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Inside Fridays for Future 

Die faszinierende Geschichte der Klimabewegung in Österreich

von Benedikt Narodoslawsky
Benedikt Narodoslawsky recherchiert und schreibt seit mehreren Jahren regelmäßig zum Thema Klima. Dieses Wissen und seine Erfahrung hat es ihm ermöglicht, als einer der wenigen, direkten Kontakt zu den Initiator*innen von Fridays for Future zu knüpfen und in ihre Arbeit exklusive Einblicke zu bekommen.
Inklusive praktischer Tipps.

Verlag: Falter Verlag
EAN: 9783854396666
Reihe: Fachbücher
Umfang: 240 Seiten
Genre: Umwelt Ökologie
Erscheinungsdatum: 09.03.2020
Format Gebundene Ausgabe
Preis: € 24,90


FALTER-Rezension

Die Revolution

Vor einem Jahr wurden Fridays for Future zum politischen Faktor in Österreich. Die unglaubliche Geschichte einer Jugendbewegung.

Dezember 2018. Österreichs heißestes Jahr der Messgeschichte geht zu Ende. Die klimaschädlichen Gase sind auf ein Rekordhoch gestiegen. Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) leugnet in einem Interview den menschengemachten Klimawandel. Österreichs Umweltpartei – die Grünen – ist politisch am Boden.

Seit drei Jahrzehnten liegt das Land im klimapolitischen Koma, trotz immer besserer Technologie werden hierzulande so viele Tonnen an Treibhausgasen wie 1990 in die Luft geblasen. Dabei werden die wissenschaftlichen Vorhersagen immer dramatischer: Die Klimakrise gilt als eine der größten Bedrohungen der Erde, sie wird zur Überflutung bevölkerungsreicher Küsten führen, Dürre- und Hungerwellen auslösen, Pflanzen- und Tierarten auslöschen, hunderttausende Hitzetote fordern und Millionen Menschen zu Flüchtlingen machen. Doch Staatenlenker aus aller Welt setzen im polnischen Katowice gerade die nächste UN-Klimakonferenz in den Sand.

Es scheint in diesem Dezember 2018 alles so zu sein wie immer. Bis auf eine Kleinigkeit. Während der Klimakonferenz in Katowice tritt ein Mädchen ans Rednerpult, das schon einiges hinter sich hat: von Klassenkameraden ausgegrenzt, gemobbt und geschlagen, Depression, Essstörungen. Greta Thunberg, 15 Jahre alt, Asperger-Syndrom, hat den aktuellen Stand der Wissenschaft zur Klimakrise studiert und unerträgliche Angst vor dem Weltuntergang bekommen. Die Schwedin ist unscheinbar, aber hinter dem Mikrofon in Katowice entfaltet sie eine Urgewalt, die bald Europa erschüttern wird.

„Wir sind nicht hergekommen, um die Regierungschefs der Welt zu bitten, dass sie sich kümmern. Sie haben uns in der Vergangenheit ignoriert und werden uns wieder ignorieren“, sagt sie. „Ihnen gehen die Entschuldigungen aus, und uns geht die Zeit aus. Wir sind hergekommen, um Sie wissen zu lassen, dass der Wandel kommt, ob ihnen das gefällt oder nicht.“ Ein Mädchen liest den Mächtigen die Leviten. Das Video ihrer Rede verbreitet sich viral.

Ein Jahr später. Dezember 2019. In wenigen Tagen endet Österreichs innenpolitisch heißestes Jahr der jüngsten Geschichte. Die FPÖ liegt politisch am Boden, die Partei hat sich mit dem Ibiza-Skandal aus der Regierung gesprengt und Neuwahlen ausgelöst. Die Grünen sind aus dieser Wahl so stark wie nie zuvor hervorgegangen, sie verhandeln gerade mit der ÖVP das Klimakapitel für ein neues Koalitionsprogramm.

Eine Woche nach dem Jahreswechsel gelobt Bundespräsident Alexander Van der Bellen die türkis-grüne Bundesregierung an – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sitzen die Ökos an den Schalthebeln der Macht. Bis 2040 soll Österreich klimaneutral werden. Gelingt das, wird Österreich in Sachen Klimaschutz vom Sorgenkind zum Musterschüler in Europa.

Es scheint, als hätte eine unsichtbare Macht die Republik an den Beinen gepackt, durchgerüttelt und auf den Kopf gestellt. Was ist da passiert?

Blicken wir noch einmal zurück, in den Dezember 2018. Nicht nur Thunberg ist ins Tagungszentrum von Katowice zur UN-Klimakonferenz gekommen, auch drei österreichische Studierende sind angereist, um dort etwas gegen die Klimakrise zu unternehmen. Sie treffen dort Thunberg, die mit ihrem Schild „Skolstrejk för klimatet“ auf dem Gang sitzt. Nur wenige Tage nachdem die Schwedin ihre Rede bei der Klimakonferenz gehalten hat, gehen die drei Studierenden mit selbstgebastelten Schildern in Wien auf die Straße. Sie haben sich Thunbergs Schulstreik fürs Klima angeschlossen, obwohl sie selbst längst nicht mehr zur Schule gehen.

Die neu gegründete Bewegung Fridays for Future Vienna ist in einem Wiener Café eher spontan entstanden und besteht zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen aus einer Facebook- und einer Instagram-Seite. Die erste Fridays-Demo in Österreich am 21. Dezember 2018 auf dem Wiener Heldenplatz dauert sechs Stunden, aber zu keinem Zeitpunkt werden gleichzeitig mehr als 50 Demonstranten zu sehen sein. Das sieht nicht so aus, als ob hier gerade Geschichte geschrieben würde, sondern eher wie zwei Maturaklassen, die sich dazu entschlossen haben, heute ein bisschen Lärm zu schlagen.

Genau daraus entwickelt sich binnen weniger Wochen eine Massenbewegung, die Österreichs politische und mediale Landschaft verändern wird. Von Wien schwappt die Protestwelle in die Landeshauptstädte, zunächst nach Innsbruck, dann Linz, dann Salzburg und Graz. Bis auf eine große Veranstaltung in der Steiermark bleiben die Demonstrationen bis Anfang März 2019 allesamt nahezu unter der Wahrnehmungsschwelle. Obwohl Greta Thunberg und Fridays for Future immer berühmter werden, kommen zu den Demos in Österreich nur einige Menschen. Wenn es sehr gut läuft, über 100.


Und dann macht es bumm. 15. März 2019, der erste globale Klimastreik. Rund 1,6 Millionen Menschen demonstrieren an diesem Tag auf der Welt für mehr Klimaschutz. Allein in Wien sind es – je nach Zählung – zwischen 10.500 und 30.000. Es ist die größte Klimakundgebung, die die Repu­blik bis dahin gesehen hat.

Der 15. März 2019 ist der D-Day der jungen Bewegung, er macht sie über Nacht zum innenpolitischen Faktor. Die Klimaschützer bekommen Audienzen beim Bundespräsidenten, beim Bildungsminister und bei der Umweltministerin. Mit dem Gewicht kommen die ersten Unstimmigkeiten innerhalb der einzelnen Fridays-Ortsgruppen in Österreich. Sie beginnen, sich zu vernetzen und gemeinsam das Land zu verändern. Und sie tun das gleich mehrfach.

Da ist zum Beispiel die Wissenschaftscommunity. Jahrzehntelang sprachen die Forscher zurückhaltend und leise über die zunehmend alarmierenderen Erkenntnisse zur Klimakrise. Im Jahr der Fridays verlassen sie ihren Elfenbeinturm. Als Politiker der jungen Klimabewegung die Kompetenz in Klimafragen absprechen, reicht es den Wissenschaftlern. Sie beschließen anlässlich des ersten globalen Streiks Mitte März, gemeinsam ein starkes Zeichen zu setzen und der jungen Klimabewegung den Rücken zu stärken. Sie gründen – angelehnt an den Namen der Klimabewegung – die Scientists for Future und erklären öffentlich, dass die Jugendlichen mit ihrer Kritik an der Politik recht haben. Mehr als 26.800 Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum schließen sich Scientists for Future an.

Die Dynamik entwickelt eine derartige Wucht, dass manche von ihnen in Österreich sogar Wahlwerbung für die Grünen machen. Der Klimaforscher Gottfried Kirchengast, der als einziger Wissenschaftler im Nationalen Klimaschutzkomitee sitzt, macht hingegen genau das Gegenteil von Wahlwerbung. Er kanzelt ÖVP-Chef Sebastian Kurz öffentlich ab. Kurz sei „nicht staatsmännisch“, das Klimaschutzprogramm der ÖVP eine „ziemlich dreiste Irreführung der Bevölkerung“. Das sind völlig neue Töne aus den Universitäten. Das zivilgesellschaftliche Engagement der Wissenschaftler habe „durch Fridays for Future eine enorme Blüte erlebt“, sagt Kirchengast rückblickend, „das war eine Formung in der Community“.

Die Dynamik entwickelt eine derartige Wucht, dass manche von ihnen in Österreich sogar Wahlwerbung für die Grünen machen. Der Klimaforscher Gottfried Kirchengast, der als einziger Wissenschaftler im Nationalen Klimaschutzkomitee sitzt, macht hingegen genau das Gegenteil von Wahlwerbung. Er kanzelt ÖVP-Chef Sebastian Kurz öffentlich ab. Kurz sei „nicht staatsmännisch“, das Klimaschutzprogramm der ÖVP eine „ziemlich dreiste Irreführung der Bevölkerung“. Das sind völlig neue Töne aus den Universitäten. Das zivilgesellschaftliche Engagement der Wissenschaftler habe „durch Fridays for Future eine enorme Blüte erlebt“, sagt Kirchengast rückblickend, „das war eine Formung in der Community“.

Im Jahr 2017: 5202 Artikel.

Im Jahr 2017: 5202 Artikel.

Im Jahr 2019: 14.323 Artikel.

