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Die chauvinistische Bedrohung 

Russlands Kriege und Europas Antworten | Putins Autokratie, Nationalismus und Sexismus zerstören die Ukraine und bedrohen liberale Demokratie und Freiheit weltweit

von Sabine Fischer

ISBN: 9783430210959
Verlag: Econ
Umfang: 288 Seiten
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Erscheinungsdatum: 28.09.2023
Preis: € 25,70
Kurzbeschreibung des Verlags

Russlands aggressiver Ver­nich­tungs­krieg ge­gen die Ukra­ine lässt sich nicht be­grei­fen und stop­pen, ohne den russi­schen Chau­vi­nis­mus zu ver­stehen. Der speist sich aus natio­na­lis­tischen und miso­gynen Ideen und dient dem auto­kra­ti­schen Putin-Regime zur Selbst­legi­ti­ma­tion. Die chau­vi­nis­tische Poli­tik Russ­lands greift nicht nur die Ukra­ine an. Sie be­droht auch sig­ni­fi­kante Tei­le der russi­schen Ge­sell­schaft und will die auf Re­geln und Wer­ten ba­sie­ren­de euro­pä­ische Sicher­heits­ordn­ung zer­stö­ren. An ihre Stelle soll das Recht des Stär­ke­ren, Ag­gres­siv-Impe­rial­en treten.

Der russische Chauvinismus betrachtet alles, was mit Libe­ra­lis­mus zu tun hat, als feind­lich – und auch in Euro­pa brei­tet sich diese Hal­tung aus. Sabine Fischer, Ost­eu­ro­pa-Ex­per­tin bei der re­nom­mierten Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik, lie­fert uns einen ganz neuen Blick auf die Macht- und Ex­pan­sions­poli­tik Russ­lands. Sie er­klärt, wie ag­gres­si­ver Natio­na­lis­mus, miso­gyner Chau­vi­nis­mus und Auto­kra­tie in Russ­land zu­sam­men­hän­gen, und wie Eu­ro­pa und die west­liche Welt sich auf­stel­len müs­sen, um dem russi­schen Chau­vi­nis­mus zu trotzen.

FALTER-Rezension

Putin ist, wie einen Schläger in der Familie zu haben

Tessa Szyszkowitz in FALTER 1-2/2024 vom 12.01.2024 (S. 20)

Nicolas Chauvin wäre wohl kein Fan dieses Buches. Der Le­gende nach war der mut­maß­liche Namens­geber des Chau­vi­nis­mus nicht nur ein "hyper­patrio­tischer Bauern­soldat", er war auch laut Sabine Fischer "ein pri­mi­ti­ver Macho". Die deut­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin hat selbst Jahre in Russ­land ge­lebt und ist heute als Senior Fellow der For­schungs­grup­pe Ost­eu­ropa und Eu­ra­sien der Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik in Berlin tä­tig. An­ge­sichts der Gewalt­ex­plo­sion, die Putins In­va­sion in der Ukra­ine aus­ge­löst hat, hat sie über jene Bau­steine ge­forscht, aus denen sich das rus­sische Sys­tem zu­sam­men­setzt: "Natio­na­lis­mus, Sexis­mus und Auto­kratie."
Schon knapp nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union waren im neuen Russ­land natio­na­lis­tische Par­teien er­folg­reich - im Falle der KP mit Sow­jet­nos­tal­gie ge­mischt, die LDPR unter Waldimir Schiri­now­ski und Leonid Sluzki zeigte bei­spiel­haft, wie sich "Natio­na­lis­mus, Sexis­mus und auto­ri­tä­res Ge­dan­keng­ut" ver­schmel­zen lassen.

Machismo im Kreml Es gab zwar nach der bolsche­wis­ti­schen Revo­lu­tion 1917 und auch nach dem Ende der Sow­jet­union je­weils kurze Pha­sen, in denen eman­zi­pa­tor­ische Poli­tik femi­nis­tischen Frauen kurz Hoff­nung auf Gleich­be­rech­ti­gung gab. Doch sie währ­ten nur kurz. Seit der Wahl von Wladi­mir Putin zum Prä­si­den­ten im Jahr 2000 ist der Machismo im Kreml ein­ge­zo­gen. Nicht nur dort. Er mach­te sich auch in Regie­rungs­kabi­net­ten, den Vor­stän­den von Fir­men und in den Wohn­zim­mern breit. Hetze gegen Mi­gran­ten und ge­gen Ame­rika sind seit 2014 eben­falls fes­ter Be­stand­teil des Polit­mixes. Seit der Anne­xion der Krim und dem Be­ginn des Krie­ges in der Ost­ukra­ine wird die Ukra­ine außer­dem ver­stärkt als Hure dif­fa­miert und vom russi­schen Prä­si­den­ten Wladimir Putin zum Ver­ge­wal­ti­gungs­opfer sti­li­siert.

Was dem Chauvinismus aber erst so richtig zum Durchbruch ver­holfen hat, sind Pu­tins Kriege. Tschet­sche­nien, Geor­gien, Syrien, Ukra­ine. Die Feld­züge bru­ta­li­sie­ren die Sol­da­ten, die oft nicht mehr aus dem Trau­ma der Ge­walt auf dem Schlacht­feld heraus­tre­ten kön­nen. In die­sem per­ma­nen­ten Gewalt­ex­zess ha­ben sich das Pri­vate und das Poli­ti­sche längst ver­mischt. Die weni­gen Frauen, die es unter Putin in die erste Rei­he schaff­ten, tra­gen seine Poli­tik mit: Walen­tina Ma­twi­jenko, die Vor­sit­zende des Föde­rations­rates, oder Elwira Nabi­ul­lina, Chefin der Zentral­bank. Die russ­ische Frau­en­recht­lerin Alyona Popova sagt: "Un­sere Staats­macht ver­hält sich wie ein Schlä­ger in seiner Familie."

Feminismus in der EU Die EU dagegen setze dem puti­nis­ti­schen Chau­vi­nis­mus zu wenig ent­ge­gen. Sie sei durch den Er­folg der haus­ei­ge­nen Rechts­popu­li­sten ge­schwächt, ana­ly­siert Fischer. Marine Le Pen, Gior­gia Meloni oder Alice Weidel ge­ben der neu­en Rech­ten ein "pseudo­eman­zi­pier­tes Ant­litz". Doch da­hin­ter steht die alte Fratze des ultranationalistischen Chauvinismus. In den Worten von Björn Höcke, dem rechtsextremen Spitzenkandidaten der AfD in Thüringen: "Wir müssen unsere Männ­lich­keit wie­der ent­decken! Nur wenn wir mann­haft wer­den, wer­den wir wehr­haft."

Gegen Ende schenkt Fischer der Leserschaft einen kleinen Lichtblick: Anna­lena Baer­bock habe Deutschland zumindest eine feministische Außenpolitik verpasst. Und das bedeute nicht etwa Pazifismus. Sondern die geschundene Ukraine mit Waffen zu ihrer Verteid­igung ge­gen Russ­land aus­zu­stat­ten.

