil Ihrer Hidden Agenda ist: Ich bin gegen politische Einmischung in die Justiz, sie muss unabhängig sein.

Dazu analysiert Walter Ötsch: „Nach diesem Muster laufen viele politische Kampagnen ab. Die eigentliche politische Absicht wird verschleiert.“

3. Kontrollieren Sie das Gespräch!

Also zunächst möchte ich auf das eingehen …“

(Kurz zu Wolf)

„Ich fand den heutigen Termin sehr positiv – darf ich Ihnen nur ein paar Punkte nennen?“

(Kurz zu Wolf)

Nicht der Moderator, sondern Sie kon­trollieren das Gespräch. Lassen Sie sich nicht moderieren, sondern moderieren Sie selbst. Geben Sie sich selbst recht, schaffen Sie Konsens, agieren Sie auf der sogenannten „Prozessebene“ des Gesprächs. Bleiben Sie dabei aber stets freundlich und höflich. Legen Sie diese Gesprächsrangordnung gleich am Anfang fest, indem Sie auf die erste Frage nicht direkt antworten, sondern Ihre zentrale Botschaft absondern (siehe Punkt 2).

„Sebastian Kurz versteht es sehr gut, mit sogenannten ,Prozesskommentaren‘ die Gesprächskontrolle zu behalten“, sagt Walter Ötsch, „Moderator Armin Wolf hält klug dagegen, indem er selbst Kurz’ Verhalten auf der Prozessebene thematisiert. Als Reaktion wechselt Kurz dann gerne zurück auf die inhaltliche Ebene, um – wenn es für ihn gewinnbringender ist – zurück auf die Prozessebene zu gehen. So entsteht am Ende natürlich nie ein tatsächliches Gespräch, sondern eine Art Pingpong auf zwei Ebenen.“

4. Lenken Sie bei Angriffen ab!

„Ja, was soll ich zu einem Berlusconi-Vergleich sagen? Ich glaube, Berlusconi ist über zehn Mal in einem Strafverfahren verurteilt worden, mich jetzt mit Berlusconi zu vergleichen …“ (Kurz zu Wolf)

„Ich finde ja eine Diskussion über diese Prozedere sehr, sehr sinnvoll.“ (Kurz zu Wolf)

Ideal ist es, wenn Ihre Gegner zu Metaphern greifen wie etwa der erste Chef der Korruptionsstaatsanwaltschaft, Walter Geyer, der gemeint hat, der Druck, der jetzt durch Sie auf die Justiz aufgebaut werde, erinnere ihn an Silvio Berlusconi. Greifen Sie die Metapher auf und interpretieren Sie sie falsch oder andersrum und stilisieren Sie sich dabei auch gleich zum Opfer. Wenn Sie von Ihrem Gegenüber in die Enge getrieben wurden, berufen Sie sich umgehend darauf, wie wichtig und sinnvoll es doch ist, über all das zu sprechen.

5. Greifen Sie auch einmal den Moderator an!

„Sie können mir viel unterstellen, Herr Wolf, nur das macht es nicht richtiger.“ (Kurz zu Wolf)

„Ja, dann geben Sie mir eine Chance, das zu beantworten.“ (Kurz zu Wolf)

Wenn es Ihnen zu bunt wird, schüchtern Sie den Moderator ein, indem Sie ihn direkt angreifen, mit Namen, auf Augenhöhe. Die Zeiten, in denen sich Politiker von den Medien, vor allem dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, alles gefallen lassen mussten, sind vorbei. Sie sind selbst das Medium, Sie können Ihre Botschaften auf Ihren eigenen Kanälen trommeln, in Sendungen gehen, die Ihnen mehr Spielraum geben, etwa ins Privatfernsehen. Zeigen Sie also Ihren Anhängern, wie unfair die abgehobene, linke Medienelite mit Ihnen umgeht.

6. Lassen Sie sich überhöhen!

„Ich habe Ihnen gesagt, dass der Bundeskanzler das auch so nicht gesagt hat.“ (Edtstadler zu Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger in „Im Zentrum“)

Sie müssen der unumstrittene Star sein, Ihre Minister umringen Sie wie „Jünger“. Eine Kanzleramtsministerin wie Karoline Edtstadler erfüllte diese Rolle in „Im Zentrum“ geradezu musterhaft. Immer wenn Sie angegriffen wurden, etwa durch die sehr gut vorbereitete Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, schritt sie als Chefverteidigerin ein.

„Das ist ein klassisches rechtspopulistisches Momentum“, analysiert der Kommunikationsexperte Ötsch, „Ziel ist die Überhöhung der führenden Person in der Partei bis hin zum Kult.“

7. Sie sind nie Teil des Systems, nie!

„Herr Wolf, bei allem Respekt, aber das System habe nicht ich erfunden, das ist eben gelebte Praxis in der Zweiten Republik.“ (Kurz zu Wolf)

„Ihre Frage war, warum habe ich die Kritik jetzt geäußert? (…) Ja, Herr Wolf, da haben Sie recht, mich hat das durchaus emotionalisiert (…) man kann schon das Gefühl haben, dass viele Verfahren nicht nur zu lange dauern, sondern dass es da durchaus zu einer medialen Vorverurteilung kommt.“ (Kurz zu Wolf)

Das haben Sie von den Rechtspopulisten erster Generation wie Jörg Haider gelernt: Sie dürfen sich nie als Teil des politischen Systems darstellen, als Mitglied der Politikkaste, selbst wenn Sie seit über einem Jahrzehnt im Geschäft sind. Sie stehen außerhalb, Sie müssen der neue, junge, unbefleckte Kandidat bleiben, als der Sie 2017 bei Ihrer ersten Kanzlerwahl angetreten sind.

„Rechtspopulisten betreiben Gefühlspolitik“, sagt Ötsch, „sie inszenieren sich als Alternative zum herkömmlichen System, dazu gehört auch, stark emotionalisiert zu argumentieren. Gewissermaßen aus dem Bauch des Volkes heraus.“

8. Das wird man doch noch sagen dürfen!

„Meiner Meinung nach ist keine In­stitution sakrosankt.“ (Kurz zu Wolf)

„Und diese Kritik muss auch eine Institution wie eine Staatsanwaltschaft aushalten.“ (Edtstadler)

Denk- und Redeverbote sind Teile des linken Mainstreams, diese ganze Political-Correctness-Bewegung gehört wie vieles aus der Zweiten Republik, wenn nicht entsorgt, so doch radikal reformiert. Dafür stehen Sie mit Ihrem neuen Stil, und das sprechen Sie auch immer wieder klar aus. Das beginnt bei gesetzt geglaubten Institutionen wie der Sozialpartnerschaft, den Sozialversicherungen, dem Arbeitsmarktservice, dem gebührenfinanzierten öffentlichen Rundfunk, der großen Koalition und ihrer politischen Konsenssuche sowieso. Es macht auch nicht halt vor der Justiz, den Höchstgerichten und internationalen Standards wie der Genfer Flüchtlingskonvention.

9. Verbünden Sie sich mit dem Publikum!

„Ich glaube, für einen Rechtsstaat wie Österreich ist es wichtig, (…) dass jeder ein faires Verfahren bekommt, Sie, ich, der Kameramann da hinten und jeder andere auch.“ (Kurz zu Wolf – und wortgleich bei Milborn auf Puls 4)

Wenden Sie sich an Ihr Publikum und binden Sie es ein. Aber legen Sie sich dafür Formulierungen zurecht, die nicht so abgedroschen sind wie „die Menschen da draußen“ oder „die Österreicherinnen und Österreicher“. Es ist egal, wenn Sie in Interviews die gleichen Satzbausteine verwenden, das fällt nur ein paar Journalisten auf.

10. Und jetzt: Genießen Sie Ihre Präsenz durch „Earned Media“!

Als Politmarketing-Experte wissen Sie ja bereits: Jede erfolgreiche Kampagne funktioniert über drei Ebenen – Paid, Owned und Earned Media. Also über klassische Bezahlwerbung in fremden Medien, Werbung und Inserate. Dann über Verbreitung auf Ihren eigenen Kanälen, da sind Sie ja auf Face­book und Instagram gut aufgestellt. Und schließlich, im aktuellen Fall besonders wichtig, über fremdgenerierte Beiträge.

Hier gilt: je kontroversieller, strittiger, empörender, umso mehr Aufmerksamkeit. Sie müssen nur darauf achten, dass am Ende Ihre Version der Geschichte übrig bleibt.