„Es sind irre Zugriffszahlen, die sich da entwickelt haben“, sagt Standard-Redakteurin Nora Laufer, die regelmäßig über Klimathemen berichtet, „das können wir genau nachverfolgen. Ich schreibe die gleichen Klimageschichten wie vor zwei Jahren, aber auf einmal lesen das um ein Vielfaches mehr Leute.“

International schließen sich 250 Medien zur Klimajournalismus-Initiative „Covering Climate Now“ zusammen. Auch hierzulande setzt es Schwerpunkt um Schwerpunkt. Der ORF erschafft etwa den „Klima-Tag“ und sendet zehn Stunden Programm zum Klimawandel, die Kronen Zeitung startet die Kampagne „Klimakrise“ und ändert ihre Sprache. „Die Formulierung ,Klimawandel‘ wird man in der Krone in der Regel jetzt nicht mehr finden“, sagt Krone-Chefredakteur Klaus Herrmann, „wir sehen das als Klimakrise oder Klimaschock.“ Österreichs bekannteste Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb bekommt eine eigene Krone-Kolumne – und das ist ihre Idee. „Es war uns irgendwie klar, dass wir an die Menschen herankommen müssen, an die wir sonst nie herankommen“, sagt die Klimaforscherin, „denn die kommen nicht zu unseren Vorträgen.“

Zwei Tage vor der Nationalratswahl 2019 geht die bislang größte Machtdemonstration der Klimabewegung über die Bühne. Je nach Zählung bringen die Fridays mit ihren Allianzpartnern beim Earth Strike zwischen 70.000 und 150.000 Menschen in Österreich auf die Straße. Am 28. September 2019 – also einen Tag vor der Wahl – füllen die Bilder der Massenkundgebung die Titelseiten quer durch die Zeitungslandschaft.

Die Nationalratswahl einen Tag später wird zur Klimawahl. Die Wahlbefragung zeigt: Über kein Thema haben die Menschen mehr gesprochen als über Umwelt- und Klimaschutz. „Es wäre ja nicht so gewesen, dass dieser Wahlkampf nicht ein Thema gehabt hätte: Ibiza, die Parteifinanzen, die Spesendebatte um Strache – das war durchaus ein starkes Konkurrenzthema“, sagt der Politikexperte Christoph Hofinger vom Sora-Institut, „aber Umwelt- und Klimaschutz sind im Verlauf des Sommers über die anderen Themen hinausgewachsen.“

Noch am Wahlabend des 29. September stellt ein ORF-Journalist dem grünen Spitzenkandidaten Werner Kogler folgende Frage: „War das eigentlich Ihr Sieg, oder ist das auch ein bisschen der von Greta Thunberg?“ Kogler, der drei Monate später als erster grüner Vizekanzler der Republik angelobt wird, antwortet: „Es war jedenfalls ein ,Sunday for Future‘.“

Benedikt Narodoslawsky in Falter 11/2020 vom 2020-03-13 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Friday, March 25, 2022 11:48:00 PM Categories: Biologie Fachbücher Klimawandel Ökologie
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Grenzenlos Radeln - Band 1 

Die schönsten Touren zwischen Österreich und Tschechien. Orte entdecken, Natur erleben, Geschichte erfahren

von Julia Köstenberger

Verlag: Falter Verlag
EAN: 9783854395911
Reihe: Kultur für Genießer
Umfang: 352 Seiten
Erscheinungsdatum: 22.05.2018
überarbeitete Neuauflage: 03.02.2022
Preis: € 29,90

 

Jetzt neu mit GPS-Daten zu den einzelnen Touren.

Die Lieblingsstrecke der Autorin entlang der gesamten Grenzroute ist die Strecke von Retz über Znaim nach Laa an der Thaya. Rund 70 Kilometer, die sich gut an einem Tag fahren lassen. Insgesamt wird die österreichisch-tschechische Grenze in acht grenzüberschreitende Abschnitte eingeteilt. Für jedes dieser acht Kapitel wird eine Route durch die interessantesten Orte und Landschaften vorgeschlagen. Manche Touren sind in einem Tag zu bewältigen, die meisten lassen sich ein Wochenende lang geniessen. Es geht von Aigen-Schlägl, über Weitra, Znojmo und Breclav bis Hohenau.
Anfang und Ende jeder Route sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar.

Der Radreiseführer weist den Weg zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in den Orten, beschreibt Naturschönheiten sowie historische Ereignisse und stellt für die Region charakteristische Themen in kurzen Lesetexten vor. Zudem enthält er einen kleinen Sprachführer und wichtige Informationen zur Reiseplanung.
 

FALTER-Rezension

Früher war hier das Ende der Welt

Der ehemalige Eiserne Vorhang an der österreichisch-tschechischen Grenze wird zum Radler-Hotspot. Eine Rundfahrt

Julia Köstenberger ruft: „Ahoi!“, obwohl sie auf einem Fahrrad sitzt und sich nicht auf hoher See befindet. Links Weingärten, rechts Maisfelder, in der Mitte die Historikerin mit dem Citybike auf einem ehemaligen Begleitweg des Eisernen Vorhangs. Weil sie sich auf der tschechischen Seite der Grenze befindet, grüßt sie wie Seemänner und Tschechen es tun, wenn ihr Radfahrer entgegenkommen, und winkt freundlich. Wenn ihr niemand entgegenkommt – was ihr am liebsten ist –, schließt sie für kurze Momente die Augen, spürt den Fahrtwind, der ihr Shirt und die Haare zum Flattern bringt, und so etwas wie Freiheit.

Die Grenze zwischen Österreich und Tschechien, an der sich bis 1989 der Eiserne Vorhang wand, verläuft als grünes Band durch Europa. Die rund vier Kilometer breite Sperrzone entlang des Zaunes lag so lange brach, dass sich die Natur Territorien zurückerobern konnte, die jahrhundertelang von regem Verkehr geprägt waren. Nun begegnet man dort, wo früher Soldaten patrouillierten und mit scharfer Munition geschossen wurde, immer häufiger Radfahrern, die entlang des insgesamt 466 Kilometer langen Grenzstreifens auf Tages- oder Mehrtagestouren in die Pedale treten, inmitten von Natur, wie es sie an Radrouten in ganz Österreich nur noch selten gibt, umgeben von Geschichte.

Als Julia Köstenberger das erste Mal mit dem Rad vom niederösterreichischen Retz ins tschechische Znaim fuhr, war das ein ziemliches Desaster. Der Zettel, auf dem sie vor der Abfahrt Wegbeschreibungen ausgedruckt hatte und nun hilflos nach Orientierung suchte, flatterte nutzlos im Wind. Irgendwo war sie von der geplanten Strecke abgekommen. Die Mittagshitze drückte ihr auf den Radhelm, die Trinkflasche war längst leer, und als sie dastand, irgendwo zwischen Äckern, Fluss und Auwald, und ihr der Schweiß in die Augen rann, dachte sie: „So, hier verdurste ich jetzt!“

Die 44-Jährige lacht, wenn sie von dieser Fahrt erzählt, und die ihr seither 2500 Kilometer entlang der Grenze eingebracht hat. Denn: Julia Köstenberger verdurstete nicht und die Freiheit, die sie gespürt hatte – die so greifbar war, weil jung und nicht selbstverständlich –, trieb sie wieder in den Sattel. Genauso wie die Geschichte, die der Boden hier atmet, der Meter um Meter erzählt von künstlich gezogenen Grenzen, von Weltpolitik und von Menschen, deren Leben auf den Kopf gestellt wurde, weil Machthaber in entfernten Städten eine Entscheidung getroffen hatten.

Die Grenze, die Südböhmen, Südmähren, das nördliche Mühlviertel sowie Wald-und Weinviertel in zwei Länder teilt, bedeutete bis vor 30 Jahren das Ende der Welt, wie Julia Köstenberger in ihrem Buch „Grenzenlos Radeln“ schreibt, das Ende April im Falter Verlag erscheint: Auf 350 Seiten zeichnet die Wienerin Radrouten vor, mit Ratschlägen und Wegbeschreibungen, die es Nachahmern ersparen sollen, selbst orientierungslos im Auwald an der Grenze zu stehen. Aus anfänglicher Neugier für die Region wurde rasch professionelles Interesse, das die Historikerin neben Flickzeug, Proviant und Regenjacke auch Stift und Notizblock in die Seitentaschen ihres Fahrrades packen ließ, um Tipps für ihren Rad-Ratgeber festzuhalten. So strampelte sie seit 2012 rund 2500 Kilometer zwischen Plöckensteiner See und Hohenau an der March ab, um insgesamt acht Touren festzulegen, die an Bus- und Zugbahnhöfen beginnen und enden und die zum Teil zwischen den Orten weite Schlingen ziehen und lange Umwege – dafür an Schauplätze führen, die, von den Schnell-Fahrern unentdeckt, entlang der Strecke liegen.

Wenn Köstenberger nun im Thayatal den Radweg entlangfährt und in Hardegg die Brücke quert – unter sich Holzbalken, die rhythmisch knattern –, dann kann sie nach sechs Jahren Recherche jede Menge Anekdoten erzählen. Die vom Hardegger Hauptschullehrer zum Beispiel, der sich bei einem gemeinsamen Achterl Grünem Veltliner erinnerte, wie er als junger Mann mit seinen Freunden genau diese Brücke für Mutproben nutzte: Weil die österreichisch-tschechoslowakische Staatsgrenze mitten durch den Fluss verläuft, entfernten tschechoslowakische Soldaten irgendwann auf ihrer Seite die Holzblanken vom Stahlgerüst und die Österreicher taten es ihnen bald darauf gleich. Bis am Ende nur noch die Eisenkonstruktion als Brückenskelett über der Thaya ragte. Die jungen Männer, die mutig genug waren, balancierten auf dem Gerüst Richtung Kontrollhäuschen, wo ihnen einmal auf tschechoslowakischer Seite die Wache habenden Soldaten winkten. Irgendwann seien die jungen österreichischen Männer mit den Flausen im Kopf neben den jungen tschechischen Männern mit den Abzeichen auf der Brust auf den Stahlstreben gesessen, hätten gemeinsam Bier getrunken und die Füße ins Leere baumeln lassen. Allerdings nur das eine Mal: Die mangelnde Disziplin trug den Uniformierten eine Versetzung ein.

Köstenbergers Lieblingsstrecke entlang der gesamten Grenzroute ist die, die sie auch bei ihrem ersten Versuch bewältigen wollte: Retz – Znaim – Laa. Rund 77 Kilometer, die sich gut an einem Tag fahren lassen. Zieht Köstenberger auf ihrer tschechischen Radkarte, die – wie sie sagt – die beste, weil detaillierteste ist, mit dem Finger die Strecke nach, die sie entlangfährt, markieren Dutzende feiner Haken und dünner Linien den Plan.