Die Autorin Sabine Fischer spricht am 25. Jänner im Kreisky Forum über ihr Buch unter dem Titel: Machismo und Macht

Weitere Rezensionen

»Viele reden über Russland – Sabine Fischer kennt es von innen, bes­ser als kaum je­mand sonst in Deutsch­land. In luzi­der Ana­ly­se ent­hüllt sie den chau­vi­nis­tischen Charak­ter sei­ner ag­gres­si­ven Poli­tik und sei­nes Präsi­den­ten. Wer Wla­di­mir Putins zer­stö­reri­schen und selbst­zer­stö­re­ri­schen Krieg ver­ste­hen will, muss die­ses Buch lesen.« - Rüdiger von Fritsch

Russlands Aggression gegen die Ukraine ist kein Krieg in Euro­pa, son­dern gegen Europa. Wer daran Zwei­fel hat, lese Sabine Fischers starkes Buch über die Ursprünge und Folgen von Putins chauvinistischer und revisionistischer Politik.« - Ivan Krastev

»Eine präzise, wunderbar geschriebene Analyse, die dank Fischers femi­nis­ti­scher Per­spek­tive end­lich um­fas­send er­klärt, wa­rum der rus­si­sche An­griffs­krieg auf die Ukra­ine keine Über­raschung war und was wir für die Zu­kunft ler­nen kön­nen. Ein Buch über Russ­land, das wirk­lich heraussticht.« - Alice Bota

»Mit diesem Buch, das Analyse und persönliche Erinnerungen mit­ei­nan­der ver­bin­det, ver­mit­telt Russ­land­ex­per­tin Sabine Fischer einen tie­fen Ein­blick in das ge­gen­wär­tige poli­ti­sche Sys­tem Russ­lands und in die rus­si­sche Ge­sell­schaft. Kon­zep­tio­nell in­no­va­tiv und zu­gleich in­tui­tiv führt sie an­hand des Be­griffs ‚Chau­vi­nis­mus‘ durch die Trias aus Natio­na­lis­mus, Sexis­mus und Auto­kra­tie, die Russ­lands Posi­tio­nie­rung ge­gen­über west­li­chen Lebens­mo­del­len und den Weg in den Krieg ge­gen die Ukra­ine nach­zeich­net und ei­nen Blick in denk­bare Zu­künfte Russ­lands er­öffnet.« - Gwendolyn Sasse  

Leseprobe ->

Posted by Wilfried Allé Tuesday, January 23, 2024 9:45:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Posttraumatische Souveränität 

Ein Essay

von Jarosław Kuisz, Karolina Wigura

ISBN: 9783518127834
Reihe: edition suhrkamp
Verlag: Suhrkamp
Umfang: 184 Seiten
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Übersetzung: Stephan Gebauer
Erscheinungsdatum: 29.10.2023
Preis: € 18,50
Kurzbeschreibung des Verlags

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die alte mit­tel­­euro­­pä­­ische Angst zu­­rück: Opfer der Groß­­mäch­te zu wer­­den. An­­ders als in Deutsch­­land, von des­­sen Bo­den zwei Welt­­krie­­ge aus­­ge­­gan­­gen sind, gab es in War­­schau, Tal­­linn und an­ders­­wo kein Zö­­gern. Nur wer selbst an­ge­­grif­­fen und, wie Po­­en, so­­gar ein­­mal ganz von der Land­­kar­­te ge­­tilgt wur­de, ver­­steht, dass mili­­tä­­ri­­sche Selbst­­ver­­tei­di­­gung ge­­recht­­fer­­tigt ist. In ihrem lu­zi­­den Es­­say be­­schrei­­ben Karo­­lina Wi­­gura, Ideen­­his­­to­­ri­­kerin, und Jaros­­ław Kuisz, Poli­­tik­­wis­­sen­­schaft­­ler, wie der heu­­ti­ge Krieg his­­to­­ri­­sche Trau­­ma­­ta re­ak­­ti­­viert; wa­­rum War­­schau eine Füh­­rungs­­rol­­le in der eu­ro­­pä­­ischen Ver­­tei­di­­gungs­­poli­­tik über­­nimmt, ob­­wohl die Re­gie­­rungs­­par­­tei PiS die EU als Be­­dro­­hung der ei­­ge­nen Sou­­ve­räni­­tät be­­schwört.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.11.2023

Rezensent Jens Uthoff schätzt Jarosław Kuisz' und Karo­lina Wi­guras Umg­ang mit dem Be­griff des Trau­mas in ihrem Es­say­band über die Be­zie­hung zwi­schen West- und Os­tmit­tel­eu­ropa. Denn dass vie­le ost­mit­tel­euro­pä­ische Staaten eine gan­ze Rei­he an his­to­ri­schen Trau­mata durch­lebt ha­ben - der Kri­ti­ker nennt hier ab­seits der Ukra­ine et­wa die Tei­lung Po­lens 1795 und den Molo­tow-Ribb­en­trop-Pakt 1939 als Bei­spie­le -, ste­he außer Fra­ge. Auch ließen sich an­hand des Be­griffs vie­le Miss­ver­ständ­nis­se bzw. Fehl­ein­schät­zun­gen West­euro­pas ge­gen­über Ost­mit­tel­eu­ro­pa auf­zei­gen, lobt Ut­hoff, wie zum Bei­spiel ein man­geln­des Ver­ständ­nis der Kriegs­angst die­ser Staa­ten, oder, im Fal­le des Krie­ges in der Ukra­ine, ein Fest­hal­ten an Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit Russ­land. Gleich­zei­tig aber, und das hält Uthoff für wich­tig, zei­gen Kuisz und Wi­gu­ra auch ein großes Be­wusst­sein für die Ge­fah­ren des Be­griffs, der zu "Bel­ie­big­keit" oder "Opfer­kon­kur­renz" fü­hren kön­ne. Mit die­ser Klam­mer ver­se­hen wir­ken die Texte auf den Kri­ti­ker re­flek­tiert und "er­hel­lend".

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 23, 2023 11:36:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Hyperpolitik 

Extreme Politisierung ohne politische Folgen

von Anton Jäger

ISBN: 9783518127971
Reihe: edition suhrkamp
Verlag: Suhrkamp
Umfang: 136 Seiten
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Übersetzung: Daniela Janser, Thomas Zimmermann, Heinrich Geiselberger
Erscheinungsdatum: 09.10.2023
Preis: € 16,50
Kurzbeschreibung des Verlags

Die Ära der Postpolitik ist vorbei

Dass die Politik wieder da ist, dass De­bat­ten um Co­ro­na oder »Woke­ness« längst über Twit­ter hinaus­ge­schwappt sind, wird be­stä­ti­gen, wer im Pri­va­ten hef­ti­ge Strei­te er­lebt. Nach ei­ner Ära der Post­poli­tik, in der techno­kra­tisch ver­wal­tet wurde, wäh­rend die Bür­ger dies höchs­tens vom Sofa aus kom­men­tier­ten, ste­hen wir vor ei­nem all­ge­gen­wär­ti­gen Zit­tern und Beben.

Anton Jäger hat dafür den Begriff »Hyper­poli­tik« ge­prägt. Zu­gleich stellt er fest, dass Auf­re­gungs­wel­len sich sel­ten in kol­lek­ti­ves Han­deln über­set­zen: Die Poli­ti­sie­rung hat kaum poli­ti­sche Fol­gen. Dies, so Jäger in sei­nem Durch­gang durch 150 Jahre Demo­kra­tie­ge­schichte, ist die Fol­ge ei­ner von digi­ta­ler Ein­sam­keit ge­präg­ten Situa­tion, in der die Men­schen nicht län­ger über Mas­sen­or­ga­ni­sa­tio­nen am poli­ti­schen Pro­zess be­tei­ligt sind.

Falter-Rezensionen

Empörung ohne Folgen

Robert Misik in FALTER 51-52/2023 vom 22.12.2023 (S. 27)

Erst gab es die "Massenpolitik", also die Domi­nanz von mit­glieder­star­ken Par­teien, dann die "Anti-Poli­tik" (die Abw­en­dung von die­sen Par­teien), spä­ter die "Post-Poli­tik" (also die ideo­lo­gi­sche Leere) und nun die "Hyper­poli­tik". In die­ser Phase stecken wir fest, so der 29-jäh­rige bel­gi­sche His­to­ri­ker Anton Jäger. Wäh­rend man frü­her eine Ent­poli­ti­sie­rung kon­sta­tier­te, ist heu­te das Ge­gent­eil der Fall: Dem Ge­drän­ge in der Mit­te folg­te die Pola­ri­sie­rung. Wel­che Sport­ar­ten man an­sieht, ist heu­te schon poli­tisch, oder wel­che Mei­nung man zu ei­ner Krank­heit hat. Zu­gleich sind die Men­schen "ein­samer, auf­ge­reg­ter, wüten­der, aber auch ver­wirr­ter". Es gibt Poli­ti­sie­rung, aber es folgt nichts da­raus. "Menschen echauf­fie­ren sich heu­te über ein The­ma und mor­gen über ein ganz an­de­res." Aus die­ser Fal­le, so der schwung­vol­le, klei­ne Es­say, führt nur echte Poli­tik. Etwa in Basis­or­ga­ni­sa­tio­nen von Par­teien, in de­nen man mit an­de­ren durch lang­fris­ti­ges Enga­ge­ment für Wan­del sorgt und sich Men­schen als ge­mein­same Ak­teure erf­ahren. Jägers Modell: die Sozia­lis­ten des Roten Wien.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, December 20, 2023 9:52:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Triggerpunkte 

Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft | Warum Gendersternchen und Lastenfahrräder so viele Menschen triggern

von Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser

Reihe: edition suhrkamp
ISBN: 9783518029848
Verlag: Suhrkamp
Umfang: 540 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 09.10.2023
Sammlung: Sachbücher zum Verschenken, Unsere Bestseller
Preis:
€ 25,70
Kurzbeschreibung des Verlags

»Soziale Konflikte sind nie einfach nur da, sie werden auch gesellschaftlich hergestellt: entfacht, angeheizt, getriggert.«

Von einer »Spaltung der Gesell­schaft« ist im­mer häu­fi­ger die Rede. Auch in der All­tags­wahr­neh­mung vie­ler Men­schen ste­hen sich zu­neh­mend un­ver­söhn­liche La­ger ge­gen­über. So plau­si­bel sie klin­gen mö­gen, wer­fen ent­spre­chende Dia­gno­sen doch Fra­gen auf: Wie weit lie­gen die Mei­nun­gen in der Be­völ­ke­rung wirk­lich aus­ei­nan­der? Und ist die Ge­sell­schaft heute wirk­lich zer­strit­te­ner als zur Zeit der Stu­den­ten­pro­tes­te oder in den frü­hen Neun­zi­gern?

Nicht zuletzt weil man eine Spal­tung auch her­bei­re­den kann, tut mehr Klar­heit not. Stef­fen Mau, Tho­mas Lux und Linus West­heuser kar­tie­ren auf­wen­dig die Ein­stel­lun­gen in vier Are­nen der Un­gleich­heit: Ar­mut und Reich­tum; Mi­gra­tion; Di­ver­si­tät und Gen­der; Klima­schutz. Bei vie­len großen Fra­gen, so der über­ra­schen­de Be­fund, herrscht eini­ger­maßen Kon­sens. Wer­den je­doch be­stimmte Trig­ger­punkte be­rührt, ver­schärft sich schlag­artig die De­bat­te: Gleich­stel­lung ja, aber bit­te kei­ne »Gen­der­spra­che«! Um­welt­schutz ja, aber wer trägt die Kos­ten? Eine 360-Grad-Ver­mes­sung der Kon­flik­te um alte und neue Un­gleich­hei­ten, die ei­ne un­ver­zicht­bare Dis­kus­sions­grund­lage bie­tet und vie­le My­then ent­zau­bert.

FALTER-Rezension

Vom Dromedar zum Kamel

Sieglide Rosenberger in FALTER 45/2023 vom 10.11.2023 (S. 23)

Angefeuert von Diskurs­im­por­ten aus den USA ha­ben vie­le Men­schen auch hier das Ge­fühl, dass die Posi­tio­nie­rung zu zen­tra­len Pro­ble­men so­zial ge­spal­ten, ja welt­an­schau­lich po­la­ri­siert sei. Das Buch "Trig­ger­punkte" von Stef­fen Mau u.a. stellt das Master­nar­ra­tiv der po­lari­sier­ten Ge­sell­schaft in­frage. Kon­zep­tio­nell clus­tern die Au­to­ren be­son­ders akute Kon­flikt­fel­der in vier Un­gleich­heits­are­nen: so­zio-öko­no­mi­sches Oben-Unten, ter­ri­tori­ales In­nen-Außen, iden­ti­täts­po­li­ti­sches Wir-Sie und um­welt­poli­ti­sches Heute-Mor­gen. Die Längs­schnitt­diag­nose kommt über die­se Dif­fe­ren­zie­rungen zum Re­sümee, dass die Ent­wick­lung von inte­grier­ten ein­höck­ri­gen Dro­me­dar-Ge­sell­schaf­ten (nor­mal­ver­teilte Mei­nun­gen in der Mit­te) in ge­spal­tene zwei­höck­ri­ge Kamel­ge­sell­schaf­ten (La­ger) für Deusch­land nicht zu­tref­fe, zu­min­dest nicht so un­ein­ge­schränkt wie Wahr­neh­mung und wis­sen­schaft­liche De­bat­ten es sug­ge­rie­ren wür­den. Viel­mehr gäbe es sta­bi­le Mei­nun­gen auf die Frage "Wem steht was zu?". Und, be­sond­ers wich­tig, die unter­schied­li­chen Mei­nun­gen wer­den noch lose, si­tua­tiv ge­äußert, sind also noch nicht in poli­ti­schen Or­gani­sa­tio­nen ver­festigt.
In der Identifizierung von Trigger­punkten liegt die Stär­ke des Bu­ches. Als sol­che gel­ten Er­eig­nis­se, bei de­nen ge­sell­schaft­li­cher Kon­sens in Dis­sens um­schlägt. Um die­se Dy­na­mi­ken zu er­ken­nen, gibt das Buch ein nütz­li­ches ana­ly­ti­sches Ins­tru­men­ta­rium an die Hand. Die em­pi­ri­sche Dia­gno­se ver­mag an­ge­sichts der ak­tuel­len Kon­flikte und Krie­ge etwas zu be­ru­higen. Auch in Öster­reich.

Gleichzeitig lässt das Buch erahnen, dass der Über­gang vom Dro­me­dar zum Ka­mel im Gan­ge ist: Denn die am rech­ten Rand ver­or­te­ten Par­teien mit ihren laut­star­ken Mei­nun­gen zu Krie­gen, zu Klima­wan­del, Gen­dern, Coro­na-Maß­nah­men etc. rücken zu­neh­mend in die Mit­te vor. Die­se Par­tei­en ver­bin­den Schwarz-Weiß-Mei­nun­gen, ver­knüp­fen Freund-Feind-Posi­tio­nen und ge­ben ei­nem po­la­ri­sier­ten Grund­kon­sens eine mäch­tige poli­ti­sche Or­ga­ni­sationsform.

Posted by Wilfried Allé Friday, December 1, 2023 8:01:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Kapitalismus ohne Demokratie 

Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen

von Quinn Slobodian

ISBN: 9783518431467
Verlag: Suhrkamp
Umfang: 427 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 20.11.2023
Format: Hardcover
Übersetzung: Stephan Gebauer
Preis: € 32,90
Kurzbeschreibung des Verlags

Freiheit und Demo­kratie, so der In­ves­tor Peter Thiel 2009, seien nicht län­ger kom­pa­ti­bel. Wer die Frei­heit liebe, müs­se da­her ver­su­chen, der Poli­tik in all ihren For­men zu ent­kom­men. Zu­flucht su­chen könn­ten Liber­tä­re im Cyber­space, im Welt­raum und auf dem of­fe­nen Meer. Das mag ver­bla­sen klin­gen, steht aber in ei­ner jahr­zehnte­al­ten Tra­di­tion markt­radi­ka­ler Ideen: Den­ker wie Mil­ton Fried­man be­geis­ter­ten sich für das noch un­ter bri­ti­scher Ober­ho­heit ste­hende Hong­kong; Mar­ga­ret That­cher träumte von ei­nem Singa­pur an der Themse.

In seinem Buch Globalisten hatte sich Quinn Slobo­dian mit Ver­su­chen be­fasst, öko­no­mi­sche Fra­gen der demo­kra­ti­schen Wil­lens­bil­dung zu ent­zie­hen, etwa durch ihre Über­tra­gung an inter­natio­nale Or­ga­ni­sa­tionen. In Ka­pi­ta­lis­mus ohne Demo­kra­tie geht es nun um ei­ne an­de­re Lö­sung für das von Thiel be­klag­te Prob­lem: die Zer­schla­gung der Welt in Steuer­oasen, Privat­städte oder Mikro­natio­nen.