Barbaba Tóth in FALTER 8/2020 vom 21.02.2020 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, April 22, 2020 10:19:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Antifragilität 

Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen

von Nassim Nicholas Taleb

Übersetzung: Susanne Held
Verlag: Pantheon
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 688 Seiten
Erscheinungsdatum: 27.08.2018
Preis: € 16,50


Rezension aus FALTER 16/2020

Talebs Gesetz

Corona ist kein schwarzer Schwan. Nassim Nicholas Taleb, Professor für Risikoanalyse, beschäftigt sich mit Ereignissen, die höchst unwahrscheinlich und deswegen nicht vorhersagbar sind. Er nennt sie „Schwarze Schwäne“. Mit Pandemien müsse die vernetzte Menschheit hingegen rechnen, deswegen sei die Covid-19-Pandemie kein schwarzer, sondern ein weißer Schwan, bekräftigte er unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung. Durch die globalisierte, Struktur der modernen Welt sei die rasante Ausbreitung solcher Krankheiten unvermeidlich.

Obwohl Taleb Prognosen grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, war er einer der wenigen, die den Zusammenbruch der weltgrößten Hypothekenbank Fannie Mae und damit die Finanzmarktkrise von 2008 schon fünf Jahre zuvor angekündigt hatten – und dafür herbe Kritik einstecken mussten.

Sein Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, das bereits im April 2007 erschienen ist, avancierte zum Bestseller, der Begriff „Schwarzer Schwan“ ist seitdem in aller Munde. Corona könnte Taleb erneut zum Denker der Stunde machen.

Der libanesisch-amerikanische Autor warnte bereits im Jänner gemeinsam mit dem Physiker und Systemwissenschaftler Yaneer Bar-Yam vor der Gefahr, die von einem der am stärksten vernetzten Staaten der Welt, China, ausgeht. „Es wird kurzfristig einiges kosten, die Mobilität einzuschränken. Das aber zu unterlassen, wird irgendwann alles kosten, wenn nicht durch die aktuelle Pandemie, dann durch eine in der Zukunft“, sagt Taleb. Deswegen sei es besser, früher Panik zu bekommen als später. Die Regierung von Singapur, die sich von Taleb beraten ließ, hatte übrigens bereits 2010 einen Notfallplan für eine Pandemie aufgestellt.

Geboren 1960 in eine libanesische griechisch-orthodoxe Politiker- und Ärztefamilie, studierte Taleb an der Wharton School der University of Pennsylvania. Anschließend arbeitete er für große Banken wie die Schweizer UBS. So lernte er das derzeitige Finanz- und Risikosystem von innen kennen, eine Voraussetzung dafür, dessen Schwachstellen zu kritisieren.

Als radikaler Querdenker und Freigeist lehnt der zur Praxis bekehrte Ivy-League-Absolvent alles theoretische, bloß akademische Wissen ab und warnt vor dem platonischen Fehlschluss, die Welt als geordnet und grundsätzlich verstehbar anzusehen.

Talebs in Bezug auf die Corona-Krise aktuellstes Werk ist das 2012 erschienene Buch „Antifragilität“. Darin geht der Autor der Frage nach, wie Systeme stressresistenter gemacht werden können. Der 680-Seiten-Wälzer rollt die „Dreifaltigkeit des Missverstehens“ auf.

Darunter versteht Taleb die Illusion, gegenwärtige Ereignisse zu durchschauen. Das zweite Missverständnis besteht darin, dass historische Ereignisse retrospektiv verzerrt werden. Drittens warnt er davor, Sachinformationen sowie die intellektuelle Elite überzubewerten.

Als Finanzmathematiker beschäftigt sich Taleb mit Statistiken und versucht, den Zufall zu berechnen. Wahrscheinlichkeit, Ungewissheit und Unordnung gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten. Das heißt aber nicht, dass seine Bücher für Laien unlesbar wären. So komplex er argumentiert, so süffig schreibt er. Anhand von Parabeln und autobiografischen Anekdoten – einer seiner Protagonisten ist etwa der antiintellektuelle Börsenhändler Fat Tony – macht er Abstraktes anschaulich. Dadurch wird der Autor als Mensch greifbar und angreifbar.

Taleb schimpft und wütet, versprüht Zorn und Sarkasmus und pflegt seine Vorliebe für drastischen Humor. Trotzdem sind seine Bücher strukturiert aufgebaut, sein monumentales Vorhaben wird in einem Kapitelüberblick vorgestellt, und im Glossar kann man seine griffigen, aber oft neuen Begriffe nachschlagen, etwa „Extremistan“ für die globalisierte Moderne oder „Flugunterricht für Vögel“ (auch „Sowjet-Harvard-Illusion“ genannt).

Das Agency-Problem stellt für Taleb eine Hauptquelle für die Fragilität von Systemen dar, insbesondere für das derzeitige Finanzsystem. Es besteht darin, dass der Manager eines Unternehmens, der nicht dessen Besitzer ist, eine Strategie verfolgt, die nur ihm selbst nützt.

Der polyglotte Generalist spricht neben Arabisch, Französisch und Englisch auch mehrere Sprachen der Antike. Wenn er gegen den naiven Rationalismus vieler Zeitgenossen vom Leder zieht, greift er auf die skeptische Philosophietradition zurück, auf Sokrates, Al-Ghazali, Michel de Montaigne oder Karl Popper.

Dabei entstehen Sentenzen, von denen man sich einige gerne über das Bett hängen möchte, etwa: „Man kann nie etwas über den Charakter von jemandem wissen, bevor er nicht die Möglichkeit hatte, moralische Regeln zu verletzen.“ Oder: „Man soll die eigenen Überzeugungen und Handlungen so ausrichten, als hätte man keinen Gesamtüberblick. Um klug zu sein, muss man sich damit abfinden, dass man es nicht ist.“

Talebs Vorliebe für Faustregeln, von denen er viele aus der Antike bezieht, hat philosophische Gründe. Alles, was lange überlebt habe, sei antifragil, sagt er. Antifragilität bezeichnet die Fähigkeit, robust auf Störungen und Stress zu reagieren.

Darüber hinaus ermöglicht es, gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Antifragilität bedeutet auch, von Ungewissheit und Chaos bis zu einem gewissen Maß profitieren zu können. Das betrifft unterschiedliche Bereiche, von der Evolution über die Gesundheit und Erziehung bis zur Technik, der Kultur, Politik und Wirtschaft.

Die zentrale These lautet, dass die Zukunft nicht vorhersehbar sei und Prognosen daher gefährlich werden könnten. Menschen würden nämlich dazu tendieren, sich auf sie zu verlassen. Taleb schlägt statt der üblicherweise geforderten Verbesserung von Daten und Berechnungsmethoden eine Erhöhung der Stressresistenz, sprich der Antifragilität von Systemen, vor.

Denn das Antifragile könne auf nichtlineare Prozesse besser reagieren als das Fragile. Die globalisierte Wirtschaft beruht auf schierer Größe, Technikabhängigkeit und maximaler Effizienz. In der Corona-Krise zeigen sich die Schwachstellen dieses Systems. Die Schlussfolgerung ist klar: Wir brauchen mehr Sicherheitspuffer und weniger Effizienz.

Für den aktuellen Zusammenbruch ließe sich daraus folgern, dass die Auslagerung von Grundversorgung, sprich Nahrungs- und Medikamentenproduktion, in Zukunft überdacht gehört. Auch die globalen Lieferketten und die Verantwortlichkeiten in den Finanzsystemen stehen auf dem Prüfstand.

Während jeder Flugzeugabsturz aufgrund der darauffolgenden Fehleranalyse die Wahrscheinlichkeit des nächsten verringere, erhöhe jeder Bankenzusammenbruch die Wahrscheinlichkeit eines weiteren, moniert Taleb. „Der Aktienmarkt ist der größte, in industriellem Ausmaß betriebene Antifragilitätstransfer in der Geschichte der Menschheit – und beruht ausschließlich auf einer bösartigen Form von Asymmetrie hinsichtlich der Bereitschaft, seine Haut aufs Spiel zu setzen“, konstatiert er.

Auch den eigenen Berufsstand spart Taleb aus seiner Kritik nicht aus, die Wirtschaftswissenschaftler. Es sei falsch, dass Professoren, die Inhalte unterrichten, mit denen das Finanzsystem notwendig hochgehe, keine Konsequenzen zu spüren bekämen.