Die Haken stehen für Bunker, die streckenweise wie eine Kette im Abstand von 500 Metern entlang des Radweges zu finden sind: Unter aufgeschütteten Erdhügeln richtete sich das tschechoslowakische Militär Mitte der 1930er-Jahre Refugien ein, aus Angst vor Nazi-Deutschland: enge Behausungen, in denen Maschinengewehre, Gasmasken und Essbesteck für den Ernstfall bereitlagen, allerdings nie eingesetzt wurden, weil die Grenzgebiete der Tschechoslowakei 1938 im Zuge des Münchner Abkommens zum Schrecken der Bevölkerung ans Deutsche Reich abgetreten werden mussten. Einige der Bunker sind leicht zu erkennen, wie jener in Schattau, andere, gut getarnt, kaum auszumachen.

Die Linien auf den Karten kennzeichnen Stromleitungen. Andernorts maximal zur Orientierung interessant, erzählt hier auch der Blick gen Himmel eine Geschichte: Irgendwo nach Znaim, nach dem kleinen Ort Tasovice und kurz vor dem Schatzberg fährt man an jenem Strommast vorbei, auf den 1986 zwei Tschechen kletterten, um eine der spektakulärsten Fluchtaktionen aus dem kommunistischen Regime zu wagen: Kurz nach Mitternacht schlichen die beiden mit zwei selbst gebauten Gefährten, die an eine Art Sessellift erinnerten, zur Hochspannungsleitung, hängten ihren Sitz in der Blitzschutzleitung ein, die keinen Strom führt, und zogen sich so über die Grenze. Hätten sie die unten patrouillierenden Soldaten erwischt, wäre das ihr Todesurteil gewesen. Der von alten Bäumen und weiten Feldern gesäumte Radweg führt weiter nach Seefeld-Kadolz und damit vorbei an dem Gasthaus, das nach dem Bürgerkrieg 1934 für viele Österreicher Zufluchtsort war: Wer dem Wirt im Ort das Losungswort – „Hase“ – nennen konnte, wurde als Flüchtling weitergeschleust in Richtung Sow­jetunion. Für rund 3000 österreichische Schutzbündler und Kommunisten der einzige Weg ins rettende Exil.

Legt Julia Köstenberger hier im Gasthaus eine Pause ein, bestimmt, was der Wirt auf den Tisch stellt, den weiteren Verlauf ihrer Tour. Ein Achterl Wein hieße: Das Fahrrad schieben, wenn sie wenige Kilometer später wieder nach Tschechien kommt – die „Policie“ straft, wer mit über 0,0 Promille Alkohol im Blut auf dem Rad sitzt.

Julia Köstenberger trinkt Traubensaft und fährt dann den Grenzweg hinunter, der den Wachsoldaten ab 1965 – als der Eiserne Vorhang keinen Starkstrom mehr führte, sondern reiner Signalzaun war – den schnellsten Weg zur Alarm gebenden Quelle ermöglichte. „Geht man weiter in die Vergangenheit zurück, viel weiter“, scherzt sie, „würde man hier die Promenade des Urmeeres entlangradeln.“ Vor 16 Millionen Jahren hätte die Historikerin an dieser Straße Schildkröten, Riesenaustern und Haie beobachten können.

Vor 29 Jahren hingegen hätte sie ein Stück weiter, an der Ortseinfahrt zum tschechischen Höflein, Folgendes gesehen: Außenminister Alois Mock und seinen tschechoslowakischen Amtskollegen Jiří Dienstbier, wie sie versuchen, mit stumpfen Drahtscheren Bahnen aus Stacheldraht zu zerschneiden, um dabei jene gut inszenierte Bild­ikone zum Fall des Eisernen Vorhangs zu schaffen, die um die Welt ging. Zufällig lernte Köstenberger vor ein paar Jahren in einem Heimatmuseum einen der Männer kennen, die damals unter den Anwesenden waren, sonst hätte sie die Stelle nie gefunden, erzählt sie. Keine Markierung erinnert an den Ort, deswegen sei sie mit dem Zeitzeugen tief in der Ackererde vor der Ortseinfahrt gestanden, wo er ihr jenen Platz zeigte, an dem die letzten Reste Stacheldraht gestanden hatten, die die Delegation durchschneiden hatte können. Als Mock an die Grenze kam, hatten Soldaten schon einen Großteil des Eisernen Vorhanges abgebaut.

Wenn Julia Köstenberger nun bei Laa an der Thaya zum vierten Mal an diesem Tag die Grenze passiert, bemerkt sie nur an der sich unterscheidenden Farbe des Straßenbelages, dass sie von einem Land ins andere wechselt. „Zu wissen, dass Leute hier vor dreißig Jahren stundenlang an der Grenze gestanden sind und ein Visum brauchten, dass bewaffnete Grenzsoldaten Koffer durchsuchten und Autos auf der Suche nach Flüchtlingen regelrecht auseinandernahmen, ist schon ein merkwürdiges Gefühl.“

Am Hauptplatz in Laa an der Thaya bestellt die Autorin beim Wirt einen Spritzer. Sie hat noch Zeit, der letzte Zug Richtung Wien fährt erst gegen 22 Uhr. Köstenberger hängt ein massives Vorhängeschloss um ihr Fahrrad, streckt Arme und Beine durch, dann nimmt sie Platz und schaut den Neuankömmlingen zu, wie sie unter Stöhnen ihre gepolsterten Radlerhosenhintern in Sitzkissen fallen lassen. Die Historikerin blättert in ihren Notizen, nimmt einen Schluck Wein und behält jene Lektion, die auch sie in den vergangenen sechs Jahren lernen musste, still für sich: Besser als Pölster in der Hose sind einfach 2500 Kilometer im Hintern.

Verena Randolf in Falter 21/2018 vom 2018-05-25 (S. 52)

Posted by Wilfried Allé Sunday, March 13, 2022 7:47:00 PM Categories: Kultur für Genießer Radeln
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Verlockende Oasen 

Parks, Grünräume und malerische Gärten in Wien

von Viola Rosa Semper, Charlotte Schwarz

Ein Buch über ganz besonders bezaubernde Flecken Wiens: verborgene Durchhäuser, romantische Innenhöfe und stille Gassln, durch die man abseits der Touristenströme entspannt schlendern kann.  Legenden, Anekdoten und viele interessante Geschichten zu den historischen Orten ergänzen die Beschreibungen und die beeindruckenden Fotos machen Lust auf das Erkunden dieser einmaligen Kleinode und Farbtupfen im Grau der Großstadt.

EAN: 9783854396970
Verlag: Falter Verlag
Format: Gebundene Ausgabe
Umfang: 272 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.09.2021
Preis: € 29,90

Die Entdeckungsreise von Geheime Pfade und Faszinierende Wege geht weiter. Dieses Mal werden die schönsten öffentlich zugängliche Grünanlagen der Stadt vorgestellt. Diese bezaubernd, stillen Orten sind grüne Wohlfühloasen, wo man die Seele baumeln lassen, ein Buch genießen, spazieren gehen oder auch Geschichte erleben kann. Anekdoten von „Stammgästen“, Geschichten aus dem Grätzl sowie handfeste Informationen zu Architektur, Geschichte und Gestaltung ergänzen die umwerfenden Fotos und laden zum Flanieren durch die grünen Inseln Wiens.

Die Kapitel sind nach unterschiedlichen Park-/Grünraumtypen gegliedert:

  • Englische Landschaftsgärten
  • Schlossgärten
  • Schwerpunktparks und Themenräume
  • Gartenvielfalt: Schul- und Schaugärten
  • Grätzelparks, Quartierparks und städtische Parkanlagen
  • Naturbelassene Parkanlagen, Wälder und Schutzgebiete

zur Leseprobe ->

Posted by Wilfried Allé Sunday, March 6, 2022 8:19:00 PM Categories: Bezaubernde Flecken Wiens Kultur für Genießer
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Die Politik der Rackets 

Zur Praxis der herrschenden Klassen

von Kai Lindemann

ISBN: 9783896910677
Erscheinungsdatum: 01.10.2021
Umfang: 155 Seiten
Genre: Soziologie/Allgemeines, Lexika
Format: Buch
Verlag: Westfälisches Dampfboot
Preis: rd. € 16,95
Lieferbar: ab Juni 2022

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

In kritischen Kommentaren der jüngsten Zeit findet die Racket-Metapher wieder häufiger Verwendung. Ursprünglich ein Begriff der Frankfurter Schule ist er ebenso schillernd wie kontrovers. Bis heute steht er als Symbol für deren unausformulierte, politische Theorie.
Im Neoliberalismus wirkt der Racket-Begriff auf unheimliche Art plausibel. Oligarchien, extremer Reichtum, demobilisierte Klassen, Steuerflucht, Plünderung öffentlicher Güter und Haushalte, Korruptionsskandale und informelle Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft sind einige der Phänomene, die Fragen nach der gegenwärtigen Verfasstheit politischer Herrschaft hervorbringen. Zugleich kann der Racket-Begriff Defizite füllen, die sich zwischen Ansätzen der Klassenpolitik, Analysen sozialer Ungleichheit, Elitentheorien und der Korruptionsforschung ergeben.
Rackets und Neoliberalismus ist die Demokratiefeindlichkeit gemein. In seinem Buch erweitert Kai Lindemann daher den fragmentarischen Racket-Begriff der Frankfurter Schule klassentheoretisch und reformuliert ihn staatstheoretisch. Er plädiert zur Überwindung der Racket-Gesellschaft für eine radikale Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Hierfür braucht es solidarische Gemeinwesen und starke Kollektive der Klassenpolitik, die das Kapitalverhältnis humanistisch und konsequent in seine Schranken weisen.