Quinn Slobodian nimmt uns mit auf eine fas­zi­nie­rende Reise durch die Welt der neo­libe­ra­len Uto­pien. Sie führt nach Dubai und Liech­ten­stein, ins vom Bür­ger­krieg zer­rüt­te­te So­ma­lia und zu Elon Musks texa­ni­schem Welt­raum­bahn­hof. Und sie wei­tet den Blick auf eine mög­li­che Zu­kunft, die uns Sor­gen machen sollte.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, November 22, 2023 10:53:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung 

von Philipp Blom
Der Bestsellerautor und renommierte Historiker über die Haltung, die wir brauchen, um die Probleme von morgen zu bewältigen

Reihe: Auf dem Punkt
ISBN: 9783710607370
Verlag: Brandstätter Verlag
Umfang: 224 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 18.09.2023
Format: Hardcover
Herausgegeben von: Hannes Androsch
Preis: € 22,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags

Dieses Buch ist der Aufruf zu einer neuen Klar­heit des Den­kens. Denn die Pro­ble­me von mor­gen kön­nen wir nicht mit der Denk­weise und Philo­so­phie von ges­tern be­kämp­fen. Wenn die wich­tigs­ten poli­ti­schen und philo­so­phi­schen Er­rungen­schaf­ten der Auf­klä­rung – Demo­kra­tie, Men­schen­rechte, evi­denz­ba­sier­tes Den­ken – über­leben sol­len, müs­sen wir eine Le­bens­wei­se und ein Ver­ständ­nis der Welt ent­wickeln, die dem mensch­li­chen Wohl­er­gehen ver­pflich­tet sind und von pla­ne­ta­ri­scher Ge­rech­tig­keit ge­tra­gen werden.

In existenziellen Krisen der Mensch­heit ist das Ethos der Auf­klä­rung not­wen­di­ger denn je. In sei­nem kämp­fe­ri­schen Es­say zeigt Phi­lipp Blom: Es sind mit theo­lo­gi­schem Schutt be­haf­te­te Ideen, die von der ge­mäßig­ten Haupt­strö­mung der Auf­klä­rung trans­por­tiert wur­den und un­ser Den­ken und Han­deln bis heute prä­gen. Jetzt ist es Zeit für die wahre, radi­kale Auf­klä­rung!

Philipp Blom
Autor/in

Philipp Blom, geboren 1970 in Hamburg, stu­dier­te Phi­lo­so­phie, Ge­schichte und Juda­istik in Wien und Oxford. Er lebt als Schrift­stel­ler und His­to­riker in Wien. Zu den be­kanntes­ten Bü­chern des viel­fach aus­ge­zeich­ne­ten Best­sel­ler-Au­tors zäh­len Der tau­melnde Kon­ti­nent, Die zer­ris­se­nen Jahre, Die Welt aus den An­geln, Was auf dem Spiel steht so­wie zu­letzt Die Unter­werfung. Ne­ben sei­nen his­to­ri­schen und lite­ra­ri­schen Wer­ken ist Phi­lipp Blom jour­na­lis­tisch tä­tig, mode­riert die Sen­dung Punkt Eins auf dem öster­rei­chi­schen Kul­tur­sen­der Ö1, macht Filme wie die mehr­fach preis­ge­krönte Doku­men­tar­serie Der tau­melnde Kon­ti­nent und kura­tiert Aus­stel­lungen in Eu­ropa und den USA.

Hannes Androsch
Herausgeber/in

Dr. Hannes Androsch war Finanz­mi­nis­ter und Vize­kanz­ler in der Ära Kreisky, Gene­ral­di­rek­tor der CA und ist heute als In­dus­tri­el­ler tä­tig. Gemäß sei­nem Selbst­ver­ständ­nis als Cito­yen ist er viel­fältig enga­giert. Er ist ein ge­frag­ter Kom­men­ta­tor zum Zeit­ge­schehen so­wie Heraus­geber und Autor zahl­rei­cher Publi­ka­tionen.

Posted by Wilfried Allé Monday, October 30, 2023 2:31:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Schauplätze der Macht 

Geheimnisse, Menschen, Machenschaften

von Manfred Matzka

ISBN: 9783710607363
Verlag: Brandstätter Verlag
Umfang: 240 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft,
Wirtschaft/Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 16.10.2023
Einband: Hardcover E-Book
Preis: € 28,00 € 21,99
Kurzbeschreibung des Verlags

Wenn Wände sprechen könnten, wüssten wir, was sich in der eins­tigen Döb­linger Präsi­den­ten­villa, im Palais Traut­son, im Kriegs­minis­te­rium am Stu­ben­ring, in der Her­ren­gas­se, im Winter­palais des Prin­zen Eugen, am Ball­haus­platz, in ver­bor­ge­nen Win­keln des Parla­ments, in tradi­tions­rei­chen Par­tei­zen­tra­len und staat­li­chen Schlös­sern rund um Wien al­les ab­spielte. Denn wo Macht und Men­schen zu­sam­men­kom­men, sind ku­ri­o­se Per­sön­lich­kei­ten eben­so nah wie große Skan­dale, ab­sur­de In­tri­gen, revo­lutio­närer Elan und schick­sal­hafte Be­geg­nungen.

Mit Manfred Matzka, der Österreichs poli­ti­schen Be­trieb von in­nen kennt wie wenig an­dere, blicken wir nun durch Schlüs­sel­lö­cher und durch ver­hängte Fens­ter hin­ter die Archi­tek­tur der Macht – und be­geg­nen je­nen oft ganz spe­ziel­len Charak­teren, die von hier aus mal bes­ser, mal schlech­ter ge­wal­tet und ge­schal­tet ha­ben. In die­sem Buch kom­men Ge­schich­ten an das Licht der Öf­fent­lich­keit, die es in der Re­gel nicht tun: fun­diert recher­chierte, span­nen­de und er­hel­lende Ein­blicke hin­ter die Fas­sa­den der Macht in Öster­reich, Zu­sam­men­hän­ge und Ana­ly­sen, wie man sie bis­lang kaum kannte.

Manfred Matzka

Autor

Manfred Matzka, langjähriger Präsi­dial­chef des Bundes­kanz­ler­amtes, Mini­ster- und Kanzler­be­rater, zu­letzt auch von Bundes­kanz­lerin Bier­lein, ist ein fun­dier­ter Ken­ner des wirk­li­chen poli­ti­schen Tages­ge­schäfts in Öster­reich. Der pro­mo­vier­te Jurist ar­bei­tete seit 1980 im Bun­des­dienst, war für Perso­nal, Recht, Ver­wal­tungs­re­form und Ko­ordi­nie­rung zu­stän­dig, am­tier­te zehn Jahre im In­nen­minis­te­rium, war Ka­bi­netts­chef, wurde von der Po­li­tik als In­sider ak­zep­tiert und res­pek­tiert und hält mit sei­ner stets eben­so gut be­grün­de­ten wie poin­tier­ten Mei­nung nicht hin­ter dem Berg. Er ist Kunst­lieb­ha­ber und Kul­tur­ma­na­ger, hat zahl­rei­che Fach­publi­ka­tio­nen ver­fasst und ist Autor der Best­sel­ler „Die Staats­kanzlei“ sowie „Hof­räte, Ein­flüs­terer, Spin­dok­toren“.

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 11, 2023 8:20:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Die ungleiche Welt 

Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht

von Branko Milanović

ISBN: 9783518470855
Verlag: Suhrkamp
Umfang: 311 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 14.09.2020
Einband: Taschenbuch
Übersetzung: Stephan Gebauer
Preis: € 16,50
Kurzbeschreibung des Verlags

Extreme soziale Ungleich­heit ist eines der drän­gend­sten Pro­ble­me der Gegen­wart. An­hand neuer, haus­halts­ba­sier­ter Da­ten zu Ein­kom­men und Ver­mö­gen unter­sucht Branko Mila­no­vić ihre Ur­sa­chen und Fol­gen dif­fe­ren­zier­ter als al­le an­de­ren For­scher vor ihm. Er zeigt, dass zwar der Ab­stand zwi­schen ar­men und rei­chen Staa­ten ge­rin­ger ge­wor­den ist, das Ge­fäl­le in­ner­halb ein­zel­ner Na­tio­nen je­doch dra­ma­tisch zu­ge­nom­men hat. Zu­dem ana­ly­siert er den Zu­sam­men­hang zwi­schen Un­gleich­heit und Mi­gra­tion und plä­diert für ein li­be­ra­les Ein­wan­de­rungs­recht. Ein ak­tuel­les, ein enga­gier­tes Buch, das die Art und Wei­se, wie wir über un­sere un­glei­che Welt den­ken, verändert.