Taleb und sein Co-Autor Mark Spitznagel beanstanden in einem NZZ-Artikel, dass Banker mehr Geld verspielt hätten, als in der gesamten Geschichte des Bankwesens verdient worden sei. Dennoch durften sie sich 2010 aus dem größten Bonustopf bedienen, den es bis dato gab. „Es sollte keine Hilfsmaßnahmen geben, wo Finanzinstrumente wie Hedge-Funds und hochriskante Investitionsstrategien im Spiel sind. Denn dort gibt es keine ehrlich gemeinte Strategie zur Risikominderung, sondern lediglich ein gewollt naives Gottvertrauen, dass es am Ende der Staat schon richten wird.“

Es gibt kein Leben ohne Risiko. Taleb begann seine Berufslaufbahn als Trader und Hedgefonds-Manager und hatte dort naturgemäß mit Risiken zu tun, die seiner Meinung nach aber falsch verstanden und analysiert wurden. In der Antike, betont Taleb, seien Gesellschaften von Menschen gelenkt worden, die Risiken trugen. Heute hingegen streifen Manager unverschämt hohe Bonuszahlungen ein, auch wenn sie ein Unternehmen in den Ruin getrieben haben.

Ohne Bereitschaft zum Risiko und Scheitern gibt es für Taleb keine Moral, das gelte auch für Wissenschaftler, Intellektuelle und Journalisten.

Statt Top-down-Konzepten – also Verordnungen von oben – propagiert Taleb Bottom-up-Systeme wie das politische System der Schweiz, die keine zentrale Führung hat. Er schätzt Regionalität und grundsätzlich alle Methoden, die auf Tüfteln, Versuch und Irrtum beruhen, sowie das Prinzip Selbstregulation. Denn es sei viel leichter und sicherer, die fragilen Teile eines lecken Systems ausfindig zu machen und zu entfernen, als Risiken vorauszusagen.

Überlieferten Weisheiten vertraut er mehr als den Einsichten von Elfenbeinturm-Akademikern. Eine seiner Lieblingsfaustregeln kommt von den alten Römern: Baumeister müssten eine bestimmte Zeit unter der Brücke verbringen, die sie gebaut haben. Von den antiken Autoren übernahm Taleb auch einen gewissen Stoizismus, die Fähigkeit, seine Emotionen zu regulieren.

Risikobereitschaft endet für ihn im Angesicht eines Ruins, ob von Privatpersonen, Firmen oder unserer Lebenswelt durch eine Öko-Katastrophe. Und, möchte man heute hinzufügen: einer Pandemie. Denn dann sind auch für den Finanzmathematiker keine Kosten-Nutzen-Analysen mehr möglich. „Rationalität ist die Vermeidung eines systemischen Ruins“, lautet sein Fazit.

Neben Risikobereitschaft und Mut braucht es auch die klassische Tugend der Besonnenheit. Von Nassim Nicholas Taleb kann man lernen, in einer Welt zu handeln, die man nicht zur Gänze versteht.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 16/2020 vom 17.04.2020 (S. 32)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, April 15, 2020 7:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Kapital und Ideologie 

vom Author des Weltbestsellers "Das Kapital im 21. Jahrhundert"

von Thomas Piketty

ISBN: 9783406745713
Übersetzung: André Hansen
Übersetzung: Enrico Heinemann
Übersetzung: Stefan Lorenzer
Übersetzung: Ursel Schäfer
Übersetzung: Nastasja S. Dresler
Verlag: C.H.Beck
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Wirtschaft
Umfang: 1.312 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.03.2020
Preis: € 41,10

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Mit dem Weltbestseller
"Das Kapital im 21.Jahrhundert" hat Thomas Piketty eines der wichtigsten Bücher unserer Zeit geschrieben. Jetzt legt er mit einem gewaltigen Werk nach:
Kapital und Ideologie ist eine so noch niemals geschriebene Globalgeschichte der sozialen Ungleichheit und ihrer Ursachen, eine unnachsichtige Kritik der zeitgenössischen Politik und zugleich der kühne Entwurf eines neuen und gerechteren ökonomischen Systems.

Nichts steht geschrieben: Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Märkte, Profite und Kapital sind von Menschen gemacht. Wie sie funktionieren, hängt von unseren Entscheidungen ab. Das ist der zentrale Gedanke des neuen Buches von Thomas Piketty. Der berühmte Ökonom erforscht darin die Entwicklungen des letzten Jahrtausends, die zu Sklaverei, Leibeigenschaft, Kolonialismus, Kommunismus, Sozialdemokratie und Hyperkapitalismus geführt und das Leben von Milliarden Menschen geformt haben. Seine welthistorische Bestandsaufnahme führt uns weit über Europa und den Westen hinaus bis nach Asien und Afrika und betrachtet die globalen Ungleichheitsregime mit all ihren ganz unterschiedlichen Ursachen und Folgen. Doch diese eindrucksvolle Analyse ist für Thomas Piketty kein Selbstzweck. Er führt uns mit seinen weitreichenden Einsichten und Erkenntnissen hinein in die Krise der Gegenwart. Wenn wir die ökonomischen und politischen Ursachen der Ungleichheit verstanden haben, so Piketty, dann können wir die notwendigen Schritte für eine gerechtere und zukunftsfähige Welt konkret benennen und angehen.
Kapital und Ideologie ist das geniale Werk eines der wichtigsten Denker unserer Zeit, eines der Bücher, die unsere Zeit braucht. Es hilft uns nicht nur, die Welt von heute zu verstehen, sondern sie zu verändern. Thomas Piketty ist Direktor an der École des hautes études en sciences sociales und Professor an der École d’économie in Paris. Sein Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» wurde in 40 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als 2,5 Millionen mal verkauft.

Posted by Wilfried Allé Saturday, March 14, 2020 9:22:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Tiere im Nationalsozialismus 

von Jan Mohnhaupt

Sprache: Deutsch
Verlag: Hanser, Carl
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 09.03.2020
Preis: € 22,70


Rezension aus FALTER 11/2020

Menschenrechte und „Herrentiere“

Nationalsozialismus: Jan Mohnhaupt über das Verhältnis zu Tieren in der NS-Ideologie

Auch heute noch wird von Tierfreunden gerne – wenn auch hinter vorgehaltener Hand – darauf hingewiesen, dass während des Naziregimes wesentliche Verbesserungen zum Tierwohl eingeführt worden seien. Hitler hatte im ersten Jahr seiner Herrschaft ein neues Tierschutzgesetz erlassen, das damals als fortschrittlich galt und in der Bundesrepublik Deutschland bis 1972 unverändert in Kraft war. Tiere sollten damit „um ihrer selbst willen geschützt werden“, ein Anspruch, den die Nazis aber vielen Menschen nicht zugestanden. Hermann Göring hatte bereits als preußischer Ministerpräsident gegen jede Form von Tierversuchen Position bezogen und den „Vivisektionisten“ mit dem Konzentrationslager gedroht. Dies war zugleich auch eine der ersten Erwähnungen dieser Vernichtungseinrichtungen des Dritten Reichs.

Der Journalist Jan Mohnhaupt zeigt in seinem neuen Buch eine bisher von der Forschung nur mit Zurückhaltung beachtete Seite der NS-Zeit auf, in der ausgesuchte Tiere zu „Herrentieren“ erhoben wurden und gleichzeitig manche Menschen weniger Rechte als Tiere besaßen.

Für Nationalsozialisten stellten Tierschutz und Verbrechen gegen die Menschlichkeit offenbar keinen Widerspruch dar. Heinrich Himmler, Reichsführer SS, formulierte dies in einer seiner Reden so: „Ob beim Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muss: Das ist klar. Wir Deutsche, die als Einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen.“

Wie eng der Tierschutz mit den Grundüberzeugungen der NS-Ideologie verknüpft war und wie sehr es dem Regime half, damit auch im Alltag Terror auszuüben, das erzählt Mohnhaupt im Stil einer Reportage, die stets durch umfangreiche Quellenangaben belegt wird. Das Buch macht sichtbar, wie der auf den ersten Blick paradoxe Tierschutzgedanke dazu beitrug, die Gesellschaft auf völkisch-rassistischer Grundlage neu zu gestalten. Ein zentraler Bestandteil der braunen Gedankenwelt war es vor allem, den „Nutzen“ jedes Lebewesens für die Gesellschaft einzuschätzen und dann darüber zu urteilen, ob Tier oder Mensch ein Recht auf Leben habe oder als „Schädling“ systematisch zu vernichten sei.