FALTER-Rezension:

Der politische Mafia-Kapitalismus

Bande" ist ein schillerndes Wort. Es kann die sozialen Bande meinen, die wir zu anderen knüpfen, Bande des Vertrauens, der Loyalität, was im Wesentlichen positiv konnotiert ist. Oder eben auch "Bande" als Gang, als kriminellen Zusammenschluss von Betrügern, Verbrechern, Straßenschlägern. Nicht ganz unähnlich ist es mit dem englischen Begriff racket, mit dem der Tennisschläger genauso gemeint sein kann wie die verschworene Clique mit klarer Hierarchie, mit Anführern und Komplizenschaft, wie man es aus der organisierten Kriminalität kennt. Der deutsche Industriekaufmann, Politikwissenschaftler und Gewerkschaftsspitzenfunktionär Kai Lindemann hat die signifikanten Veränderungen im politisch-ökonomischen Komplex der vergangenen 30 Jahre unter Zuhilfenahme dieses Begriffs analysiert: "Die Politik der Rackets" heißt das Buch, es will eine Theorie zur "Praxis der herrschenden Klassen" liefern. Den Begriff hat er sich bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer geliehen, die in ihrer legendären "Dialektik der Aufklärung" an einigen Stellen mit diesem Vokabular operierten.

Politik hat wohl immer Elemente des "Racketeerings". Aber das verändert sich auch. In den vergangenen 30 Jahren erleben wir einen Aufstieg des Neoliberalismus und ein Wachstum der Ungleichheit, einen Machtgewinn der Superreichen, einen Machtverlust der demokratischen Institutionen, den Aufstieg des Populismus. Kapitalkräftige Player kaufen sich Politik, politische Spitzenfunktionäre schieben ihren Freunderln Geld, Aufträge oder ganze Firmen zu, die Privatisierung von Staatsaufgaben geht mit einem Raubzug einher, in den Verflechtungen von Politik und Wirtschaft geben die Geldleute den Ton an, sie werden aber auch als die Lebensstil-Role-Models angesehen, denen jeder nacheifern will. Die Politik selbst folgt dem "Revolving door"-Prinzip -man hat eine Führungsfunktion in der Bank, wechselt ins Finanzministerium, und wenn die Sache dann schiefgeht, wieder zurück in gut bezahlte Vorstandsetagen.

Wer würde hier nicht sofort an Figuren wie Donald Trump, Sebastian Kurz oder Viktor Orbán denken oder an eine Adler-Gruppe, die sich erst einen Kanzler mit Geldzuwendungen "macht" und dann dessen Helfer mit schönen Jobs auffängt, wer nicht an einen offenen Demokratiefeind wie Peter Thiel, wer nicht an Wirecard und die ganzen anderen Skandal-Unternehmer, die in Regierungszentralen ein und aus gingen, bevor sie in den Knast wanderten. Die klassischen Parteinetze werden durch die "Bande" und ihr Prinzip "Du bist Familie" ersetzt.

Oft wird gesagt: Korruption gab es immer. Das ist zweifelsohne richtig, ignoriert aber den Strukturwandel der Korruption. Die amerikanische Politikwissenschafterin Janine D. Wedel hat schon vor einigen Jahren in ihrer fantastischen Studie "Shadow Elites" gezeigt, wie die Korruption ihr Gesicht veränderte. Die Oligarchen-und Mafiosi-Ökonomie des postkommunistischen Ostens wurde zum Vorbild für den neoliberalen Kapitalismus des Westens. Das Prinzip "Weniger Staat, mehr privat" ist nur das Wortgeklingel, das diese Beutezüge und Plündereien rhetorisch aufhübschen darf.

Die Profiteure kennen sich, "bilden Netzwerke","Parallelgesellschaften","Clans und Cliquen", sie ziehen ein System von "geduldetem Steuerbetrug" auf, "ausufernder Lobbyismus" macht sich breit, analysiert Lindemann. Man liest das Buch wie eine polit-theoretische Analyse hiesiger Chat-Protokolle, obwohl die mit keinem Wort erwähnt werden.

Robert Misik in Falter 9/2022 vom 04.03.2022 (S. 22)
 

Rezension von Peter Kern:

https://www.glanzundelend.de/Red21/J-L/kai_lindemann_die_politik_der_rackets.htm


Peter Kern, geb. 1954 in Rodalben/Pfalz, Studium der Philosophie, Politik, Theologie in Frankfurt am Main, Redaktionssekretär beim Sozialistischen Büro, politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall, jetzt Leiter einer Schreibwerkstatt.

Posted by Wilfried Allé Thursday, March 3, 2022 1:56:00 PM Categories: Lexika Soziologie/Allgemeines
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Faschismus 

Eine Warnung

von Madeleine Albright

ISBN: 9783832165123
Erscheinungsdatum: 19.08.2019
Umfang: 320 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Format: Taschenbuch
Verlag: DuMont Buchverlag
Übersetzung: Bernhard Jendricke, Thomas Wollermann
Preis: € 12,40

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Weltweit kommt es zu einem Wiedererstarken antidemokratischer, repressiver und zerstörerischer Kräfte. Die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright zeigt, welche großen Ähnlichkeiten sie mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts haben. Die faschistischen Tendenzen treten wieder in Erscheinung und greifen in Europa, Teilen Asiens und den Vereinigten Staaten um sich.
Albrights Familie stammt aus Prag und floh zweimal: zuerst vor den Nationalsozialisten, später vor dem kommunistischen Regime. Auf Grundlage dieser Erlebnisse und der Erfahrungen, die sie im Laufe ihrer diplomatischen Karriere sammelte, zeichnet sie die Gründe für das Wiedererstarken des Faschismus nach. Sie identifiziert die Faktoren, die zu seinem Aufstieg beitragen, und warnt eindringlich vor den Folgen.
Doch Madeleine Albright bietet auch klare Lösungsansätze an, etwa die Veränderung der Arbeitsbedingungen und das Verständnis für die Bedürfnisse der Menschen nach Kontinuität und moralischer Beständigkeit. Sie zeigt, dass der einmalige Vorteil der Demokratie darin besteht, durch Verstand und offene Diskussion Lösungen für unsere Unzulänglichkeiten zu finden.

FALTER-Rezension:

Albright, die ehemalige US-Außenministerin, holt in ihrem Buch "Faschismus" weit aus: Nach Mussolini, Hitler und Franco geht sie der Frage nach, wie heute demokratische Systeme durch Autokraten zerstört werden. Putin traf sie persönlich: "Der Mann, der seit Stalin Russland länger als jeder andere regiert. [...] Ungeniert tischt er die größten Lügen auf." Und Orbán beschreibt sie als "dünnhäutigen Opportunisten" und "Schaumschläger". Weltweit erstarken antidemokratische Kräfte, in denen Albright Ähnlichkeiten mit dem Faschismus, der Schritt für Schritt kommt, bis es zu spät ist, erkennt. Faschismus wirkt innerhalb eines Systems, arbeitet mit Angst, sieht Medien als Volksfeinde und Migranten als Schuldige. "Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus", erklärt Albright mit den Worten Primo Levis. In den Text fließt Albrights Lebensgeschichte ein, die brillante Analyse gewinnt dadurch an Authentizität. Marie Jana Korbelová, so ihr Geburtsname, floh zweimal mit ihrer Familie vor einer Diktatur, zweimal wurde ihr Asyl gewährt: 1939 in Großbritannien, 1948 in den USA.

Margaretha Kopeinig in Falter 8/2022 vom 25.02.2022 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Monday, February 28, 2022 10:24:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Putins Netz 

Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste

von Catherine Belton

ISBN: 9783749903283
Ausgabe: 1. Auflage
Erscheinungsdatum: 07.02.2022
Umfang: 704 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Format: Hardcover
Verlag: HarperCollins
Übersetzung: Elisabeth Schmalen, Johanna Wais
Preis: € 26,80
Lieferbar: ab April 2022

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Wem gehört Russland? – Über Putin und seine KGB-Seilschaften

»Ein herausragendes Buch über Putin und seine krimi­nel­len Kumpel. Lang er­war­tet und ab­so­lut le­sens­wert.«
The Sunday Times

Als Ende der 1980er-Jahre die Sowjetunion zu­sammen­brach, ahnte nie­mand, dass ein ehe­ma­liger KGB-Agent sich über Jahr­zehnte als russi­scher Prä­si­dent be­haup­ten würde. Doch ein Allein­herr­scher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich vor allem auf ein Netz­werk frü­herer KGB-Agen­ten, dessen Ein­fluss­nahme weit über Russ­land hinaus­reicht.
Catherine Belton, ehemalige Moskau­korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, hat mit zahl­rei­chen ehe­ma­li­gen Kreml-In­si­dern ge­spro­chen. Etwas, das bis­her ein­malig sein dürfte. Es sind Männer, deren Macht Putin zu groß wurde und die nun selbst vom Kreml »gejagt« werden.
Erbarmungslos beleuchtet sie ein mafiöses Geflecht aus Kon­trolle, Kor­rup­tion und Macht­be­sessen­heit, und das ge­fällt nicht allen Pro­ta­go­nisten.
Ihr Buch liest sich in all seiner Kom­plexi­tät so span­nend wie ein Agen­ten­thriller, doch vor allem ent­hüllt es, wie das Sys­tem Putin uns alle mehr be­trifft, als uns lieb ist. Span­nend, heraus­ra­gend, film­reif.