Klappentext

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. 1.760.000.000.000 US-Dollar. In Worten: eins­komma­sieben­sechs Bil­li­o­nen. Auf diese Sum­me schätz­te Ox­fam kürz­lich das Ver­mö­gen der 62 wohl­ha­bend­sten Men­schen der Welt. Ein paar Dut­zend Mil­liar­däre ver­fü­gen über so viel Geld wie die är­mere Häl­fte der Welt­be­völ­ke­rung - oder wie 3.600.000.000 Men­schen. Von Barack Obama bis zu Thomas Piket­ty, die füh­ren­den Köpfe un­se­rer Zeit sind sich ei­nig: Un­gleich­heit ist ei­nes der drän­gends­ten Pro­bleme der Ge­gen­wart. An­hand neuer, haus­halts­ba­sier­ter Da­ten zu Ein­kom­men und Ver­mö­gen unter­sucht Branko Mila­no­vic die Ur­sa­chen und Fol­gen. Er zeigt, dass zwar der Ab­stand zwi­schen ar­men und rei­chen Staaten ge­rin­ger ge­wor­den ist, das Ge­fäl­le in­ner­halb ein­zel­ner Na­tion­en je­doch dra­ma­tisch zu­ge­nom­men hat. Ar­mut und Per­spek­tiv­lo­sig­keit sind trei­ben­de Kräf­te für in­ter­na­tio­nale Mi­gra­tions­be­we­gun­gen. Noch im­mer ist das Ge­burts­land ei­nes Kin­des der ent­schei­den­de Fak­tor für die Höhe sei­nes zu­künf­ti­gen Ein­kom­mens. Mila­no­vic ana­ly­siert den Zu­sam­men­hang zwi­schen Un­gleich­heit und Mi­gra­tion - und plä­diert für ein radi­kal libe­ra­les Ein­wan­de­rungs­recht. Ein ak­tuel­les, ein en­ga­gier­tes Buch, das die Art und Wei­se, wie wir über un­sere un­glei­che Welt den­ken, ver­än­dern wird.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung

Rezensent Bernhard Edmunds freut sich über ein neues Buch des ser­bisch-ameri­ka­ni­schen Öko­no­men Branko Mila­no­vic, den er in einem Atem­zug mit Thomas Piket­ty oder Anthony B. At­kins nennt. Des­sen Über­blick über die Ent­wick­lung der glo­ba­len Ver­tei­lung seit Ende der 1980er Jahre liest der Kri­ti­ker mit Ge­winn. Zwar ver­misst er in Mila­no­vics Ana­ly­se, wa­rum die Un­gleich­heit seit rund dreißig Jah­ren in den In­dus­trie­län­dern wie­der an­steigt, Ori­gi­na­li­tät und theo­re­ti­sches Fun­da­ment, die Schlüs­se des Öko­no­men fin­det Ed­munds je­doch "an­re­gend": Um ei­nen dro­hen­den Ver­lust der Mit­tel­schich­ten zu ver­hin­dern, schlägt Mila­no­vic et­wa eine brei­te Streu­ung des Kapi­tal­be­sit­zes vor, so der Re­zen­sent. Mit der Idee, die Le­bens­be­din­gun­gen in är­me­ren Län­dern da­durch zu ver­bes­sern, dass man die öko­no­mi­sche Mi­gra­tion er­heb­lich er­leich­tert, die Mi­gran­ten in Folge aber etwa durch einen be­schränk­ten Zu­gang zu So­zial­leis­tun­gen oder zu­sätz­liche Steu­ern "recht­lich dis­krimi­niert", kann der Kri­ti­ker al­ler­dings nur we­nig an­fangen.

Branko Milanovic

Branko Milanović, geboren 1953 in Bel­grad, ist ein ser­bisch-ameri­ka­ni­scher Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler und zählt zu den welt­weit an­ge­se­hens­ten Ex­per­ten auf dem Ge­biet der Ein­kom­mens­ver­tei­lung. Er war unter an­de­rem lei­ten­der Öko­nom der For­schungs­ab­tei­lung der Welt­bank. Mila­no­vić hat­te Gast­pro­fes­suren an der Uni­ver­sity of Mary­land, Col­lege Park, an der Johns Hop­kins Uni­versity und ar­bei­tet seit 2014 als Visi­ting Presi­den­tial Pro­fes­sor am City Uni­ver­sity of New York Gra­duate Center.

Posted by Wilfried Allé Saturday, September 23, 2023 10:54:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Das Ende des Kapitalismus 

Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden

von Ulrike Herrmann

ISBN: 9783462002553
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Umfang: 352 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 08.09.2022
Format: Hardcover
Preis: € 24,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags

Demokratie und Wohlstand, ein längeres Leben, mehr Gleich­be­rech­ti­gung und Bil­dung: Der Kapi­ta­li­smus hat viel Posi­ti­ves be­wirkt. Zu­gleich rui­niert er je­doch Klima und Um­welt, sodass die Mensch­heit nun exis­ten­ziell ge­fähr­det ist.
»Grünes Wachstum« soll die Rettung sein, aber Wirt­schafts­ex­per­tin und Best­seller­au­torin Ulrike Herr­mann hält da­ge­gen: Ver­ständ­lich und mes­ser­scharf er­klärt sie in ihrem neuen Buch, wa­rum wir statt­dessen
»grünes Schrumpfen« brauchen.

FALTER-Rezension

Gerlinde Pölsler in FALTER 47/2022 vom 25.11.2022 (S. 51)

Sie regt an - und auf: Ulrike Herrmanns neues Buch "Das Ende des Kapi­ta­lis­mus" stürmte bei sei­nem Er­schei­nen so­fort auf Platz eins der Best­sel­ler­lis­ten, schon mit frü­he­ren Ti­teln wie "Hurra, wir dür­fen zah­len" über den "Selbst­be­trug der Mit­tel­schicht" lös­te die Ber­li­ner taz-Re­dak­teu­rin hef­tige Debat­ten aus. Auch dies­mal er­zür­nen ihre The­sen viele Men­schen: So ge­nügte ein nicht ein­mal ein­mi­nü­ti­ges Video auf der Face­book-Seite des deut­schen Sen­ders NDR, dass die­ser seine Kom­men­tar­funk­tion ein­schrän­ken musste. Der Aus­löser? Herr­mann hat­te ge­sagt: "Das Elek­tro­auto ist die to­ta­le Sack­gasse."
Nicht dass die Wirtschafts­re­dak­teu­rin ge­gen er­neuer­bare Ener­gie wäre. Sie ist nur über­zeugt, dass diese für un­se­ren der­zei­ti­gen Lebens­stan­dard nicht aus­rei­chen werde, und schon gar nicht für einen wei­ter wach­sen­den. Daher müss­ten wir un­sere Wirt­schaft kon­trol­liert schrump­fen, und das be­deu­te das Ende des Kapi­ta­lis­mus. Herr­mann selbst lebt in einer Zwei­zim­mer­woh­nung, hat kein Auto und "kann nicht mehr flie­gen". Diese Woche kommt die dis­putier­freu­dige Au­torin nach Wien.

Falter: Frau Herrmann, wie schlimm ist der Aus­gang der Welt­klima­kon­fe­renz, die nicht ein­mal den Aus­stieg aus Öl und Gas be­schlos­sen hat?