Die Basis dafür bildeten krude Ableitungen aus Darwins Evolutionstheorie, die die rassische Zuchtwahl bei Tieren auf Menschen ausweiten sollten. Eine führende Rolle dabei spielte der Arzt und „Rassenhygieniker“ Alfred Ploetz. Auch die SS ging bei der Auswahl ihrer Rekruten wie ein „Saatzüchter“ vor und siebte die Menschen danach aus, ob sie „gebogene Nasen, markante Wangenknochen oder dunkle Haare“ hatten.

Rhetorische Techniken, die in der heutigen politischen Diskussion als „Framing“ Beachtung finden, wurden von den Nazis geschickt eingesetzt, indem etwa Juden im Kontext der Hygiene und von Infektionskrankheiten genannt wurden. Hitler bezeichnete sie in „Mein Kampf“ als „Bazillen, die sich immer weiter ausbreiten“, und Himmler stilisierte sie zu Parasiten: „Mit dem Antisemitismus ist es wie mit der Entlausung. Es ist keine Weltanschauungsfrage, dass man Läuse entfernt. Das ist eine Reinlichkeitsangelegenheit.“

Vielleicht auch deswegen überdachte der Pädagoge Janusz Korczak die Beziehung zu diesen Tieren neu. Er schrieb in seinem „Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto“: „Gestern habe ich eine Laus gefangen und sie ohne Skrupel mit einer einzigen schnellen Bewegung der Fingernägel zerquetscht. Wenn ich dazu komme, schreibe ich eine Apologie der Laus, denn unser Verhältnis zu diesem schönen Insekt ist ungerecht und unwürdig. Wer wird den Mut haben und vortreten, um sie zu verteidigen?“

Diese Entmenschung wird auch Kindern kommuniziert. Ernst Hiemer, Chefredakteur der Wochenzeitung Der Stürmer, wies in seinem Kinderbuch „Pudelmopsdackelpinscher“ Tieren „jüdische Eigenschaften“ zu. Neben schmutzigen Mischlingshunden kamen unnütze Drohnen, Heuschrecken und Wanzen vor. Auch die jungen „Pimpfe“ sollten von früh an mit der entmenschlichenden Ideologie der Nazis in Berührung kommen.

Im Unterschied zu reinrassigen, sich unterordnenden Hunden galten Katzen als eine „fremde, unberechenbare Rasse aus dem Orient“. Der Katzenjäger und Journalist Willi Vesper erklärte seinem Sohn, dass man Katzen „keinen menschlichen Charakter anerziehen könne und sie als reine Stadttiere tückisch, falsch, asozial, also die Juden unter den Tieren“ seien. Dies stieß auch auf Resonanz bei den Vogelschützern. Während den Singvögeln „bürgerliche“ Eigenschaften wie Monogamie, Fürsorge und Hausmusik nachgesagt wurden, standen Katzen für alles Zügellose und Lasterhafte. Für viele war daher die Katze niemals ein echtes deutsches Haustier, sondern ein aus dem Osten eingewanderter Feind. Jäger bekamen 1934 daher das (bis heute bestehende) Recht, jede Katze zu erschießen, die sich weiter als 200 Meter vom nächsten bewohnten Haus aufhielt.

Dem Thema der Jagd widmet das Buch einen ausführlichen Teil, denn die Ansichten der Jägerschaft passten bestens in das Konzept von „Blut und Boden“. Die sogenannte Hege mit der Büchse entsprach dem Selektionsprinzip der „Rassenhygiene“. Hermann Göring erkannte die Möglichkeit, eine weitere Bevölkerungsgruppe ideologisch auf die NS-Ideologie einzuschwören. In seiner Funktion als Reichsjägermeister konstruierte er ein „Deutsches Jagdliches Brauchtum“ und neue Begriffe wie die „deutsche Waidgerechtigkeit“, die bestimmte Gruppen wie die Bauernschaft vom Zugang zum Wildbret fernhalten sollte.

Viele angeblich traditionelle Bräuche wurden erfunden und als altdeutsche Tugenden ausgegeben. Und einige NS-Rituale leben bis heute in der Jägerschaft weiter. Etwa dass dem erlegten männlichen Hirsch ein „letzter Bissen“ in den Äser, das Maul, gelegt wird. Meist handelt es sich dabei um einen nadeligen Fichtenzweig, ein Futter, das der Hirsch zu Lebzeiten nie gefressen hätte. Im Vergleich zu Göring, der die Trophäenjagd liebte, erscheint Hitler – so schwer es auch fällt, das zu sagen – mit seiner Abneigung gegen „den letzten Überrest einer abgestorbenen, feudalen Welt“ fast ein wenig sympathisch. Von ihm ist das Zitat überliefert, dass „das Anständigste bei der Jagd das Wild“ sei. Auch hegte er für Wilddiebe eine vermutlich romantisch verklärte Sympathie, weil diese seiner Meinung nach bei der Jagd noch ihr Leben riskieren würden.

Das Buch überzeugt mit seiner geschickten Verflechtung von angenehm lesbaren Geschichten mit gut recherchierten historischen Fakten. Jedes Kapitel befasst sich mit einer bestimmen Tiergruppe, wie zum Beispiel Hunden, Schweinen oder Pferden, der in der Nazizeit besondere Bedeutung zukam. Man begleitet dabei eine konkrete Person wie den Literaturwissenschaftler Victor Klemperer durch diese Terrorjahre und erfährt etwa am Schicksal seines Katers Mucius, wie scheinbar nur dem Naturschutz dienenden Gesetze als Repressionsmittel gegen die jüdische Bevölkerung eingesetzt wurden.

Egal, ob Seidenraupen zu kriegswichtigen Lebewesen gemacht wurden oder Hundezucht als Vorbild für die Rassengesetzgebung diente, das Buch zeigt eine weitere, bisher vernachlässigte Facette davon auf, wie sehr die NS-Ideologie alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang.

Peter Iwaniewicz in FALTER 11/2020 vom 13.03.2020 (S. 40)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 11, 2020 3:59:00 PM Categories: 20. Jahrhundert (bis 1945) Geschichte Sachbücher
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Unser Land 

Wie wir Heimat herstellen

von Christoph Bartmann, Matthias Dusini, Lisa Eckhart, Rainer Gross, Sibylle Hamann, Sebastian Hofer, Klaus Nüchtern, Renata Schmidt-Kunz, Armin Thurnher, Thomas Walach: Klaus Nüchtern (Hg.), Thomas Walach (Hg.)

 

EAN: 9783854396673
Verlag: Falter Verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945)
Reihe: Fachbücher
Erscheinungsdatum: 24.02.2020
Preis (Papier): € 19,90
Preis (ePUB): € 14,99

 

Man werde „sich wundern, was alles gehen wird“, fasste der damalige Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer im Herbst 2016 sein Amtsverständnis zusammen. Obwohl er dann doch nicht zum Bundespräsidenten gewählt wurde, sollte er recht behalten. Nach der Nationalratswahl 2017 verfügt Österreich über eine deutliche Parlamentsmehrheit, die von rechts der Mitte bis ins rechtsextreme Lager reicht. Die Politik der Koalitionsparteien nutzt rassistische und chauvinistische Ressentiments. Das Regierungsprogramm zielt gegen sozialstaatliche und sozialpartnerschaftliche Institutionen. Es bestärkt die anti-europäischen Reflexe und heizt die nationalistischen Divergenzen in Südtirol und auf dem Balkan an. Von Anfang an wurde gegen kritische Redaktionen und gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehetzt. All das geschieht unter dem Vorwand, „unser Land“ gegen seine vorgeblichen äußeren wie inneren Feinde in Schutz zu nehmen.

Dieses Land ist aber nicht nur das Land der Illiberalen, Nationalkonservativen und Rechtspopulisten. Es ist auch die Heimat von Menschen, die das Abdriften des öffentlichen Diskurses in die Wort- und Themenwahl der extremen Rechten nicht länger hinzunehmen bereit sind. Heimat, das ist kein Begriff nationalistischer Propaganda, weil die Sache Heimat an sich kein Exklusivrecht der populistischen Rechten ist. Heimat, das kann auch sein: ein freies Land im Rahmen eines friedlich vereinten Europa, das den Rechtsgütern der Gleichheit, des Pluralismus und der Solidarität und den Werten der Aufklärung verpflichtet ist, und dessen Bewohnerinnen und Bewohner unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Religion die Teilhabe am Gemeinwesen und am kreativen und kulturellen Reichtum des Landes ermöglicht werden soll.