Nominiert als bestes Buch des Jahres von The Economist, Finan­cial Times, The New States­man und The Tele­graph
 
»Catherine Belton hat Männer zum Reden gebracht, bei denen man nicht un­be­dingt er­war­ten würde, dass sie reden wollen. Mit vie­len De­tails ent­wickelt sie ein leben­di­ges Bild der wirt­schaft­lichen und po­li­ti­schen Um­brüche, die Russ­land in den ver­gan­genen 30 Jahren er­lebt hat.«
Reinhard Veser, FAZ

»Dieses fesselnde, fundiert recher­chierte Buch ist wohl das Beste, das über Putin und die Men­schen um ihn herum ge­schrie­ben wurde. Viel­leicht so­gar das beste über das heu­ti­ge Russ­land.«
Peter Frankopan

»Sensationell ist ihr Einblick in die Struk­turen des KGB. Doku­men­tiert wird, wie sich die KGB-Führung be­reits zu Sowjet­zeiten auf das nächste Kapi­tel der russi­schen Ge­schich­te vor­be­rei­tete – basie­rend auf Ge­heim­dienst-Tra­di­tionen, die noch aus der Zaren­zeit stammten.«
John Kornblum, ehemaliger Botschafter der USA

»Schritt für Schritt seziert Belton Putins Auf­stieg und den Puti­nis­mus. Ihr Buch zeigt, wie Russ­lands Prä­si­dent in jeder Phase sei­ner Karri­ere die Metho­den, Kon­takte und Netz­werke des KGB in vollem Um­fang nutzte. Ihre Dar­stel­lung wird maß­gebend sein.«
 Anne Applebaum, The Atlantic

»Furchtlos und faszinierend. Das Buch liest sich stellen­weise wie ein John le Carré-Roman. Eine bahn­bre­chende und sorg­fäl­tig re­cher­chier­te Ana­to­mie des Putin-Re­gimes. Beltons Buch wirft ein Licht auf die Ge­fahren, die vom russi­schen Geld und Russ­lands Ein­fluss auf den Westen aus­gehen.«
Daniel Beer, The Guardian

»Bücher über das moderne Russland gibt es viele. Catherine Belton über­trifft sie alle. Ihr lang er­war­te­tes Buch ist das beste und wich­tig­ste über das heu­tige Russ­land.«
Edward Lucas, The Times 
 

FALTER-Rezension:

Putins Machtbasis: Geheimdienst, Kleptokratie

Die ehemalige Moskau-Korres­pon­dentin der Finan­cial Times, Catherine Belton, re­kons­truiert den Auf­stieg Wladimir Putins

Wladimir Putin hat nicht wenige Sympa­thi­santen unter west­eu­ro­päi­schen Linken, trotz seiner Unter­stüt­zung rechts­ex­tremer Par­teien. Sie sehen in ihm eine Bar­riere ge­gen die gren­zen­lose Ex­pan­sion der Nato und der USA. Eine Ana­ly­se seines Auf­stiegs unter der Schirm­herr­schaft des KGB vom un­be­deu­ten­den Agen­ten in Dres­den über das Kabi­nett des Peters­bur­ger Reform-Bür­ger­meis­ters bis zum Nach­fol­ger Boris Jelzins wirft ein neues Licht auf ihn.

Putin hat die chaotische neo­libe­rale Trans­for­ma­tion der russi­schen Wirt­schaft ge­stoppt, die so­zi­ale Gegen­sätze und eine gesetz­lose Oli­gar­chie er­zeugt hatte. Er hat dieses Sys­tem aber nur um­ge­lei­tet, die Oli­gar­chen in sei­nen Dienst ge­zwun­gen und seine eige­nen Leute be­rei­chert. Und er unter­wan­dert die libe­ralen Demo­kra­tien des Westens.

In ihrem sorgfältig recherchierten Buch zeigt die ehe­ma­li­ge Mos­kau-Korres­pon­den­tin der Finan­cial Times, Catherine Belton, wie das alte KGB-Netz­werk durch Putin seine Macht­posi­tion zu­rück­er­obert hat. Frü­her als an­dere hatte der Geheim­dienst den Zu­sammen­bruch der Sowjet­union kom­men sehen und Mil­li­ar­den aus dem Land ge­schafft so­wie ein Netz­werk für die Zeit da­nach auf­ge­baut.

Detailliert zeichnet Belton nach, wie dieses Netz­werk die Macht zu­rück­er­obert und sei­nen Ein­fluss auf Fi­nanz-und Macht­zen­tren in Lon­don, New York und auch Wien aus­ge­baut hat. Die Vor­gangs­weise war skru­pel­los: un­lieb­same Wirt­schafts­ak­teure wur­den aus dem Weg ge­räumt, Unter­nehmen ent­eig­net und wie­der unter die großen Staats­kon­zerne ge­zwun­gen. Namen aus der Peters­bur­ger Unter­welt, derer sich der KGB schon zu Sowjet­zeiten be­dient hatte, tau­chen in den ak­tuel­len Fällen von Geld­wäsche, Kor­rup­tion und Mord­an­schlä­gen ge­gen Kri­ti­ker im Exil wie­der auf. Auch Wien bildet eine Kons­tante im kor­rum­pieren­den Ein­fluss auf west­liche Demo­kra­tien. Man denke nur an die Rolle eini­ger Ban­ken und Mittels­män­ner bei dubi­osen Geld­trans­fers bis hin zu den russi­schen Ver­sorgungs­posten für ehe­malige öster­rei­chi­sche Spitzen­poli­ti­ker diver­ser Par­teien.

Ursprünglich, schreibt Belton, habe sie nur die Über­nahme der Wirt­schaft durch Putins frü­here KGB-Kol­legen doku­men­tie­ren wollen. Ihre Recher­chen hätten aber einen noch be­un­ruhi­gen­deren Hinter­grund auf­ge­deckt: "Die Über­nahme der Wirt­schaft - und der Jus­tiz und des poli­ti­schen Sys­tems - durch die KGB-Kräfte führte zu einem Re­gime, in dem die Dollar-Mil­li­ar­den, die Putins Kum­panen zur Ver­fü­gung ste­hen, aktiv da­für ge­nützt wer­den, die Ins­ti­tu­tionen und Demo­kra­tien des Wes­tens zu unter­graben."

Die alte KGB-Taktik, liberale Gesellschaften durch Des­infor­mation, Korrup­tion von Poli­ti­kern und Unter­stüt­zung radi­ka­ler Or­ga­ni­sa­tionen zu de­stabili­sieren, er­lebe unter Putin eine Neu­auf­lage. Was perf­ekt zu sei­ner geo­po­li­ti­schen Stra­te­gie passt, die al­ten Ein­fluss­sphären mit Gewalt wieder­her­zu­stel­len. Die engli­sche Aus­gabe des Buchs er­schien 2020 und wurde als eine der am bes­ten doku­men­tier­ten Ana­ly­sen des Sys­tems Putin ge­priesen.

Ihre Stärke ist zugleich ihre Schwäche: Belton hat für ihre Re­cherche auch ehe­mals engste Ver­trau­te Putins inter­viewt. Sie haben pro­fundes In­sider­wissen und sich zu Putin-Kri­ti­kern ge­wan­delt, ten­dieren aber dazu, ihre eigene Rolle zu be­schönigen. Selbst wenn man Beltons These einer per­fekt ge­planten Zu­rück­er­obe­rung Russ­lands durch eine neue Klepto­kra­tie nicht teilt, bie­tet das Buch einen auf­schluss­rei­chen Ein­blick in die Macht­struk­turen unter Putin.

Franz Kössler in Falter 8/2022 vom 25.02.2022 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Sunday, February 27, 2022 4:11:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Die Zukunft beginnt heute 

Impulse für einen gesellschaftlichen Wandel

ISBN: 9783932130670
Erscheinungsdatum: 15.02.2022
Umfang: 320 Seiten
Genre: Sozialwissenschaften allgemein
Format: Taschenbuch
Verlag: Driediger Verlag
Nachwort von: Frank Lustig
Beiträge von: Christoph Dr. Gringmuth
Beiträge von: Elvira Driediger, Marianne Grimmenstein, Michael Prof. Dr. Meyen, Ricardo Leppe, Friederike de Bruin, Franz Prof. Dr. Ruppert, Erwin Thoma, Christopher Schümann, Mathias Forster, Vera Zingsem
Preis: € 20,60

Kurzbeschreibung des Verlags:

Wie können wir unseren Kindern eine glücklichere Kindheit und leichteres Lernen er­mög­lichen, und sicher­stel­len, dass sie zu ver­ant­wortungs­vollen und mün­digen Mit­glie­dern der Ge­sell­schaft heran­wach­sen? Wie err­eichen wir, dass unsere Öko­no­mie zum Wohle der Men­schen tätig ist – und nicht um­ge­kehrt?  Dass die Po­li­tik wie­der zu­guns­ten der Mehr­heit ent­schei­det, an­statt die Um­ver­tei­lung von un­ten nach oben vor­an­zu­trei­ben? Dass Steu­ern sinn­voll und für ge­samt­ge­sell­schaft­­liche Inter­es­sen ver­wen­det wer­den? Wie hegen wir die Macht glo­ba­ler Kon­zerne ein, so dass die Lebens­be­din­gungen aller ver­bes­sert, die Um­welt ge­schont wird und da­durch auch unsere Ge­sund­heit weni­ger Scha­den nimmt?

In diesem Buch beant­worten Ex­per­ten ver­schie­dener Fach­ge­biete genau diese Fra­gen, die uns alle bren­nend be­schäf­tigen. Und sie blei­ben nicht bei theo­re­tischen Über­le­gun­gen, son­dern machen kon­kre­te Vor­schläge, oder gehen so­gar noch wei­ter und setzen ihre Ideen in die Tat um - mit fabel­haf­tem Er­geb­nis. So wird ein Kon­zept für trans­pa­rente Me­dien vor­ge­stellt; es wer­den "Schu­len der Zu­kunft" und Ge­nos­sen­schaf­ten für Gemeinwohl ge­grün­det, Häuser aus Holz gebaut und riesige Landstriche äußerst effektiv mit Bio-Landwirtschaft bewirtschaftet. Es wird an einer neuen, ge­rech­teren Ver­fas­sung für unser Land ge­ar­bei­tet. Es wird zu mehr Men­schlich­keit auf­ge­rufen, be­gin­nend beim Ge­burts­vor­gang, der wirk­lich hu­ma­ner ge­stal­tet wer­den kann! und beim Ster­ben, das auch mit mehr Liebe und Zu­nei­gung mög­lich wäre. Ja, auch in Zeiten, wo der Wille des Volkes kaum noch ge­hört wird, darf - und muss so­gar - ge­träumt wer­den. Ohne Vi­si­o­nen und Träume ist Ver­ände­rung nicht mög­lich. Des­halb: lasst uns träu­men, und lasst uns diese Träu­me um­setzen, Schritt für Schritt. Wer, wenn nicht wir?

