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Arbeit ist unsichtbar 

Die bisher nicht erzählte Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Arbeit

von Christine Schörkhuber, Harald Welzer, Robert Misik

Verlag: Picus Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 240 Seiten
Erscheinungsdatum: 02.05.2018
Preis: € 24,00

 

 


Rezension aus FALTER 31/2018

Ich arbeite, du arbeitest, wir arbeiten – aber wofür?

Die Regierung will flexiblere Arbeitszeiten. Der Sammelband Arbeit ist unsichtbar erzählt von Arbeit als Sinnstifterin und Machtinstrument

Wer es noch nicht ins Museum Arbeitswelt in Steyr zur Ausstellung „Arbeit ist unsichtbar“ geschafft hat und es auch bis zum 23. September nicht schaffen wird, dem kann geholfen werden. Es gibt jetzt nämlich einen lesenswerten Sammelband zur Ausstellung. Er versammelt Teile der Ausstellung zum Nachlesen, literarische und journalistische Texte zum Thema Arbeit, Fotos, Reportagen, Interviews und ergibt in Summe einen umfassenden „Reader“, also einen Leseband, zum großen Thema Arbeit. „Wem gehört die Zeit?“, fragen die Autoren etwa im Kapitel „Arbeitszeit“ und erzählen eine kleine Geschichte der Vertaktung des Arbeitslebens, die jetzt von der türkis-blauen Regierung gerade weitergetrieben wird in Richtung Zwölfstundentag und 60-Stunden-Arbeitswoche. Für die einen ist das Befreiung und Flexibilisierung, für die anderen Auspressen und Unterdrückung.

Autonomie und Zwang sind die beiden Pole, zwischen denen das Thema Arbeitszeit seit Beginn der industriellen Lohnarbeit verhandelt wurde. „Gut Ding braucht Weile“ wird ersetzt durch „Zeit ist Geld“. Noch 1879 gibt es in der Monarchie keine gesetzlich geregelte Arbeitszeit, aber auch keine staatliche Kranken- und Unfallversicherung. Die „Dressierung“ der Arbeiterinnen und Arbeiter, das Arbeiten zur gleichen Zeit an einem Ort, gibt auch die Möglichkeit, sich abzusprechen, gemeinsam für mehr Rechte zu kämpfen.

Wie so oft in der Moderne herrscht Ambivalenz. Ja, die Industrialisierung führt zu Arbeits- und Zeitdruck, und ja, gleichzeitig entsteht dadurch die moderne Arbeiterbewegung, es wird protestiert und gestreikt. Für die aktuelle politische Debatte heißt das natürlich auch: Beim Thema Arbeitszeiten geht es nicht nur um die individuellen neuen, vielleicht für manche opportunen Spielräume, es geht auch um eine weitere Entsolidarisierung der Arbeitenden. Wer Homeoffice macht, seine Kollegen nur vom Grüßen kennt, entsolidarisiert sich unweigerlich.

„Startupstory“ nennt der Autor Andreas Baumgartner seinen Kurzbeitrag für den Sammelband, in dem er von seinen zweieinhalb Jahren bei einem Start-up-Unternehmen erzählt. Zuerst läuft alles toll, er arbeitet immer mehr, mit mehr Verantwortung, 60 Stunden in der Woche, trotzdem noch auf Werkvertrag. Dann geht alles sehr schnell und er steht wieder auf der Straße. „Scheitern ohne Netz und mit viel Aufwand“ sei das gewesen.

Viele solche spannenden Blitzlichter auf die herrschende Arbeitswelt finden sich im Sammelband. Robert Misik beschreibt etwa eine „Anti-Machismo“-Initiative auf Shell-Ölplattformen, die dazu führte, dass Arbeitsunfälle um 84 Prozent zurückgingen, weil die Männer lernten, über ihre Emotionen zu sprechen und Ängste zuzulassen.

Die Politologen und Soziologen Ullrich Brand und Markus Wissen gehen der Frage „Wie viele Sklaven halten Sie?“ nach. „Imperiale Lebensweisen“ seien der Alltag in den Zentren des globalen Kapitalismus eigentlich, auch wenn es uns nicht immer bewusst ist. Bei allem, was wir konsumieren, greifen wir auf die billigen Arbeitskräfte und Ressourcen von „anderswo“ zurück, von der polnischen Haushalthilfe über den libanesischen Uber-Fahrer bis zur Sweat-Shop-Näherin in Bangladesch, die die Zara-Tunika bestickt.