Die Menschen in diesem Land haben ein Recht darauf, dass diese vor Generationen errichteten Grundsätze weiter unser Gemeinwesen tragen, und es ist ohne Zweifel „res publica“, also eine Sache der Allgemeinheit, über dieses Fundament zu wachen. Wir sehen es als unsere Aufgabe, stellvertretend Position zu beziehen für eine Heimat, die mehr ist, als die propagandistischen Versatzstücke nationalistischer Rhetorik: Unser Land, das andere, das offene und freie Österreich.

Wir verzichten bei diesem Buch im Sinne der Umwelt auf die Verpackung mit Plastikfolie.

 

Rezension aus FALTER 11/2020

HALT, DA IST EIN SPALT!

Den Heimatbegriff hinterfragen? Ja eh. Besser aber noch: eine lebenswerte Heimat herstellen

Zweihundertdreiundvierzig zu sechs. Was für eine Niederlage! Herbert Kickl rechnet es der neuen, türkis-grünen Regierung am Tag von deren Angelobung vor und kreidet es ihr an: 243 Mal „Klima“, bloß sechs Mal „Heimat“ – „und das jedes Mal nur in einem Zusammenhang mit Zuwanderung. Da ist nichts zu finden von einem positiven Heimatbegriff in Zusammenhang mit der österreichischen Bevölkerung.“

Werner Kogler, der als Nachfolger des Selbstsprengungsopfers Heinz-Christian Strache den Neuen an der Seite des frischverpartnerten Kanzlers gibt, nimmt den Angriff zur Kenntnis und wehrt ihn ab: „Möglicherweise“, so sinniert er, „ist Heimat auch der Ort, wo die Herzen groß genug sind und die Hirne weit genug denken können, um zu erkennen, dass das möglich und sinnvoll ist, was hier gelungen ist.“ Und er zititert einen Satz Alexander Van der Bellens aus dem Wahlkampf von 2016: „Wer seine Heimat liebt, der spaltet sie nicht.“

Der spätere Bundespräsident hatte auf den für einen eher dem linksliberalen Lager zugerechneten Kandidaten nicht ganz unheiklen Begriff gesetzt: „Heimat“, einen für lange Zeit diskreditierten, im schlimmsten Fall mit nazistischer Blut-und-Boden-Ideologie assoziierten Begriff, den die Parteigänger der politischen Rechten für sich gepachtet zu haben schienen – nicht zuletzt, weil man ihn ihr auch taxfrei überlassen hatte.

Über die Frage, ob oder wie der Heimatbegriff neu besetzt werden könne, herrscht naturgemäß Uneinigkeit. Van der Bellens Slogan etwa bezeichnet Max Czollek in seinem Buch „Desintegriert euch“ etwas süffisant als „Rhetorik der Zärtlichkeit“. Für ihn ist diese lediglich Ausdruck der Hilflosigkeit, mit der man nun auch links der Mitte auf die Herausforderung der AfD zu reagieren versucht.

Die Heimat, die die Rechten meinen, wird als etwas „Ursprüngliches“ verstanden, obwohl es die Personen, Dinge und Rituale, die man mit ihr assoziiert – Mozart, Schnitzel oder den von Andreas Gabalier nostalgisch besungenen Brauch des Scheitelkniens –, auch nicht „immer schon“ gegeben hat. Irgendwann aber hat sich „Heimat“ offenbar aus der Geschichte verabschiedet und beansprucht fürderhin Unveränderlichkeit, weswegen sich die Kickls und Vilimskys dieses Landes (wo kommt jemand dieses Namens eigentlich her?) auch unentwegt anheischig machen, als Einzige „das wahre Rot-Weiß-Rot“ in ungebrochener Strahlkraft zu erhalten.

Da müssen sich all jene, die unter „Heimat“ etwas anderes verstehen als einen Besitzstand, der einem qua genetisch festgeschriebenem „Austriernachweis“ zukäme, schon etwas mehr anstrengen. Denn selbstverständlich lässt sich der Heimatbegriff der Rechten nicht einfach „auf links drehen“. Dass dieser Versuch zu peinlichem Scheitern verdammt ist, belegt das Plakat, mit dem die Salzburger Grünen unter dem Slogan „Heimat beschützen“ ihren Landtagswahlkampf im Jahr 2018 bestritten – und das genauso gut von der FPÖ hätte stammen können.

Der schweizerisch-israelische Psychologe, Philosoph und Publizist Carlo Strenger hat in einem 2015 erschienenen Essay Anstoß daran genommen, dass weite Teile der unter dem Einfluss der „Ideologie der politischen Korrektheit“ stehenden europäischen und amerikanischen Linken die „Grundpfeiler der Aufklärung nicht länger selbstbewusst und voller Stolz verteidigen“ würden (womit er nicht unrecht hat). Er möchte dieses Manko durch etwas behoben wissen, was er „zivilisierte Verachtung“ nennt: „Sie muss erstens auf Argumenten beruhen, die zeigen, dass derjenige, der sie vorbringt, sich ernsthaft darum bemüht hat, den aktuellen Wissensstand in relevanten Disziplinen zu reflektieren [...]. Zweitens muss sie sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten und nicht gegen Menschen, die sie vertreten.“

Dazu eine Anekdote aus eigenem Erleben. Im November 2018 hielt Heinz-Christian Strache eine Signierstunde in einer Wiener Buchhandlung ab, die ich aus professionellen Gründen besuchte. Neben mir unterhielt man sich ganz ungezwungen, und ein Mann hielt mit seiner Einsicht, dass „das alles gesteuert“ sei, nicht hinterm Berg. Er wisse verbindlich, dass die syrischen Flüchtlinge von George Soros mit Smartphones, fünf- bis zehntausend Dollar und dem Auftrag zum Auswandern ausgestattet worden waren – „bloß nicht in die USA“.

Tatsächlich aber ging es ihm um etwas ganz anderes. In einer Klarsichthülle hatte er diverse Dokumente bei sich, die belegten, dass er für die Pflege seiner Eltern – beide über neunzig Jahre alt – „nicht einmal die Mindestsicherung“ bekomme. Die wollte er dem H.-C. vorlegen, damit ... Ich dachte mir damals, dass der Mann unter den Demonstranten, die an diesem Donnerstag gegen die von der „Sozial“ministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) betriebene Auflösung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) protestiert hatten, besser aufgehoben gewesen wäre. Dennoch: Ein Mann, frustriert und vielleicht sogar verzweifelt darüber, dass er nicht genug Geld bekommt, um seine greisen Eltern zuhause zu pflegen. Wie genau würde hier „zivile Verachtung“ weiterhelfen?

In seinem jüngsten Buch unternimmt Carlo Strenger den Versuch, „Diese verdammten liberalen Eliten“ (2019) zu verteidigen, kann ihnen aber einen Vorwurf nicht ersparen: „Sie haben die wahrhaft destruktive Neigung, stärker traditionsverbundene Gesellschaftsgruppen, die ihre aufgeklärten Ansichten nicht teilen, geringzuschätzen und runterzumachen.“ Darüber hinaus muss sich Strenger resigniert eingestehen, dass es fruchtlos ist, Politiker à la Trump anzugreifen und deren Lügen zu entlarven: „Es ist praktisch unmöglich, solche Anführer zu attackieren, ohne dass sich auch ihre Wähler angegriffen fühlen.“

Das ist zwar frustrierend, aber ich denke, dass der Versuch, die verfahrene Situation zu ändern, das Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit zur Voraussetzung haben muss. Aus diesen Gründen gilt es auch den beliebten Sündenfall-Narrativen zu misstrauen, die auf den Siegeszug des Neoliberalismus und darauf hinauslaufen, dass die Sozialdemokratie sich mit Blair und Schröder freiwillig in dessen Fahrwasser begeben hätte. Nicht, dass das falsch wäre, bloß hilft es auch nicht weiter, wenn man so tut, als könne man das Rad der Geschichte zurückdrehen und müsse dann nur die richtige Abzweigung nehmen, um alles wiedergutzumachen.

Nicht nur die Rechten hoffen, dass es endlich wieder so wird, wie es nie war, auch die Linke „sehnt sich nach der größeren sozialen Gleichheit, der starken Industriearbeiterschaft und dem Wohlfahrtsstaat der alten Industriegesellschaft“, konstatiert der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz und hat auch das passende Wort dafür parat: „Nostalgie“. Jetzt, wo die Arbeiterschaft (oder das, was aus ihr geworden ist) zu überwiegenden Teilen im rechten Lager steht, tragen selbst Linke, die mit dem Proletariat bislang herzlich wenig am Hut hatten, eine Träne im Knopfloch und hätten gerne ihren „Hackler“ zurück – auch wenn sie sich gekränkt oder erbost darob zeigen, dass der auf einmal so blöd ist und „gegen die eigenen Interessen“ wählt.