Posted by Wilfried Allé Sunday, February 6, 2022 10:38:00 AM Categories: Sozialwissenschaften allgemein
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Freundschaft 

Autobiografie

von Michael Häupl

ISBN: 9783710605895
Ausgabe: 1. Auflage
Erscheinungsdatum: 31.01.2022
Umfang: 208 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Biographien, Autobiographien
Format: Hardcover
Verlag: Brandstätter Verlag
Unterstützt von: Herbert Lackner
Preis: € 24,00

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was muss passieren, damit ein niederösterreichischer Lehrersohn aus christlich-sozialem Haus Bürger­meister des Roten Wien wird? Michael Häupl erzählt in diesem Buch von seinen schwie­rigen Klos­ter­schul-Jahren, von sei­ner Lebens­ent­schei­dung zwi­schen Wis­sen­schaft und Poli­tik, von seinem Auf­stieg und von schmerz­lichen Nieder­lagen. Er nimmt uns mit hin­ter die Ku­lis­sen der öster­reichi­schen Innen­poli­tik und be­schreibt, woran die roten Kanz­ler Gusen­bauer, Fay­mann und Kern ge­schei­tert sind.
Erstmals geht Häupl auch auf die turbu­lenten Aus­ei­nander­setzungen in der Wiener SPÖ vor seiner Amt­süber­gabe an Michael Ludwig ein. Und er schreibt über die schwere Er­kran­kung nach seinem Rück­zug aus der Poli­tik. Michael Häupls klare poli­ti­sche Über­zeu­gungen und pri­vate Ein­blicke machen klar, warum die Popu­lari­tät des längst­die­nen­den Bür­ger­meis­ters bis heute un­ge­brochen ist.

FALTER-Rezension:

Michael Häupl blickt zurück Wie fühlt es sich an, nach un­glaub­lichen drei Jahr­zehn­ten in der Spitzen­po­li­tik auf­zu­hören? Michael Häupl, 72, ab 1993 Wiener SPÖ-Chef und von 1994 bis 2018 Wie­ner Bür­ger­meis­ter, be­schreibt es in seiner Auto­bio­grafie so. "Schon am ers­ten Abend ließ ich mein Handy demons­tra­tiv im Wohn­zimmer lie­gen und nahm es nicht, wie seit mehr als 20 Jahren üb­lich, mit ins Schlaf­zimmer. Es war für mich ein ge­wis­ser Akt der Be­freiung."

Häupl hat schon als aktiver Politiker gesagt, was er sich denkt. Inter­views mit ihm waren nie lang­weilig. Für seine Me­moiren, die er ge­mein­sam mit dem lang­jährigen Pro­fil-Journa­listen Herbert Lackner ver­fasst hat, hat er einen flot­ten, sehr gerad­lini­gen Er­zähl­stil ge­funden. Häupl war das eigent­liche rote Macht­zentrum, ohne sein Zutun wurde kein Par­tei­vor­sitzen­der ge­kürt. Aber er spielt seine Rolle auch im Nach­hinein be­wusst runter. Tief­schür­fende Ana­lysen fin­den sich auf den knapp 200 Seiten nicht, dafür viele per­sön­liche, mit­unter auch spitze Be­obach­tungen zur öster­reichi­schen Innen­po­li­tik der letzten zwei Jahr­zehnte -und manch neuer Ein­blick und Bonmots.

Über SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner schreibt Häupl etwa, dass es schon sein mag, dass sie "ins­be­son­dere im Män­ner­volk am Land nicht rasend reüs­siert. [...] Aber dort wird wenigs­tens an­er­kannt, dass sie eine attrak­tive Frau ist. Das ist bei Wei­tem nicht das, was ich mir als Reak­tion wün­schen würde, aber immer­hin." Kein gutes Haar lässt Häupl an Peter Pilz, den er aus Stu­den­ten­tagen kennt ("Ich habe nur nicht den Streit um des Streites willen ge­sucht - ich war nie ein Peter Pilz") und Ex-ÖVP-Chef Sebas­tian Kurz ("Sozia­listen­fres­ser. Ich ver­wende dieses Wort nicht als Be­schimpfung, wie er glaubt, son­dern als Befund"). Dafür streut er seiner ehe­ma­ligen Vize­bür­ger­meis­terin Maria Vassi­lakou Rosen. Bittere Worte findet Häupl für Ex-SPÖ-Chef Chris­tian Kerns Ab­gang. "Kern sagte, er habe die Kanzler­schaft ver­loren und des­halb gehe er jetzt. Meinem Poli­tik­ver­ständnis wider­sprach das völlig. Ich ver­stand es nicht. Über­dies er­fuhren wir es alle aus den Medien."

Barbaba Tóth in Falter 5/2022 vom 04.02.2022 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 2, 2022 4:59:00 PM Categories: Autobiographien Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Biographien
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Mid-Century Vienna 

Auf den Spuren des Aufbruchs

von Tom Koch

EAN: 9783854397014
Genre: Architektur/Wohnen
Umfang: 240 Seiten
Sprachen: deutsch/englisch
Erscheinungsdatum: 09.09.2021
Verlag: Falter Verlag
Personen: Mit Fotos von Stephan Doleschal
Preis: € 29,90

 

Das Wiener Stadtbild wird zumeist mit Gründer­zeit, Jugend­stil oder den Bauten des „Roten Wiens“ asso­zi­iert. Archi­tektur und Design der 1950er bis 1960er Jahre haben zwar genauso ihre Spuren hinter­lassen, fanden aber bis­lang weit weniger Be­ach­tung.

Das Buchprojekt „Mid-Century Vienna“ soll die Wiener Re­prä­sen­tan­ten dieser Epoche des Auf­bruchs nun ins Zen­trum der Auf­merk­sam­keit rücken. Autor Tom Koch begibt sich ge­mein­sam mit dem Foto­grafen Stephan Doleschal auf die Suche nach der Hinter­lassen­schaft der 1950er und 1960er Jahre und zeigt an­hand von un­be­kannten oder wenig be­ach­teten Orten: Die Zeit der Wirt­schafts­wunder­jahre um­gibt uns auch heute noch aller­orts.

Mit Gastbeiträgen von: Susanne Reppé, Al Bird Sputnik, Peter Payer und Wojciech Czaja.

Über den Autor:
Tom Koch ist Grafikdesigner, Schrift-Enthusiast, Reisender und »Lover Of All Things Vintage«. Der Autor des Buches »Ghost­letters Vienna« und Ini­tia­tor der Sign Week Vienna publi­ziert auf type­travel­diary.com typo­gra­fische Fund­stücke aus aller Welt.

VIDEO: Tom Koch präsentiert neues Buch zum Mid-Century (Quelle: W24)
 

FALTER-Rezension

DAS WIEDERENTDECKTE WIEN

Die Architektur dieser Stadt ist nicht nur Dom und Oper. Der Grafiker Tom Koch zeigt im Buch "Mid-Century Vienna" die schön­sten Bauten der 50er und 60er. Ein Ge­spräch über die Stadt und das Leben nach dem Krieg

Noch eine Bestellung, wieder eine, und noch eine. Die Tele­fone im Falter Ver­lag läuten seit zwei Wochen ohne lange Pau­sen. Selten stieß ein neuer Bild­band auf sol­ches In­ter­esse.

Für unbedarfte Menschen endet die große Wiener Archi­tektur irgend­wann nach dem Burg­theater und dem Stephans­dom bei den Ge­mein­de­bauten der Zwi­schen­kriegs­zeit. Dass Insti­tu­tionen wie das Gar­ten­bau­kino, das Gänse­häufel, das Café Prückel, die Zwer­gerl-Hoch­schau­bahn oder der Wasser­speicher am Stein­feld mit ihren klaren For­men und ihrer ge­die­genen Fröh­lichk­eit eine eigene Ära der Wiener Stadt­ent­wicklung er­geben, fand bis­her ge­ringe Be­ach­tung.

Nun haben der Grafiker Tom Koch und der Foto­graf Stephan Dole­schal Texte und vor allem 500 Fotos der schöns­ten (er­hal­tenen) Wiener Räume und Häuser aus den 1950er-und 1960er-Jahren ge­sammelt und mit dem Buch "Mid-Cen­tury Vienna" einen Nerv ge­trof­fen. Archi­tekten und De­signer jener Zeit er­leben ge­rade ein Re­vi­val, Mid-Cen­tury-Vintage­möbel gehen weg wie warme Sem­meln. Oder eben wie dieses Buch.

Wir haben den Grafiker Tom Koch gefragt, was ihn die Arbeit daran über das Leben in Wien zu jener Zeit gelehrt hat.

Falter: Vintagegeschäfte sind voll von Mid-Century-Möbeln, auf Insta­gram gibt es jeden Tag tau­sende Pos­tings zum Be­griff, Wiener Bauten wie das Gänse­häufel oder das Gar­ten­bau­kino sind welt­weit ge­schätzt. Wo­zu braucht es jetzt noch dieses Buch?

Tom Koch: Ich bin selbst er­staunt, dass ich nicht schon früher auf die Idee ge­kom­men bin. Mein Leben spielt quasi in den 60er-Jahren, ich war in meiner Jugend Mod, fahre bis heute zu 60er-Kon­zer­ten in ganz Eu­ropa. Aber für Archi­tek­tur in Wien ste­hen Stephans­dom, Burg­theater und Zwi­schen­kriegs­ge­meinde­bauten, es gab kein eigenes Buch über den Wiener Mid-Cen­tury-Stil. Wir nehmen diese Epoche nicht als sol­che wahr, dabei war Wien da­mals eine ein­zige Bau­stelle, die Stadt hat sich neu er­fun­den: der Ver­suchs­atom­re­ak­tor der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät im Pra­ter, der Was­ser­be­hälter in Neu­siedl am Stein­feld, das Kino Film­ca­si­no oder ein­fach das Matz­leins­dor­fer Hoch­haus. Mid-Cen­tury kann Beton sein, aber auch Neon­röhren, hart oder zärt­lich. Wenige sehen da schnell Zu­sammen­hänge, selbst als Fan der Zeit habe ich viele Bauten erst bei der Arbeit am Buch ent­deckt.

Was haben Sie dabei über das Leben in jener Zeit gelernt?