Was würden Sie tun, wenn sie 1000 Euro Grundeinkommen bekämen, fragten die Autoren Passanten in St. Pölten. „Ich würde dann mehr Geld kriegen für dieselbe Arbeit, weil ein großer Anteil der Arbeit, die ich sowieso mache, Kinder, Familie, Vereine, abgegolten wäre. Fände ich sehr erfreulich.“

Barbaba Tóth in FALTER 31/2018 vom 03.08.2018 (S. 17)

Posted by Wilfried Allé Monday, August 6, 2018 11:28:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Das terrestrische Manifest 

Eine Serie politischer Unwetter hat die Welt durcheinandergebracht. Die Instrumente, mit denen wir uns früher orientierten, funktionieren nicht mehr. Verstanden wir Politik lange als einen Zeitstrahl, der von einer lokalen Vergangenheit in eine globale Zukunft führen würde, realisieren wir nun, dass der Globus für unsere Globalisierungspläne zu klein ist. Der Weg in eine behütetere Vergangenheit erweist sich ebenfalls als Fiktion. Wir hängen in der Luft, der jähe Absturz droht.
In dieser brisanten Situation gilt es zuallererst, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und sich dann neu zu orientieren. Bruno Latour unternimmt den Versuch, die Landschaft des Politischen neu zu vermessen und unsere politischen Leidenschaften auf neue Gegenstände auszurichten. Jenseits überkommener Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär plädiert er für eine radikal materialistische Politik, die nicht nur den Produktionsprozess einbezieht, sondern auch die ökologischen Bedingungen unserer Existenz. Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie, von 1982 bis 2006 Professor am Centre de l'Innovation an der Ecole nationale supérieure de mine in Paris. Gastprofessor an der University of California San Diego, der London School of Economics und am historischen Seminar der Harvard University. Seit Juni 2007 ist Bruno Latour Professor am Sciences Politiques Paris und dem Centre de Sociologie des Organisations (CSO). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2013 den Holberg- Preis.

Übersetzung: Bernd Schwibs
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 136 Seiten
Erscheinungsdatum: 16.04.2018
Preis: € 14,40
Eine Rezension von Elisabeth von Thadden

27. Juni 2018 DIE ZEIT Nr. 27/2018, 28. Juni 2018

Der Platz wird eng. Eine gemeinsame Welt, die sich unter allen teilen ließe, gibt es nicht mehr, denn die alte Erde ist zu klein, sie wird durch die Erwärmung vielerorts unbewohnbar. Boden, auf dem sich wirtschaften lässt, ist knapp, das handelsübliche Wachstum ist ökologisch mörderisch, und an wandernden Menschen, die Heimat suchen, herrscht Überfluss. Mit wenigen stilistischen Handgriffen schiebt so der Pariser Starintellektuelle Bruno Latour in seinem jüngsten Buch Das terrestrische Manifest drei Kontinente des Politischen aneinander: Klima, Ungleichheit, Migration. Latour plakatiert eine verbindende, kraftvolle Großthese: Wer unter den Reichen die klimatisch bedingte Knappheit einmal begriffen hat, schweigt vom Klimawandel fortan fein still, steigt dafür zügig aus der Solidarität mit den anderen Weltbewohnern aus und zieht die Mauern des Nationalstaates hoch – um offshore zu gedeihen, das Eigene zu schützen, die Menschen wie ihren unverhandelbaren Lebensstil. Genau dieses Programm, sagt Latour, führen die Eliten im Zeitalter Trumps gerade durch: Der Klimawandel ist nicht von ihrer Welt, sie bewohnen lieber ungestört eine andere, imaginäre, mit Klimaanlage, und die hat nun für Fremde geschlossen. Latour hält diesem Wahn hart entgegen: Heimatlose sind wir auf einem toten Planeten doch alle. Es komme darauf an, sich als Bürger neu zu erden. Sich an einen Boden zu binden, der sich uns unter den Füßen entziehen will, und durch diese Bindung "welthaft" zu werden.

Damit wäre man bereits im Reich der Latourschen Sprachschöpfungen angekommen, die seine Kritiker seit Langem mit Kopfschütteln quittieren: Was soll das sein, Boden, geht es um Überweidung, Abholzung, Brachen? Was ist dann mit "welthaft" gemeint? Geht es auch etwas weniger verschwörungsmetaphorisch? Und: Es sind doch die Eliten gewesen, die vom Pariser Klimavertrag über die energiepolitischen EU-Normen bis zu den Sustainable Development Goals der UN in den vergangenen Jahren die Standards für die Staaten der Welt zur Unterschriftsreife geformt haben, an die sich nun kaum einer hält. Warum bedauert Latour das arme Volk, das von seinen Eliten genarrt werde? Es waren europäische Gesellschaften, die seit den Achtzigerjahren ihre Eliten zum klimapolitischen Handeln gedrängt haben. Einwände ohne Ende also.

Aber Latour ist nicht zuletzt ein brillanter Ironiker, er spricht in seiner dialogisch arabesken Prosa mit aller Kraft auch gegen sich selbst: gegen die eigenen unbeweisbaren Hypothesen, gegen seine so haarspalterische wie eigenmächtige Sprache, er weiß, dass er methodisch auf Autopilot fährt. Doch als ein entschiedener Europäer hält er das Regelwerk in Ehren, das in Brüssel entstand, und zugleich tritt dieser klassisch subsidiär denkende Kosmopolit aus der Provinz der französischen Winzer mit dem neuen antifatalistischen Paris-Faktor auf: Bruno Latour weiß, dass seine Stimme bei vielen Gehör findet, weil er es für unanständig hält, sich im Fatalismus zu baden. Er weiß, dass er Fragen stellt, die sonst kaum als öffentlich verhandelbar gelten: "Woran hängen Sie am meisten? Mit wem können Sie leben? Wessen Überleben hängt von Ihnen ab? Gegen wen werden Sie kämpfen müssen? Wie lässt sich all das in eine Reihenfolge der Prioritäten bringen?" Latour nimmt die durchschnittliche europäische Gewöhnungsnormalität angesichts des Klimawandels nicht hin. Er will die Schockstarre lösen: Gesucht wird die Erde, auf der Menschen sich erden können. Gesucht wird: Politik.