„Wenn Sie Populisten in Faschisten verwandeln wollen, dann erklären Sie ihnen, dass sie falsch gewählt haben und dass ihre Gefühle ungerechtfertigt oder nicht einmal erlaubt sind.“ Das Zitat stammt vom belgischen Historiker David Van Reybrouck, der in Robert Schabus’ Dokumentarfilm „Mind the Gap“ (2020) zu Wort kommt. Van Reybrouck legt damit den Finger auf einen wunden Punkt: Warum sollten Menschen ausgerechnet auf jene hören oder sich gar mit ihnen zusammentun, von denen sie jahre- und jahrzehntelang belehrt, gemaßregelt, herablassend behandelt und verachtet worden sind?

Mit „Fremd in ihrem Land“ hat Arlie Russell Hochschild eine sozialanalytische Reportage vorgelegt, die sie über fünf Jahre lang immer wieder nach Louisiana führte, wo Donald Trump 2016, als das Buch erschien, einen klaren Wahlsieg feiern sollte. Als Cicerone diente ihr Mike Schaff – männlich, weiß, Mitte sechzig und Sympathisant der Tea-Party-Bewegung. „Ich komme aus Berkeley, Kalifornien, ich bin Soziologin und versuche, die tiefer werdende Spaltung in unserem Land zu verstehen, erklärt sie sich. „Bei dem Wort ,Spaltung‘ nickte Mike und stichelte dann: ,Berkeley? Da seid ihr ja wohl alle Kommunisten!‘ Er grinste, als wollte er sagen: ,Wir Cajuns haben Humor, ich hoffe, ihr auch.‘“

Apropos Spaltung. In der deutschen Übersetzung hat sich der Untertitel von Russells Buch auf eigenartige Weise verändert: Aus „A Journey to the Heart of Our Political Divide“ wurde „Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten“. Nicht nur die Spaltung ist also verloren gegangen, sondern auch das besitzanzeigende Fürwort. Auf Deutsch begibt man sich auf fremdes Terrain oder gar ins Feindesland, während im amerikanischen Original die Phrase „our political divide“ die Verantwortung für die Spaltung nicht einfach einer Seite zuweist, sondern paradoxerweise das Trennende zur gemeinsamen Sache macht.

Das ist ein kleiner, aber signifikanter Unterschied, der nichts mit falscher Versöhnung zu tun hat (Stichwort: „Rhetorik der Zärtlichkeit“). „Wir müssen reden. Und streiten“, ist auf dem Cover von Czolleks „Desintegriert euch!“ zu lesen. Dem kann man nur zustimmen. Selbstverständlich kann „Streit“ auch zur „Spaltung“ führen, er ist seinem Wesen nach aber etwas anderes. Im besten Fall führt er zu produktiven Kompromissen. Im schlimmsten Fall läuft er auf „Spaltung“, auf Lähmung und autistische Isolation hinaus.

In ihrem Buch „Ich und die Anderen“ denkt Isolde Charim darüber nach, welche Ikonografie für einen neuen Heimatbegriff, für eine „Heimat der Unähnlichen“ tragfähig wäre, und verfällt dabei auf das verkehrspolitische Modell der Begegnungszone: „Durch räumliche Gestaltung – wie dem Wegfall von eindeutig zugeordneten Straßenflächen – erzeugt man beim Einzelnen ganz absichtlich das Gefühl von Unsicherheit. Denn genau das führt zu verändertem Verhalten. Die Unsicherheit des Einzelnen erzeugt eine sicherere Gesamtsituation.“

Die Linke täte gut daran, würde sie sich und den anderen wieder etwas mehr Unsicherheit zubilligen und dem Gegenüber einfach auch einmal zuhören oder mit diesem zu interagieren, ohne davor ein präventives Gesinnungsscreening durchzuführen. Und auch hierzu hätte ich noch eine Anekdote aus eigener Anschauung parat.

Schauplatz ist diesmal die Filiale eines Wiener Bio-Supermarktes. Im Theater nebenan findet eine Veranstaltung im Rahmen eines Tanzfestivals statt, dessen Besucherinnen und Besucher sich vor der Vorstellung noch mit Getränken und Snacks versorgen und die an ihrer Kleidung und ihren schlaffen Baumwollbeuteln unschwer als Vertreter der Spezies „Hipster“ zu identifizieren sind. Als sich ein junger Mann mit dunklerer Hautfarbe anschickt zu bezahlen, bittet ihn die Verkäuferin, seine Tasche kontrollieren zu dürfen. Der Mann ist sichtlich genervt und will wissen, warum ausgerechnet er. Die Kassiererin reagiert ebenfalls unrund, deutet an, den Chef holen zu müssen, erste Unmutsäußerungen werden gezischt: „This is racist!“

Ich habe auch in diesem Fall „versagt“. Dabei wäre es eigentlich ziemlich leicht gewesen. Ich hätte bloß darauf hinzuweisen brauchen, dass die Frau am Förderband eben Dienst nach Vorschrift mache und man ihr deswegen vielleicht nicht unbedingt gleich mit dem Rassismusvorwurf kommen müsse. Der Kassiererin aber hätte ich sagen können, dass der junge Mann vermutlich wesentlich öfter als andere dazu angehalten werde, seine Tasche vorzuweisen, dass die Gründe dafür unschön auf der Hand lägen, seine unwirsche Reaktion leicht nachzuvollziehen sei und sie darauf etwas sensibler hätte reagieren können.

Um eine solche Situation zu entspannen, bedarf es lediglich eines gewissen Maßes an Einfühlungsvermögen und der Bereitschaft, den Konflikt auf Augenhöhe untereinander zu lösen oder sich einfach persönlich zu wehren, anstatt einen Shitstorm zu entfesseln oder die nächste Beschwerdestelle damit zu befassen.

Gerade jenen Linken und Liberalen, die sich als erfolgreiche Repräsentanten einer „Gesellschaft der Singularitäten“ oft genug in einer privilegierten Position befinden, stünde ein geringeres Maß an beschämungsbereiter Selbstgefälligkeit nicht übel an. Anstatt danach zu trachten, es besser zu wissen, sollten sie versuchen, es besser zu machen.

Der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty beklagt in seinen Vorlesungen, die in der leider vergriffenen deutschen Übersetzung unter dem Titel „Stolz auf unser Land“ erschienen sind, dass er unter vielen seiner Kollegen und den Studenten „eine zuschauerhafte, angeekelte, ironische Linke“ antrifft „statt einer, die von der Vervollkommnung unseres Landes träumt“.

An dieser zu arbeiten ist das, worauf der Sammelband „Unser Land“ gerne Lust machen würde. Ganz im Sinne der „Kinderhymne“, der wohl schönsten Hymne, die je gedichtet (Bert Brecht) und komponiert (Hanns Eisler) wurde: „Und weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s / Und das Liebste mag’s uns scheinen / So wie andern Völkern ihrs.“

Klaus Nüchtern in FALTER 11/2020 vom 13.03.2020 (S. 38)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 11, 2020 12:12:00 PM Categories: 20. Jahrhundert (bis 1945) Geschichte Sachbücher
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Kult-Kanzler Kreisky 

Mensch und Mythos

von Christoph Kotanko

Sprache: Deutsch
Verlag: Ueberreuter
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Biographien, Autobiographien
Umfang: 196 Seiten
Erscheinungsdatum: 20.02.2020
Preis: € 22,95


Rezension aus FALTER 10/2020

Kreisky-Kult, da capo

Am 1. März war es genau 50 Jahre her, dass Bruno Kreisky bei den Nationalratswahlen eine relative Mehrheit gewann, mit Duldung der FPÖ eine Minderheitsregierung bildete und damit den Grundstein für 13 Jahre roter Vormacht in Österreich legte. Die „Kreisky-Jahre“ sind bis heute eine sozialdemokratische Sehnsuchtsperiode, im Jahr 2020 mehr denn je. Kreisky kümmerte sich schon zu Lebzeiten um sein historisches Denkmal, er veröffentlichte glänzend geschriebene Memoirenbände. Enge Weggefährten wie Heinz Fischer und Hannes Androsch pflegten sein Andenken publizistisch weiter (siehe „Wieder gelesen“ weiter unten).