Koch: Am besten zeigen es alte Fotos vom Schot­ten­tor: Die neue Öffi­station ist total mondän, oval aus­ge­schnit­ten und mit Roll­trep­pen, aber die Men­schen, die aus dem 38er aus­stei­gen, tra­gen dann doch Knie­bund­hosen, Kopf­tü­cher und be­herr­schen die Roll­trep­pen über­haupt nicht. Wien war eigent­lich bieder, und Kon­tro­ver­sen waren ver­pönt. In den 1950er-Jahren hat ein Bild­hauer eine hüft­hohe Zie­gen­skulp­tur in einen Ge­mein­de­bau ge­stellt, aber die Leute sind aus­ge­flippt, weil sie nicht lieb­lich und na­tura­lis­tisch ge­nug war. Es kam zu einer Mieter­ver­sammlung, "die Ziege muss weg". Nach dem Krieg waren die Wiener vor allem mit sich be­schäf­tigt, mich hat erstaunt, wie ver­ges­sen die Nazi­ver­brechen da­mals schon waren. Die Men­schen haben diese Zeit zu­ge­schüt­tet und nicht da­gegen ge­kämpft, dass die Nazi­kader wie­der in ihre Ämter kamen, in Uni­ver­si­täten, Ge­richten.

Oder in Architekturbüros.

Koch: Der Umgang mit emigrierten Archi­tekten ist eine ein­zige Schande. Victor Grün­baum ist 1938 vor den Nazis ge­flüch­tet und in den USA als Victor Gruen zum Star ge­wor­den, er hat dort das Ein­kaufs­zen­trum er­funden. Nach dem Krieg ist er zu­rück­ge­kommen und hat die Kärntner Straße auto­frei wer­den lassen, aber die Wiener Archi­tekten­kammer hat ihm keinen Orden, son­dern eine Klage ge­schickt, wegen seines feh­lenden Ab­schlus­ses. Er musste 10.000 Schil­ling Stra­fe zah­len und sich Archi­tect mit c nennen.

Im Wiederaufbau schlägt die Stunde der Archi­tekten. Doch ihr Gestaltungs­spiel­raum war klein, sie mussten schnell, billig und material­schonend bauen. Wie gut er­halten ist die Archi­tektur von damals noch?

Koch: Schweden hat der Gemeinde Wien im Jahr 1947 zwei Vibro­block­stein-Maschi­nen­sätze ge­schenkt. Mit diesen Ge­räten haben Wiener Arbei­ter auf dem Schweden­platz den Schutt der zer­bomb­ten Innen­stadt zu Bau­material ver­dichtet. Aus diesen Ziegeln ist der erste Ab­schnitt der Favo­rit­ner Wohn­anlage Per-Albin-Hansson-Sied­lung ge­baut, und die steht noch ziem­lich gut.

Die Gemeinde, die Gewerkschaft Bau Holz, die Handels-und Arbeiter­kammer haben da­mals ein Pro­duk­tions­pro­gramm für leist­bare Möbel er­funden. Heute sind diese so­ge­nannten SW-Regale, Bänke und Küchen ge­fragte Vintage­stücke. Was zeichnet diese Möbel aus?

Koch: Sie sollten günstig, benützbar, modern und platz­sparend sein. In den neuen, kleinen Gemeinde­bau­wohnungen hatte das Vor­kriegs­mobi­liar keinen Platz. Die Möbel be­kamen dünne Füße, damit Frauen da­runter gut Staub wischen konnten, heute gelten diese Formen als Leichtig­keit. Auch be­rühmte Archi­tekten wie Roland Rainer haben SW-Möbel ent­worfen, sie waren in Serien ge­fasst, und Käufer konnten in Raten zahlen. Aber so schön und halt­bar sind sie auch wieder nicht, die Leute vom Ge­braucht­möbel­ge­schäft Vintagerie haben mir er­zählt, dass sie des­halb nur selten SW-Möbel ankaufen.

Die 50er waren die Zeit einer neuen Freizeit­kultur, es gab Kinos und Fern­seher, Jugend­liche hatten Mopeds und Jeans. Wo haben Sie den Rock 'n'Roll in der Stadt ge­funden?

Koch: Die Jugendlichen haben nach dem Krieg plötzlich Frei­räume vor­ge­funden. Die Väter sind zu­rück­ge­kom­men, hatten ihre Auto­ri­tät ver­loren und viel­leicht psychi­sche Pro­bleme an­ge­setzt. Es kam zu Jugend­krimi­nali­tät und Gangs in der Vor­stadt, man nannte sie Platten. Der Staat und die Ge­sell­schaft waren damals streng zu den Jungen, der Schau­spieler und Wirt Hanno Pöschl ist noch in den 60er-Jahren als 14-Jähriger von wild­fremden Männern an­ge­rempelt worden, weil er längere Haare hatte. Es herrschte über­all Un­ver­mögen und Un­wille, mit Anders­artigem um­zu­gehen.

Welche Räume gab es für Andersartige?

Koch: Intellektuelle und Künstler konnten sich in drei oder vier Lokalen dem Kommerz ent­ziehen, also nicht ent­schei­dend anders als in meiner Jugend in den 80ern. Ein Hot­spot war die Anna­gasse im ersten Bezirk, meine Mutter war Bar­keeperin in der dorti­gen Tenne. Als die Unter­welt­ler Schutz­geld vom Ge­schäfts­führer Graf Windisch-Graetz ein­trei­ben kamen, hat sie sich immer auf dem Klo ver­steckt. Klaus Kinski wollte ein­mal ent­ge­gen den Haus­regeln ohne Kra­watte hinein, hat die 1000-Schilling-Packen aus der Jacke ge­zogen und ge­schrien: "Ich kaufe dieses Scheiß­lokal." Meine Mutter war wieder auf dem Klo.

Wien wollte damals Weltstadt sein. Stilelemente wie Nieren­tische wurden frech von den Ver­einigten Staaten kopiert.

Koch: Unter dem Votivpark war damals eine Park­garage, wo die Hos­tes­sen auf Roll­schuhen die Autos ein­wiesen, wo man Theater­karten kaufen und in einem Restau­rant essen konnte. Peter Ale­xan­der ist dort ein und aus ge­gangen, aber das Konzept war natür­lich von den USA inspi­riert und die Garage na­tür­lich von einer Bank be­trieben. Italien war der andere Sehn­suchts­ort, da­mals haben in Wien hun­derte Es­pres­so-Lo­kale er­öffnet, 1951 gab es den ers­ten Vespa-Club in der Stadt. Um die Jugend­lichen vom Ameri­ka­nis­mus weg­zu­brin­gen, wollten Öster­reich und Wien eine Bade­kul­tur eta­blieren. Bäder wie das Gänse­häufel stam­men aus dieser Zeit, das Frei­zeit­an­gebot sollte etwas Vor­kriegs­nor­ma­li­tät schaf­fen.

Trotz aller Bieder-und Sparsamkeit jener Zeit zeigt sich auf vielen Seiten Ihres Buchs eine Spiel­freude in den Ent­würfen.

Koch: Das liegt auch an einem anderen Projekt der Stadt Wien: Kunst am Bau. Obwohl die Gemeinde kein Geld hatte, hat sie ein Prozent der gesamten Bausumme für Kunst bei und an den Häusern ausgegeben: Plastiken, Mosaike, viele Tiere, Pflanzen und Kinder, aber immerhin. Hunderte junge Bildhauer bekamen damals Aufträge, so etwas gibt es heute nicht mehr. Der Effekt war auch ein identitätsstiftender: Ich wohne auf der Stiege mit den Geranien, ich bin eine Margerite. Andererseits: Als wir in einem Bau in der Boschstraße die mannshohen Mosaike fotografierten, sagte uns ein Bewohner glaubhaft, dass er die noch nie wahrgenommen habe.

Was war die spektakulärste Entdeckung, von der Sie jedem erzählt haben?

Koch: Als Erstes fällt mir die Sendeanlage auf dem Bisamberg ein, die bis 2008 Radioprogramm ausgestrahlt hat. Dann stehst du in dieser Halle vor den originalen Instrumenten mit Blick auf das heutige Wien, und dir bleibt die Luft weg. Das Beste ist: Ein Mitarbeiter der Österreichischen Rundfunksender GmbH wohnt dort oben als Instandhalter, er hat sicher die schönste Terrasse der Stadt.

Wie haben Sie all diese Gebäude gefunden?

Koch: Im Internet, in Archiven und zu Fuß. Ich weiß jetzt, warum Flächenbezirke so heißen, an einem Wintertag habe ich 16 Kilometer lang Favoritner Seitengassen durchwandert, auf der Suche nach Häusern, die noch niemandem aufgefallen sind. Und dann habe ich mit dem Wien Museum Interessierte gebeten, mir Vorschläge zu schicken. Damals hatte ich schon eine Excel-Tabelle voller Adressen, aber auch irrsinnige Angst, dass noch jemand ein solches Buch plant. Der Trick hat funktioniert: Nachdem zwei Zeitungen über diesen Aufruf im November 2020 berichtet hatten, war das Thema besetzt.

Heute gelten einige der Gebäude als Juwele, wie hat die Kritik damals die Architektur angenommen?

Koch: Sie haben alles in Grund und Boden vernichtet, die Architektur galt in so gut wie allen Zeitungsartikeln als einfallslos oder als überladen. Ich selbst verweigere die Bewertung, ich bin weder Historiker noch Architekturkritiker, das Buch soll den Leser die Stadt neu entdecken und diese Periode erkennen lassen. Der Fotograf Stephan Doleschal hat die Orte ohne Menschen und Autos fotografiert, um ein Gefühl wie zur Zeit der Eröffnung zu erzeugen. Daran kann sich jeder erfreuen oder die Häuser weiter ignorieren.

Was könnten die heutigen Stadtentwickler und Architekten vom Mid-Century Vienna lernen?

Koch: Einmal war ich bei einer Pressekonferenz in der Seestadt Aspern, wo etwas Ähnliches passiert ist wie in den 1960er-Jahren: Die Stadt wächst an die Peripherie und schafft autarke Wohndörfer mit eigener Infrastruktur. Auf alten Fotos sehen diese Siedlungen trostlos und staubig aus, weil die Vegetation so niedrig war. Aber in Teilen der Seestadt unternehmen wir nicht einmal den Versuch, Vegetation zu schaffen. Und diese Balkone, von denen einander Bewohner von Block A auf Block B Kaffee reichen können, mögen stadtplanerisch modern sein, ich empfinde sie aber als Rückschritt. Ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass sich in der Seestadt 70 Jahre Architekturentwicklung zeigen.

Mid-century modern meint die Architektur und Möbelgestaltung von Mitte der 1940er-bis Mitte der 1960er-Jahre. Funktionalität stand über Schnörkeln, das Design folgte klaren Linien. In Österreich zählt der Begriff seit gut zehn Jahren zum allgemeinen Sprachgebrauch, Vintagestücke aus jener Zeit sind gefragt.