Ulrike Herrmann: Dieses Scheitern war zu er­warten. Es ist nicht mög­lich, Öl und Gas ein­fach mal schnell zu er­set­zen. Denn dann würde die ge­samte Welt­wirt­schaft so­fort still­ste­hen, weil die Ma­schi­nen nicht mehr lau­fen, Schif­fe nicht mehr fah­ren und Flug­zeu­ge nicht mehr flie­gen. Fridays for Future hat recht mit ihrem Slo­gan "System Change, Not Climate Change". Man muss sich vom Kapi­ta­lis­mus ver­ab­schie­den, wenn der Klima­schutz ge­lingen soll.

Immerhin haben es die ärmeren Länder erst­mals schrift­lich, dass ein Fonds zum Aus­gleich von Klima­schä­den in ihren Län­dern kom­men soll

Herrmann: Natürlich ist es richtig, die ärmeren Länder zu unter­stüt­zen. Was aber gern ver­ges­sen wird: Die Klima­krise ver­schärft sich un­auf­hör­lich. In vie­len Län­dern wird man schon 2070 gar nicht mehr le­ben kön­nen, wenn wir weiter­machen wie bis­her, weil es zu heiß ist. Da hel­fen Aus­gleichs­maß­nah­men dann auch nicht mehr.

Sie haben einen Lösungsvorschlag auf den Tisch gelegt. Aber warum muss da­bei gleich das ge­samte Wirt­schafts­sys­tem weg?

Herrmann: Erst einmal vorweg: Ich bin keine Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­kerin. Ganz im Gegen­teil, ich finde die­ses Sys­tem außer­ordent­lich fas­zi­nie­rend, weil es das ein­zige Sozial­system in der Men­schheits­ge­schichte war, das für Wachs­tum und Wohl­stand sorgte. Und da­von ha­ben wir auch alle pro­fi­tiert. Vor 250 Jahren lag die Lebens­er­war­tung in Öster­reich bei 35 Jah­ren, heute steht sie bei über 80. Das ein­zi­ge Prob­lem am Kapi­ta­lis­mus ist, dass er ste­tes Wachs­tum be­nö­tigt, um sta­bil zu sein und nicht in schwere Kri­sen zu ge­ra­ten. Jetzt ha­ben wir aber das Prob­lem, dass die grüne Ener­gie nicht rei­chen wird, um weiter­hin Wachs­tum zu be­feuern. Wir brau­chen also grünes Schrump­fen, und Schrump­fen geht im Kapi­ta­lis­mus nicht. Dann bricht er zu­sammen.

Aber warum soll denn die grüne Energie nicht reichen? Die wird doch über­all, be­schleu­nigt auch durch die Folgen von Putins Ukraine-Über­fall, ge­rade aus­ge­baut.

Herrmann: Ja, viele Leute haben das Ge­fühl, da stehe doch schon eine Men­ge rum, zu­mal in Deutsch­land sieht man ja be­reits viele Wind­rä­der. In Wahr­heit ste­hen wir noch ganz am An­fang. Es wird ja im­mer vor­ge­rech­net, dass fast die Hälfte der Strom­er­zeu­gung be­reits klima­neu­tral sei. Aber Strom macht nur ein Fünf­tel des End­ener­gie­ver­brauchs aus, und künf­tig müs­sen wir auch Ben­zin, Öl und Gas er­set­zen. Und beim End­ener­gie­ver­brauch hat die Wind­kraft erst ei­nen An­teil von 4,7 Pro­zent, die Solar­kraft einen von 2,2 Pro­zent.

Was ist mit der Wasser­kraft, zäh­len Sie die nicht mit?

Herrmann: Die deckt in Deutsch­land 0,8 Pro­zent des End­energie­ver­brauchs ab.

In Österreich, aber auch in großen Län­dern wie China ist sie durch­aus wichtig.

Herrmann: Aber China hat dem­nächst Dauer­dürre! Die Was­ser­kraft lebt von den Nieder­schlägen und den Glet­schern. Durch den Klima­wandel ver­schwin­den aber die Glet­scher, und die Trocken­heit nimmt zu. Da wer­den wir mit der Was­ser­kraft nicht mehr weit kommen.

Wäre noch die Biomasse.

Herrmann: Ja, die macht in Deutsch­land den größ­ten Teil der klima­neu­tra­len Ener­gie­pro­duk­tion aus. Aber das sind meist Mono­kul­turen aus Mais und Raps, die viel Was­ser, Dün­ger und Pes­ti­zi­de be­nö­ti­gen. Die haben ja über­haupt kei­ne Zu­kunft, die­se Ener­gie­pflan­zen muss man ja zu­rück­fahren, um das Arten­ster­ben zu brem­sen. Das Ein­zi­ge, was sich wirk­lich aus­bauen lässt, sind eben Solar­panels und Wind­räder.

Aber angenommen, es gibt eine globale Kraft­an­stren­gung, wir stel­len über­all Wind­räder auf, pflas­tern alle Dä­cher, Wä­nde und Park­plät­ze mit Solar­an­lagen zu: Reicht es dann nicht irgend­wann?

Herrmann: Erstens geht das nicht ohne eine rie­sige Mate­rial­schlacht. Zwei­tens gibt es im Win­ter prak­tisch keine Son­nen­ener­gie, zu­min­dest nicht bei uns im Nor­den, und dummer­wei­se kommt es auch beim Wind zu Flau­ten, die lange dau­ern kön­nen. Also müs­sen wir zwi­schen­spei­chern, und da wird es auf­wen­dig. Batte­rien und grü­ner Was­ser­stoff sind rich­tig teuer, bis 2045 muss da erst eine Riesen­infra­struk­tur auf­ge­baut werden.

Sie sprechen 2045 an, weil Deutsch­land bis da­hin klima­neu­tral sein will; Öster­reich hat das sogar bis 2040 vor.

Herrmann: Genau, so steht es im Klima­ge­setz. Aber so, wie wir jetzt wirt­schaf­ten, wird das nichts. Um kein Miss­ver­ständ­nis auf­kom­men zu las­sen: Ich bin sehr für den Aus­bau der Er­neuer­baren. Aber die Vor­stel­lung vom grü­nen Wachs­tum ist wie der Traum, man könne Ku­chen fut­tern, so viel man will, und nehme trotz­dem ab. Wir ver­brau­chen im Augen­blick drei Pla­ne­ten. Aber es gibt nur eine Erde. Also müs­sen wir wie­der in die Gren­zen der Na­tur zu­rück­finden.

Warum aber muss der Kapitalismus, wie Sie sagen, zwin­gend wach­sen? Was, wenn wir auf dem jetzi­gen Niveau blieben?

Herrmann: Auch bei einer Stagnation tauchen be­reits all die Pro­ble­me auf, die sich ein­stel­len, wenn Wachs­tum aus­bleibt oder gar ein Schrump­fen ein­setzt. Ein ers­ter Grund: Wachs­tum kann es nur ge­ben, wenn es mit Kre­di­ten fi­nan­ziert wird. Um­ge­kehrt kön­nen die­se Kre­dite aber auch nur zu­rück­ge­zahlt wer­den, wenn das er­hoffte Wachs­tum ein­tritt. Hin­zu kommt: Unter­neh­men in­ves­tie­ren nur, wenn sie zu­sätz­li­che Ge­winne er­war­ten. Volks­wirt­schaft­lich ge­se­hen sind die­se Ge­win­ne aber das Glei­che wie Wachs­tum. Ohne Wachs­tum gibt es keine Ge­win­ne und da­mit kei­ne In­ves­ti­tio­nen, die Wirt­schaft ge­rät ins Stru­deln.

Laut Ihnen muss die Wirt­schaft nicht nur ein biss­chen schrump­fen, son­dern so­gar bis zur Hälfte. Wie kom­men Sie auf diese Zahl?

Herrmann: Das ist eine Schätzung. Ich habe mir über­legt, was wohl das Worst-Case-Sze­na­rio wäre, wenn es mit der Öko­ener­gie rich­tig, rich­tig knapp würde

Es reicht also vielleicht auch ein Viertel? Oder ein Zehntel?