Nun ist es an Beobachtern der jüngeren Generation, ihren Kreisky zu würdigen. Christoph Kotanko, Jahrgang 1953, einer der erfahrensten Politikjournalisten Österreichs, nähert sich Kreisky über Gespräche mit Zeitzeugen wie Margit Schmidt, Kreiskys persönlicher Sekretärin, Alfred Reiter, dessen langjährigem Kabinettschef, und Peter Jankowitsch, dem ersten Büroleiter, und über seine eigenen Erfahrungen als Jungjournalist. Kotanko wählt seine Anekdoten nicht nach Unterhaltungswert, sondern mit Scharfsinn. So wird Kreisky als Politiker sichtbar, mit seinen Stärken wie Schwächen, die Kotanko im Kontext seiner Zeit gut darstellt. Ein an Analyse wie Lesefreude starkes Kreisky-Buch.

Barbara Tóth in FALTER 10/2020 vom 06.03.2020 (S. 24)

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 5, 2020 12:06:00 AM Categories: Autobiographien Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Biographien
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A Planet to Win 

Why We Need a Green New Deal

Ein Planet zum Gewinnen: Warum wir einen grünen New Deal brauchen

von Daniel Aldana Cohen, Alyssa Battistoni, Thea Riofrancos, Kate Aronoff und Naomi Klein (Vorwort von)

Sprache: Englisch
Verlag: Verso Books
Serie: Jacobin
Genre: Politikwissenschaft/Umweltpolitik, Politische Ökonomie
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 12.11.2019
Preis: € 16,50

 

Beschreibung


Im 21. Jahrhundert ist jede Politik Klimapolitik.

Das Zeitalter des Klima-Gradualismus ist vorbei, da beispiellose Katastrophen durch Ungleichheiten zwischen Rasse und Klasse verschärft werden. Wir brauchen tiefgreifende, radikale Veränderungen. Ein Green New Deal kann gleichzeitig den Klimanotfall und die weit verbreitete Ungleichheit angehen. Die Reduzierung der CO2-Emissionen bei gleichzeitiger Erzielung sofortiger Gewinne für viele ist der einzige Weg, eine Bewegung aufzubauen, die stark genug ist, um das große Öl, das große Geschäft und die Superreichen zu besiegen - und zwar ab sofort.

A Planet to Win untersucht das politische Potenzial und die konkreten ersten Schritte eines Green New Deal. Es fordert den Abbau der Industrie für fossile Brennstoffe und den Bau wunderschöner Landschaften mit erneuerbaren Energien, um klimafreundliche Arbeit, kohlenstofffreies Wohnen und kostenlose öffentliche Verkehrsmittel zu gewährleisten. Und es zeigt, wie ein Green New Deal in den USA die Bewegungen für Klimagerechtigkeit weltweit stärken kann. Wir machen keine Politik unter Bedingungen unserer Wahl, und niemand würde diese Krise wählen. Krisen bieten aber auch Chancen. Wir stehen am Rande einer Katastrophe - aber auch am Rande eines wundersamen, transformativen Wandels.

Über den Autor


Kate Aronoff ist Fellow am Type Media Center und Contributing Writer am Intercept . Sie ist Mitherausgeberin von We Own the Future und Autorin von The New Denialism . Ihr Schreiben wurde in Guardian , Rolling Stone , Harper's , In These Times und Dissent veröffentlicht .

Alyssa Battistoni ist Postdoktorandin an der Harvard University und Redakteurin bei Jacobin . Ihr Schreiben ist im Guardian , n + 1 , der Nation , Jacobin , In These Times, Dissent und der Chronicle of Higher Education erschienen .

Daniel Aldana Cohen ist Assistenzprofessor für Soziologie an der University of Pennsylvania, wo er die Socio-Spatial Climate Collaborative (SC) 2 leitet. Sein Schreiben wurde in Guardian , Nature , the Nation , Jacobin , Public Books , Dissent und NACLA veröffentlicht .

Thea Riofrancos ist Assistenzprofessorin für Politikwissenschaft am Providence College und Autorin von Resource Radicals . Ihr Schreiben erschien im Guardian , n + 1 , Jacobin , der Los Angeles Review of Books , Dissent und In These Times . Sie ist Mitglied des Lenkungsausschusses der DSA-Arbeitsgruppe für Ökosozialisten.

Wofür Lob gebührt…


Ein Planet zum Gewinnen kommt im perfekten Moment und fordert uns heraus, Hoffnung zu finden und angesichts von Catas-Trophe eine gerechtere Welt aufzubauen. Die Autoren skizzieren transformative Lösungen für die Klimakrise, die wirtschaftlich tragfähig und politisch möglich sind - wenn wir uns organisieren und um den Sieg kämpfen.
- Varshini Prakash, Exekutivdirektor der Sunrise Movement

„Die Klimakrise stellt unsere Spezies vor eine enorme existenzielle Herausforderung. Aber wir haben keine Zeit, überwältigt zu werden. Die enorme Aufgabe erfordert noch größere Ideen, Strategien und Taktiken. In diesem Buch greifen einige unserer schärfsten und klarsten Stimmen über das Klima kritisch in die aufkeimende Bewegung ein, um unseren Planeten zu retten. Lies ihr Buch und nimm am Kampf teil. “
- Keeanga-Yamahtta Taylor, Autorin von From #BlackLivesMatter to Black Liberation

"Dieses Buch ist dringend, mit klaren Augen und voller Energie. Es ist ein starkes Beispiel für das radikale kollaborative Denken, das wir dringend brauchen, um Klimadystopie zu vermeiden und eine Welt zu gewinnen, in der viele überleben und gedeihen können."
-Astra Taylor, Direktor von Was ist Demokratie?

„Der Klimawandel ist jetzt todernst. Deshalb ist dieses todernste Buch gerade jetzt so willkommen und so wichtig. Kein Knabbern mehr an den Rändern - es ist Zeit, diesen Moment tatsächlich zu nutzen. “
Bill McKibben, Autor von Falter , Mitbegründer von 350.org

„Eine hervorragende Orientierung an der ökologischen Krise, mit der wir konfrontiert sind, und der Green New Deal, der der notwendige Beginn unserer Reaktion ist. Dieses Buch ist genau am Puls unserer Zeit. “
- Kim Stanley Robinson, Autor von New York 2140

" Ein Planet zum Gewinnen hilft uns, uns das Leben unter dem Dach eines radikalen Green New Deal vorzustellen."
- Sierra Magazine

"Bietet eine schillernde Reihe konstruktiver Projekte, die den Verlust des grünen Übergangs aus wirtschaftlicher Vergeltung begleiten. A Planet to Win ist der amerikanische Kern einer Vision für eine Post-Carbon-Zukunft, und sein Optimismus ist inspirierend."
- Quin Slobidian, Außenpolitik


Rezension aus FALTER 9/2020

Denkimpulse am Weg zu einem Green New Deal

Zwei neue Bücher liefern programmatischen Stoff für die Sehnsucht nach einer umfassenden Ökologisierung à la Millennial Socialism

Wie sieht ein politisches Programm zur Abwendung des Klimakollapses aus? Diese Frage stimulierte eine Revitalisierung linken Denkens im angelsächsischen Raum. Dazu gehören Thinktanks wie Common Wealth und das Institute for Public Policy Research im Vereinigten Königreich oder People’s Policy Project, New Consensus und Data for Progress in den USA. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Green New Deal (GND) einen neuen Schwerpunkt in der Verlagslinie von Verso bildet, welches mit dem Monatsmagazin Jacobin das publizistische Sprachrohr des Millennial Socialism bildet. Vor allem in den USA gewinnt der GND zunehmend an Popularität, getragen von den Post-2000er-Bewegungen aus Occupy Wall Street, Black Lives Matter und den Democratic Socialists of America (DSA) rund um Alexandria Ocasio-Cortez. „A Planet to Win: Why We Need a Green New Deal“ sowie „The Case for the Green New Deal“ wurden von zentralen Ideengebern der GND-Kampagnen von Alexandria Ocasio-Cortez, Bernie Sanders und Jeremy Corbyn geschrieben.