Tom Koch ist seit 2011 selbstständiger Grafiker, unter anderem für das Wien Museum. Sein Interesse gilt der Schriftsetzung: Er veranstaltet Typo-Rundgänge durch Wien, hat 2016 im Buch "Ghostletters" Spuren demontierter Schriftzüge dokumentiert und 2017 das Typografie-Festival Sign Week Vienna veranstaltet. Mit dem Fotografen Stephan Doleschal hat er nun das Buch "Mid-Century Vienna" veröffentlicht.

Lukas Matzinger in Falter 40/2021 vom 2021-10-08 (S. 40)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 2, 2022 3:02:00 PM Categories: Architektur/Wohnen
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Ein Engel in der Hölle von Auschwitz 

Das Leben der Krankenschwester Maria Stromberger

von Harald Walser

ISBN: 9783854397021
Genre: Biografien/historisch&politisch, Nationalsozialismus
Umfang: 256 Seiten
Format: Gebundene Ausgabe
Erscheinungsdatum: 31.08.2021
Verlag: Falter Verlag
Preis: € 24,90

 

Klappentext

„Meinen Reichtum an Liebe habe ich in Auschwitz verstreut“, schrieb die österreichische Krankenschwester Maria Stromberger im Juli 1946 resignierend an den ehemaligen Auschwitz-Häftling Edward Pyś nach Polen. Sie befand sich in einem Internierungslager für ehemalige Nationalsozialisten − wie sie schreibt „mitten unter Nazis, SS, Gestapo“. Das traf sie doppelt, hatte die erbitterte Gegnerin des NS-Staates doch in Auschwitz aktiv Widerstand geleistet, viele Häftlinge gerettet, Kurierdienste erledigt, Waffen und Sprengstoff geschmuggelt. Nachdem sie zwei ehemalige Auschwitzhäftlinge, die im Fieberwahn über Auschwitz berichteten, gepflegt hatte, ließ sie sich am 1942 freiwillig ins KZ Auschwitz versetzen, mit der Begründung: Ich will sehen, wie es wirklich ist, vielleicht kann ich auch etwas Gutes tun.

Die in der Geschichte des österreichischen Widerstands wohl einzigartige Frau war zu Lebzeiten zwar in Polen hoch angesehen, wurde in ihrer Heimat aber kaum gewürdigt. Dank vieler neuer Quellen legt der Autor hier eine umfassende Biografie Maria Strombergers vor.

Rezensionist Markus Barnay

Späte Würdigung einer mutigen Frau

„Ich bin mitten unter Nazis, SS, Gestapo!“, schrieb Maria Stromberger ihrem Vertrauten, dem ehemaligen KZ-Häftling Edward Pyś. Das war im Juli 1946, mehr als ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur. Die „Nazis, SS und Gestapo“ befanden sich damals mitten in Vorarlberg, nämlich im Anhaltelager Brederis, in dem führende Köpfe der heimischen Nationalsozialisten vorübergehend interniert wurden. Was Maria Stromberger besonders erregte, war die Art, wie sich die Täter an diesem Ort selbst zum Opfer stilisierten: „(Ich) muss ihre Redensarten täglich anhören, über die ‚Ungerechtigkeit’, höre Klagen, was die Menschen jetzt mit ihnen tun.“ Diese Klagen standen aus Strombergers Sicht in einem himmelschreienden Widerspruch zu dem, was die Nazis in den Jahren zuvor verbrochen – oder zumindest mitverursacht und geduldet hatten: „Dann stehen vor meinem geistigen Auge die Erlebnisse von Auschwitz!! Ich sehe den Feuerschein der Scheiterhaufen! Ich verspüre den Geruch verbrannten Fleisches in der Nase, ich sehe die Elendszüge der einrückenden Kommandos mit den Toten hinterher, (...) und ich könnte diesen hier ins Gesicht schreien und blind auf sie losgehen.“

Hochriskanter Widerstand mitten im KZ

Dass Maria Stromberger gemeinsam mit Nazis eingesperrt wurde, war natürlich ein Irrtum: Nach ihr wurde im April 1946 in Zeitungsanzeigen gefahndet, weil sie in Verdacht geraten war, als Krankenschwester im Konzentrationslager Auschwitz an Tötungen von Häftlingen beteiligt gewesen zu sein. In Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall: Maria Stromberger rettete Häftlingen das Leben – einigen, die als Hilfskräfte in ihrer unmittelbaren Umgebung arbeiteten, ganz direkt und unter großem Risiko, vielen anderen durch ihre Aktivitäten im Widerstand. Denn Schwester Maria stand in direkter Verbindung mit der Widerstandsorganisation in- und außerhalb des Lagers, schmuggelte nicht nur Informationen über die dortigen Zustände hinaus, sondern auch Waffen und Sprengstoff hinein, um geplante Ausbruchsversuche zu ermöglichen – und um, vor allem gegen Ende des Krieges, zu verhindern, dass die SS alle Menschen ermordete, die als mögliche Zeugen ihrer Grausamkeiten später darüber berichten könnten.

Maria Strombergers Wirken in Auschwitz wurde in Vorarlberg, wo sie vor und nach dem Krieg lebte, kaum gewürdigt: Als sie in Brederis festgehalten wurde, bedurfte es einiger Interventionen aus Polen (unter anderem vom späteren Ministerpräsidenten Jozef Cyrankiewicz, selbst ehemaliger Auschwitz-Häftling), ehe sie wieder freigelassen wurde. Fast 30 Jahre nach ihrem Tod (sie starb 1957 in Bregenz) wurde ihre Geschichte hierzulande zum ersten Mal erwähnt – in Meinrad Pichlers Beitrag über „Humanitäre Hilfe“ als eine Form des Widerstands gegen die NS-Herrschaft im wegweisenden Buch über Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg: „Von Herren und Menschen“. Basis für Pichlers Ausführungen waren die Erinnerungen des KZ-Überlebenden Hermann Langbein, der schon 1972 in seinem Standardwerk „Menschen in Auschwitz“ die Zustände im größten Vernichtungslager der Nazi-Diktatur beschrieben hatte.

„Engel in der Hölle von Auschwitz“

Die Geschichte der Maria Stromberger beschäftigte Harald Walser von da an immer wieder. Der Historiker, damalige Lehrer und spätere Direktor des Bundesgymnasiums Feldkirch, der sich – nach zehn Jahren als Nationalratsabgeordneter der Grünen – mittlerweile im Ruhestand befindet, veröffentlichte 1988 die ersten „Biografischen Notizen“ über Stromberger in der Zeitschrift „Montfort“. Seither hat Walser fortlaufend weitere Informationen über Stromberger gesammelt, hat Zeitzeug*innen interviewt, die Entstehung einer TV-Dokumentation begleitet, in Auschwitz, Prag, Frankfurt, Kärnten und Wien geforscht – und all das jetzt zu einer umfangreichen Biografie jener Frau zusammengefasst, die KZ-Überlebende als „Engel in der Hölle von Auschwitz“ bezeichneten. 
Es ist nicht die erste Biografie über die katholische Krankenschwester Maria Stromberger, die hierzulande erscheint: Schon 2007 veröffentlichte Andreas Eder eine Broschüre, in der wichtige Fakten über ihren Lebenslauf und ihr Wirken in Auschwitz enthalten waren. Als Unterrichtsmaterial half diese Biografie seither, Strombergers Bedeutung für den Widerstand gegen das NS-Regime zu erläutern, vor allem den Besuchern des Bregenzer „Gedenkwegs“, der auch über den „Maria-Stromberger-Weg“ im Dorf führt: Er verbindet, zwischen Landeskrankenhaus und Krankenpflegeschule, die Kolumbanstraße mit der Schloßberggasse.


Von der Kindergarten-Helferin zur Krankenschwester im KZ

Was Harald Walser jetzt auf über 250 Seiten präsentiert, geht allerdings weit über die bisherigen Publikationen über Stromberger hinaus: Er hat unter anderem die Lebensgeschichten der Eltern und aller acht Geschwister der in Kärnten geborenen und aufgewachsenen Maria Stromberger recherchiert – und einige davon auch gegenüber bisherigen Veröffentlichungen korrigiert. Er hat aber auch sämtliche beruflichen Stationen der späteren Krankenschwester erforscht: Sie begann als Kindergarten-Helferin, arbeitete in Hotellerie und Gastronomie, lebte fast zwei Jahrzehnte lang in Graz, ehe sie in der Mehrerau in Bregenz ihre Ausbildung zur Krankenschwester begann. In das KZ Auschwitz ließ sie sich freiwillig versetzen, weil sie sehen wollte, „wie es wirklich ist“, schrieb ihre Schwester später in einem Brief an Hermann Langbein, was der in seinem Buch so kommentierte: „Andere stellten sich blind und taub, wenn sie etwas erfuhren, Maria Stromberger suchte die Wahrheit“.

Was Harald Walsers Stromberger-Biografie auszeichnet, ist die umfangreiche Dokumentation der Widerstandstätigkeit von Maria Stromberger: Während andere Historiker sich mit unbelegten Behauptungen und Hang zum Etikettenschwindel durchschummeln wollen (siehe die Rezension zur Biografie von Georg Schelling in der KULTUR 2/2020), hat Walser neue Quellen erschlossen, etwa den privaten Nachlass von Maria Stromberger, Berichte von Zeitzeugen im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz, die Aussagen der ehemaligen Häftlinge beim Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, und nicht zuletzt die persönlichen Gespräche und den Briefverkehr mit KZ-Überlebenden wie dem eingangs erwähnten Eduard „Edek“ Pyś, Artur  Radvanský und Hermann Langbein. Sie sind mittlerweile alle verstorben, umso wertvoller sind die persönlichen Aufzeichnungen und Erinnerungen von Harald Walser. Er stellt auch einige Objekte aus dem Nachlass von Maria Stromberger für die neue Ausstellung im Österreich-Pavillon in der Gedenkstätte Auschwitz zur Verfügung, die im Oktober nach langem Hin und Her endlich eröffnet werden soll.

Posted by Wilfried Allé Sunday, January 23, 2022 8:14:00 PM Categories: Biografien/historisch Biografien/politisch Nationalsozialismus
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