Herrmann: Das könnte sein. Nur ist das für den Kapi­ta­lis­mus egal. In dem Mo­ment, da das Sys­tem nicht mehr wächst, ist er vor­bei. Das Ende des Kapi­ta­lis­mus ist aller­dings nicht das Ende der Mensch­heit und auch nicht des Wohl­stands. Wir müs­sen nicht zu­rück in die Stein­zeit und auch nicht in Fellen herum­lau­fen. Ein Schrump­fen um die Hälfte be­deu­tet für Öster­reich oder Deutsch­land, dass man un­ge­fähr im Jahr 1978 lan­det. Wenn ich in mei­nen Le­sun­gen sage: Da­mals waren wir doch genau­so glück­lich, dann nicken im­mer alle. Man­che sagen so­gar: Wir waren glück­licher.

Weil es weniger stressig war?

Herrmann: Genau. Und manche Scherz­kekse rufen dann: Das ist aber nur, weil wir da­mals jün­ger waren. Die Er­inne­rung an 1978 ist außer­ordent­lich gol­den bei al­len, die da­bei waren. Es gab zwar keine Erd­beeren im Win­ter und keine ein­ge­flo­ge­nen Man­gos, und man ist auch nicht für zwei Tage nach Mal­lorca ge­jet­tet, aber dann eben drei Wo­chen mit dem Auto nach Ita­lien an den Strand ge­fahren. Für alle, die nicht da­bei waren: 1978 war das Jahr, in dem Ar­gen­ti­nien Fuß­ball­welt­meis­ter wurde und der erste Teil von "Star Wars" in die Ki­nos kam. Vieles war gut.

Aber seither hat sich die Welt sehr ver­ändert.

Herrmann: Natürlich, es haben sich auch außer­ordent­lich posi­tive Dinge ent­wickelt. In den 1970ern sind zum Bei­spiel elf Pro­zent aller deut­schen Frauen an Brust­krebs er­krankt, und das en­dete oft töd­lich. Heute gibt es viel wirk­samere Krebs­thera­pien, auf die wir nicht zu ver­zich­ten bräuch­ten. Eine gute Nach­richt für die Ju­gendl­ichen: Wir könn­ten auch das Smart­phone be­halten.

Nun gibt es die Wachstumskritiker ja schon länger. Was ist bei Ihrem Ansatz anders?

Herrmann: Derzeit gibt es zwei Lager: Das eine sind die vie­len Leute, die das grüne Wachs­tum pro­pa­gie­ren. Das an­dere sind die Wachs­tums­kri­ti­ker, die liebe­voll die Idee einer Kreis­lauf­wirt­schaft aus­ge­stal­ten, in der wir nicht mehr ver­brau­chen, als wir re­cyceln kön­nen. Das finde ich auch wich­tig, nur ma­chen sie den Feh­ler, ihre Vi­sion gleich­zei­tig für den Weg zu hal­ten. Sie fra­gen sich nie, wie wir aus einem dy­na­mi­sch wach­sen­den Kapi­ta­lis­mus in eine Kreis­lauf­wirt­schaft kom­men, ohne dass es zum to­ta­len Chaos und Mil­lion­en von Arbeits­lo­sen kommt. Da­bei wis­sen Deut­sche und Öster­rei­cher ja per­fekt, was dann pas­siert: dann kommt ein rechts­radi­ka­ler Dik­ta­tor an die Macht, so wie Hitler 1933.

Und Sie haben den Weg gefunden?

Herrmann: Als Historikerin ist es nahe­lie­gend zu gucken, wo eine kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schaft be­reits ein­mal ge­schrumpft wur­de, ohne dass das Chaos aus­ge­bro­chen ist. Und da fällt die bri­ti­sche Kriegs­wirt­schaft ab 1939 ins Auge. Davon kann man viel lernen.

Und was?

Herrmann: Die Briten hatten den Zwei­ten Welt­krieg nicht wirk­lich kom­men se­hen. Als er aus­brach und klar war, dass Hit­ler Groß­bri­tan­nien an­grei­fen wür­de, blieb den Bri­ten nichts an­de­res üb­rig, als ihre zi­vi­le Wirt­schaft zu schrump­fen: da­mit sie in ihren Fa­bri­ken statt­des­sen Waf­fen, Radar­ge­räte und U-Boote bauen konnten. Da­bei wurde nichts ver­staat­licht, alles blieb pri­vat. Die Eigen­tümer und Mana­ger konnten in den Fa­bri­ken wei­ter agie­ren, wie sie das für rich­tig hiel­ten. Der Staat gab Pro­duk­tions­ziele vor; wie die er­reicht wur­den, blieb den Mana­gern über­lassen.

Nun wurden aber weniger Nahrung, Kleidung, Möbel her­ge­stellt

Herrmann: Genau. Die Briten haben nicht ge­hungert, aber es wurde eben alles knapp. Und diese nun knap­pen Güter wur­den ratio­niert. Jeder hat das Gleiche be­kom­men, es wur­de ab­so­lut ge­recht ver­teilt. Den Armen ging es plötz­lich bes­ser als vor­her, weil sie jetzt auch ihren ge­rech­ten An­teil an Milch, Fleisch, But­ter und so weiter be­kamen. Des­wegen war die Ratio­nie­rung auch wahn­sin­nig po­pu­lär. Was man ganz drin­gend be­to­nen muss: Wenn wir nun so eine Art Kriegs­wirt­schaft ein­füh­ren wür­den, dann wären wir nicht so arm wie die Briten 1939, son­dern wir wären wie anno 1978.

Aber wie soll das konkret funktionieren? Soll es wieder Lebens­mittel­karten geben?

Herrmann: Klar wäre jedenfalls, dass man das Fleisch ratio­niert. Nie­mand braucht Vege­ta­rier zu wer­den, weil es ja Flä­chen gibt, wo nur Gras wächst, das der Mensch nicht ver­dauen kann. Hier müs­sen wir also den Um­weg über das Tier neh­men. Aber ja, es muss weni­ger wer­den, und das müsste man dann wahr­schein­lich über Lebens­mittel­kar­ten machen. Auch Wohn­raum müsste ratio­niert wer­den. In Deutsch­land leben wir der­zeit im Schnitt auf 47 Qua­drat­me­tern pro Kopf. Das reicht. Auf Neu­bau müs­sen wir künf­tig ver­zich­ten, wir kön­nen nicht mehr alles ver­sie­geln.

Klingt kompliziert und schwer administrierbar.

Herrmann: Ja. Ich verspreche ja nicht das Para­dies. Aber immer wenn ein exis­ten­ziel­les Gut knapp wird, inter­es­siert sich kein Mensch mehr für Markt und Prei­se, son­dern alle ste­hen direkt beim Staat und wol­len, dass der das re­gelt. Beim Was­ser wird das ganz von selbst kom­men, denn die Trocken­heit wird zu­neh­men und das Was­ser knapp wer­den. Aus ganz an­de­ren Gründ­en, durch den Ukra­ine-Krieg, könn­ten wir Ratio­nie­rung schon in die­sem Win­ter er­leben: Wenn es noch sehr kalt wird, dann wird in Deutsch­land und Öster­reich der Staat ent­schei­den müs­sen, wo das Gas hin­fließt.

Wie würden Sie das Autofahren regeln?

Herrmann: Autos werden nur noch für jene sein, die krank sind und nicht in den Bus stei­gen kön­nen. So viel Öko­ener­gie wird es nicht ge­ben, um unse­re rie­si­ge Pkw-Flot­te noch zu be­feuern.

E-Autos bilden keine Ausnahme?

Herrmann: Der Tunnelblick auf die Antriebs­arten über­sieht, dass das Auto an und für sich eine ex­tre­me Ver­schwen­dung ist. Auch ein E-Auto wiegt bis zu zwei Ton­nen, und im Durch­schnitt sit­zen nur 1,3 Men­schen drin. Außer­dem ver­schlingt die rie­sige Bat­te­rie schon bei der Her­stel­lung viele Res­sour­cen. Auch Zug­fahren müsste ratio­niert wer­den, vor allem die Schnell­züge ver­brau­chen zu viel Ener­gie. Eigent­lich dürf­ten alle Züge nur noch maxi­mal 100 km/h fahren.