„The Case for the Green New Deal“ ist ein Manifest für die Umleitung von überschüssigem Finanzkapital in den klimagerechten Umbau der Weltwirtschaft. Dabei greift Pettifor auf ihren ursprünglichen GND-Entwurf zurück, den sie mit Richard Murphy – dem Hauptverfasser von Corbyns 2015-Programm – sowie weiteren Mitstreitern in London verfasst hat. Ihr Argument: „We can afford what we can do.“ Geld ist keine endliche Ressource, sondern ein soziales Konstrukt, das sich durch eine Reihe an politischen Interventionen im Interesse des GND mobilisieren lässt. Darunter fallen etwa schärfere Kapitalverkehrskontrollen, Finanztransaktionssteuern sowie Alternativen zum US-Dollar als internationaler Leitwährung. Als Gegenkonzept zur Fokussierung auf „Wirtschaftswachstum“ – sie verweigert sogar die Verwendung des Begriffs – bemüht Pettifor das von Herman Daly entwickelte Konzept der „Steady
State Economy“, wonach wirtschaftliche Kapazitäten mit ökologischen Kapazitäten abgestimmt werden müssen, etwa indem Finanzbudgets durch Emissionsbudgets ergänzt werden.

„A Planet to Win“ fordert eine grüne Infrastrukturoffensive in der Tradition von
Roosevelts „New Deal“ sowie die Entmachtung der fossilen Brennstoffindustrie. Die Klimakrise sei nicht auf das Konsumverhalten der breiten Masse zurückzuführen, sondern im Interesse einflussreicher Kapitalfraktionen, woraus die Forderung nach einer Verstaatlichung des Energie- und Stromsektors abgeleitet wird.

Während sich das Buch vor allem auf die Situation in den USA konzentriert, widmet sich das vermutlich spannendste Kapitel der sogenannten „supply chain justice“; also der Frage, wie der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen nicht durch den unkontrollierten Rohstoffabbau im globalen Süden kompensiert wird. Anhand von ethnografischen Forschungen in chilenischen Lithiumgebieten werden die Potenziale einer solidarischen grenzüberschreitenden Wertschöpfungskette ausgelotet.

Der Guardian bezeichnete letztes Jahr den GND als „most fashionable policy in the English-speaking world“. Der Begriff scheint tatsächlich über die politischen Lager hinweg zunehmend positiv besetzt zu sein. Selbst die Europäische Kommission stellte kürzlich ihre Version eines „Green Deal“ vor (ohne das Attribut „new“, um nicht mit Roosevelt assoziiert zu werden).

Die Lektüre beider Bücher verdeutlicht, dass es sich beim GND nicht um eine bloße Chiffre handelt, sondern einen konkreten politischen Plan, über den es sich in Europa ernsthaft zu diskutieren lohnt.

Philip Rathgeb in FALTER 9/2020 vom 28.02.2020 (S. 23)

Posted by Wilfried Allé Thursday, February 27, 2020 11:44:00 AM Categories: Politikwissenschaft/Umweltpolitik Politische Ökonomie
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Postdemokratie 

von Colin Crouch

Übersetzung: Nikolaus Gramm
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Politikwissenschaft/Politische Theorien, Ideengeschichte
Umfang: 159 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.05.2008
Preis: € 10,30

 

Rezension aus FALTER 7/2020

Die gegängelten Bürger

Die Demokratie, so postulierte der britische Politologe Colin Crouch schon vor 16 Jahren, werde ausgehöhlt. Unser Gemeinwesen werde nicht mehr von den Interessen der Wähler bestimmt. Vielmehr würden Konzerne, PR-Profis und Kommerzmedien die Bürger manipulieren, und die würden bloß noch reagieren. Ein Bestseller, nach wie vor höchst aktuell.

Gerlinde Pölsler in FALTER 7/2020 vom 14.02.2020 (S. 22)

 

Selbstkritik von Colin Crouch an der „Postdemokratie“ (31. März 2019)

Jürgen Klatzer (Text), Peter Pfeiffer (Foto, Video), beide ORF.at ->

 

Rezension aus FALTER 18/2012

Demokratie ohne Bürger

Manchmal schreibt ein Autor ein Werk, das stilprägend wird für eine ganze Epoche. Im Fall von "Postdemokratie" des Politologen Colin Crouch ist genau das gelungen. Das vor vier Jahren auf Deutsch erschienene Werk brachte auf den Punkt, was bis dahin in vielen Köpfen nur als böse Ahnung lebte: Crouch beschreibt, wie unser Gemeinwesen nicht mehr von den Interessen der Wähler bestimmt wird, sondern von Konzernen und PR-Büros. Unsere demokratischen Institutionen würden zwar formal weiterhin existieren, sie arbeiteten aber zunehmend abgeschottet von den Bürgern.

Wolfgang Zwander in FALTER 18/2012 vom 04.05.2012 (S. 20)


 

Rezension aus FALTER 38/2008

Ausgehöhlte Demokratie

Geht es nach dem britischen Politologen Colin Crouch, leben wir in einer politischen Scheinwelt. Die demokratischen Institutionen sind formal intakt, aber die Entscheidungshoheit ist auf privilegierte Wirtschaftseliten übergegangen. Schon 2004 kam Crouchs schmaler, mit Verve geschriebener Band in England auf den Markt. Vieles, was der Autor, bekennender Sozial­demokrat, anhand englischer, italienischer und amerikanischer Phänomene aufzeigt, hat auch für Österreich Gültigkeit.

Barbaba Tóth in FALTER 38/2008 vom 19.09.2008 (S. 26)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 12, 2020 9:07:00 PM Categories: Ideengeschichte Politikwissenschaft/Politische Theorien
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Fremd in ihrem Land 

Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten

von Arlie Russell Hochschild

Übersetzung: Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
Verlag: Campus
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 429 Seiten
Erscheinungsdatum: 07.09.2017
Preis: € 30,80

Kurzbeschreibung des Verlags:

In vielen westlichen Ländern sind rechte, nationalistische Bewegungen auf dem Vormarsch. Wie ist es dazu gekommen? Arlie Russell Hochschild reiste ins Herz der amerikanischen Rechten, nach Louisiana, und suchte fünf Jahre lang das Gespräch mit ihren Landsleuten. Sie traf auf frustrierte Menschen, deren "Amerikanischer Traum" geplatzt ist; Menschen, die sich abgehängt fühlen, den Staat hassen und sich der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung angeschlossen haben. Hochschild zeigt eine beunruhigende Entwicklung auf, die auch in Europa längst begonnen hat. Hochschilds Reportage ist nicht nur eine erhellende Deutung einer gespaltenen Gesellschaft, sondern auch ein bewegendes Stück Literatur.

"Jeder, der das moderne Amerika verstehen möchte, sollte dieses faszinierende Buch lesen." Robert Reich
"Ein kluges, respektvolles und fesselndes Buch." New York Times Book Review
"Eine anrührende, warmherzige und souverän geschriebene, ungemein gut lesbare teilnehmende Beobachtung. … Wer ihr Buch liest, versteht die Wähler Trumps, weil sie auf Augenhöhe mit ihnen und nicht über sie spricht." FAZ

Stimmen zum Buch

Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung - Prantls Blick, 13.05.2018
Es ist ein faszinierendes, ein erschreckendes, ein aufklärendes Buch. Die Autorin verurteilt nicht, sie will verstehen und begreifen – um reagieren zu können.

Susanne Kippenberger, Der Tagesspiegel, 01.10.2017
Als Trump gewählt wurde, packten sich viele an den Kopf: Wer sind die Leute, die diesen Verrückten an die Macht brachten? Die Soziologin Arlie Russell Hochschild hat bei ihnen im brutal armen Louisisiana gelebt, zugehört, beobachtet. Klug.

Gabi Biesinger, NDR Info, 20.09.2017
Es sind diese paradoxen Geschichten, die Widersprüche, die Hochschild aufspürt. Sie begegnet ihren Gesprächspartnern auf Augenhöhe, redet mit ihnen, nicht über sie. Sie will verstehen, nicht bewerten. Sie will begreifen und nicht belehren.

Daniel Windheuser, der Freitag, 07.09.2017
Mit ihrem Buch gelingt Arlie Hochschild ein verständnisvolles und zugleich kritisches Psychogramm einer Welt im permanenten Widerspruch, und wer es liest, wird die Wähler Trumps ein wenig besser verstehen, unter anderem auch, weil sie auf Augenhöhe mit ihnen und nicht nur über sie spricht.


Arlie Russell Hochschild ist eine der bedeutendsten Soziologinnen der Gegenwart und emeritierte Professorin an der University of California, Berkeley. »Strangers in Their Own Land« stand auf der Shortlist für den National Book Award 2016..

Posted by Wilfried Allé Thursday, January 16, 2020 12:07:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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