Die meisten Menschen werden das alles sehr extrem finden.

Herrmann: Wenn jemand einen besseren Vor­schlag hat, wie wir das Schrumpfen or­ga­ni­sie­ren kön­nen: Ich bin da ganz offen.

Fliegen sei sowieso nicht mehr drin, sagen Sie. Sie selbst fliegen auch gar nicht mehr.

Herrmann: Stimmt. In dem Moment, da man sich mit dem Thema ernst­haft be­fasst, kann man nicht mehr flie­gen. Das ist to­tal un­prak­tisch: Mein bes­ter Freund lebt seit einem Jahr in Washing­ton, lädt mich im­mer ein, und ich kann nicht hin. Aber es ist nicht wich­tig, ob ich flie­ge oder nicht, wich­tig ist: Wir brau­chen eine makro­öko­no­mi­sche Lö­sung, denn allein in Deutsch­land sind di­rekt und in­di­rekt 850.000 Men­schen in der Flug­zeug­in­dus­trie be­schäf­tigt: all die Leute bei Air­bus, die Stewar­des­sen, Pi­lo­ten und Reise­büro­mit­ar­beiter. Sie alle brau­chen dann ja an­dere Jobs, ge­nau­so wie die Be­schäf­tig­ten der Auto­mobil­in­dus­trie und vie­ler an­derer Branchen.

Und was sollen die dann alle machen?

Herrmann: Die Arbeit wird nicht ausgehen, denn der Klima­schutz ist sehr auf­wen­dig. Es müs­sen Häu­ser ge­dämmt, Wärme­pum­pen ein­ge­baut, Solar­an­la­gen in­stal­liert und Wind­kraft­räder er­rich­tet wer­den. Das Pro­b­lem ist: Vie­les fin­det nicht dort statt, wo die Leute jetzt le­ben. Das er­for­dert also ex­tre­me Um­orien­tie­rungen und funk­tio­niert nur, wenn die Ge­sell­schaft das will. Auf gar kei­nen Fall will ich eine Dik­ta­tur, son­dern je­der muss ein­sehen, dass das lei­der un­aus­weich­lich ist. Und der Ver­zicht muss ko­or­di­niert pas­sie­ren, sonst bricht das Sys­tem zu­sam­men. Mit einer wich­ti­gen Aus­nahme: Jeder sollte so­fort wenig Fleisch es­sen und Öko­pro­dukte kaufen. Da­mit würde nichts zu­sam­men­bre­chen, die Land­wirt­schaft müsste sich nur um­stellen.

Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Euro­pä­ische Wirt­schafts­for­schung, ver­tritt in sei­nem neuen Buch "Klima muss sich loh­nen" The­sen, die teils kon­trär zu den Ihren sind: Ohne Wirt­schafts­wachs­tum be­kämen wir die Klima­wende nicht hin. Und wenn Län­der wie In­dien und Chi­na schrump­fen, wäre so­wie­so alles vorbei.

Herrmann: In vielen Ländern kann die Wirt­schaft so­wie­so noch wach­sen, zum Bei­spiel in Ma­la­wi. Des­sen Ein­wohner emit­tie­ren im Augen­blick nur 100 Kilo CO2 pro Kopf und Jahr, laut Welt­klima­rat ist aber eine Ton­ne er­laubt. In­dien emit­tiert ak­tu­ell 1,8 Ton­nen pro Kopf und Jahr. In­dien müsste also erst 2090 klima­neu­tral sein, weil es das Klima pro Be­woh­ner nur ein Vier­tel so stark be­las­tet wie etwa Deutsch­land oder Öster­reich. Das Prob­lem an der Klima­krise sind die rei­chen kapi­ta­lis­ti­schen Län­der und sonst nie­mand: USA, Kana­da, Euro­pa, Russ­land, Aus­tra­lien und auch China. Die müs­sen bei den Emis­sio­nen runter.

In letzter Zeit ist viel davon die Rede, eine Ent­koppe­lung von Wirt­schafts­wachs­tum und Emis­sio­nen sei durch­aus mög­lich, das zeig­ten so­wohl Euro­pa als auch die USA und Kana­da be­reits. Was sagen Sie dazu?

Herrmann: Die USA emittieren immer noch mehr als 14 Ton­nen CO2 pro Kopf und Jahr - das ist dop­pelt so viel wie Deutsch­land oder Öster­reich. Es ist ein Witz, aus­ge­rech­net die USA als Vor­bild an­zu­prei­sen. Zu­dem wird da­bei über­sehen, dass kleine Fort­schrit­te nicht weiter­hel­fen. Wir müs­sen 2045 abso­lut klima­neu­tral sein. Und die­ses Ziel wird nir­gend­wo er­reicht.

Warum unterstützen nicht einmal die Grünen Ihre Ideen? Die Grü­nen-Poli­ti­kerin Steffi Lemke sagt, sie kön­ne mit Ihrem Buch wenig an­fan­gen: Es sei ein Lu­xus, dass "die Gene­ra­tion, die es ver­bockt hat, nun den jun­gen Leu­ten sagt: Das geht nicht mehr."

Herrmann: Dass die grüne Führung weiter­hin so tut, als wäre grü­nes Wachs­tum mög­lich, ver­stehe ich. Die Mehr­heit der Wäh­ler will das hören, und in einer Demo­kra­tie füh­ren Par­teien nicht, son­dern fol­gen ihren Wäh­lern. Da­her muss erst ein­mal die Mehr­heit der Bür­ger ver­ste­hen, dass es tat­säch­lich um ihr Über­leben geht. Die heute 20-Jäh­rigen ha­ben genau eine Wahl: in einer Welt zu le­ben, die weit­ge­hend zer­stört ist, oder aus dem Kapi­ta­lis­mus aus­stei­gen. Die Option, es könne al­les blei­ben, wie es ist, exis­tiert nicht.

Warum sind Sie so sicher, dass Sie recht haben?

Herrmann: Weil wir in 22 Jahren klimaneutral sein müssen. Das ist ver­dammt we­nig Zeit. Da hilft nur noch "grü­nes Schrump­fen". Der Ti­tel meines Buches ist auch keine For­de­rung nach dem Mot­to "Schafft den Kapi­ta­lis­mus ab!", son­dern eine Be­schrei­bung. Der Kapi­ta­lis­mus wird en­den, ob wir das wol­len oder nicht.

Posted by Wilfried Allé Sunday, September 3, 2023 1:30:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten

von Nils Goldschmidt, Stephan Wolf

ISBN: 9783451387432
Verlag: Verlag Herder
Umfang: 272 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 12.10.2021
Format: Hardcover
Preis: € 24,70

Kurzbeschreibung des Verlags

Wir leben in einer Zeit, in der vieles be­droht ist, was lange als selbst­ver­ständ­lich galt: öffent­li­che Ge­sund­heit, Demo­kra­tie und Friede, so­zia­le Sicher­heit, wirt­schaft­li­cher Wohl­stand und eine in­tak­te Um­welt. So­ge­nannte Kipp­mo­mente be­zeich­nen sol­cher­lei Si­tua­tio­nen, in de­nen sich ein Sys­tem (öko­lo­gisch, poli­tisch oder so­zial) plötz­lich und un­um­kehr­bar än­dert. Das Wis­sen um sie ist für das Ver­ständ­nis un­se­rer kom­ple­xen Ge­gen­wart essen­ziell.

Nils Goldschmidt und Stephan Wolf machen deut­lich, dass Kipp­mo­men­te keine un­ab­änder­baren Schick­sale sind, son­dern be­ein­flusst und ab­ge­wen­det wer­den kön­nen. Ein Buch, das zeigt, wie wir un­sere Zu­kunft in einer sich im­mer schnel­ler wan­delnden Welt ge­stal­ten kön­nen, an­statt uns vor der nächs­ten Krise zu fürchten.

Posted by Wilfried Allé Thursday, August 24, 2023 3:20:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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