Posted by Wilfried Allé Sunday, July 29, 2018 5:40:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Radikale Alternativen 

Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann

von Alberto Acosta, Ulrich Brand, Stephan Lessenich

Übersetzung: Nadine Lipp
Verlag: oekom verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 192 Seiten
Preis: € 16,50
Erscheinungsdatum: 19.03.2018
Rezension aus FALTER 18/2018

„Van der Bellen tut nichts“

Politikprofessor Ulrich Brand über eine Alternative zum Kapita­lismus, die Macht der Provo­kation und fette Autos

Ulrich Brand schrieb vergangenes Jahr mit der Kapita­lismus­kri­tik „Imperiale Lebens­weise“ einen Best­seller. Nun legt der Poli­tik­pro­fes­sor ge­mein­­sam mit dem ecuadorianischen Volks­wirt und ehe­mali­gen Ener­gie­mi­nis­ter Alberto Acosta sein neues Buch „Radikale Alter­nativen“ vor, in dem er Wege aus der Kapi­ta­lis­mus­krise auf­zeigt. Ein Ge­spräch über die ver­heerende De­re­gu­lierungs­poli­tik der türkis-blauen Re­gie­rung, Pro­test mit ab­ge­bro­chenen Mer­cedes-Ster­nen und das gute Leben.

Falter: Herr Professor Brand, eine Ihrer radikalen Alter­na­tiven zur zer­störe­rischen Wachs­tums­logik des Kapi­ta­lis­mus heißt „Degrowth“. Was heißt das?
Ulrich Brand: Der Begriff wird vor allem in sozial radi­kalen Be­we­gungen und der kri­ti­schen Wis­sen­schaft ver­wendet. Die Aus­rich­tung lau­tet: Die Gesell­schaft und Wirt­schaft müs­sen so or­ga­ni­siert wer­den, dass sie nicht mehr den kapi­ta­lis­tischen Wachs­tums­zwängen unter­liegen. Es ist ein An­griff auf jene, die vom kapi­ta­lis­tischen Wachs­tums­impe­ra­tiv be­son­ders profi­tieren.

Kann man mit so einem unsexy Begriff die Menschen überhaupt für sich gewinnen?
Brand: Nein, wenn von „Degrowth“ oder „Postwachstum“ ge­spro­chen wird, dann ge­hen bei vie­len die Ohren zu. Da denkt je­der an Ver­zicht. Es geht eher darum: Wir müs­sen die Ge­sell­schaft so­zial und öko­lo­gisch um­bauen und brau­chen ein ande­res Wohl­stands­modell. Das hört sich ganz an­ders an. Da­zu kommt die For­de­rung: Ein gutes Leben für alle.

Was wäre dieses gute Leben?
Brand: Wir haben heute zum Beispiel dieses wahnsinnige Fast Fashion, schneller Um­schlag im­mer neuer Klei­dung, im­mer der neueste Schrei. Degrowth würde heißen, dass wir weni­ger Kla­mot­ten haben. Man könnte das als Ver­zicht sehen, oder aber auch als Be­freiung von Über­fluss und Kon­sum­zwang. Man würde Schäd­li­ches ver­meiden und statt­des­sen Dinge tei­len. Das würde zu einem res­sour­cen­leichten Wohl­stand führen.

In China hat der Kapitalismus für sehr viele Menschen ein gutes Leben ge­bracht, er hat eine neue Mit­tel­schicht ge­schaffen.
Brand: In China gibt es eine unglaublich produktive Ent­wicklung für nicht so wenige – aber auch nicht für alle. Die Frage ist, ob wir es anders machen können. Marx hat die Dop­pel­seitig­keit des Kapi­ta­lis­mus ge­zeigt: Da ist diese enorme Pro­duk­ti­vi­tät des Kapi­ta­lis­mus und zu­gleich seine enor­me Des­truk­ti­vi­tät. Wenn wir heute nach China fah­ren, sind viele Land­striche ver­wüs­tet, die Luft in vie­len Städten ist ent­setz­lich. Denn Natur wird dort nur als aus­zu­beu­tende Res­source ge­sehen. Über den kapi­ta­lis­ti­schen Markt wird der Markt zu einem Zwang, in den im­mer mehr hinein­ge­zogen wird. Den kapi­ta­lis­ti­schen Welt­markt kann man nicht mehr steuern. Die Macht der trans­natio­nalen Unter­nehmen ist so stark, dass man kaum raus­kommt. Es fehlt ein inte­gra­ler öko­no­mi­scher An­satz, der nicht al­les aus­beutet, son­dern um­sich­tig steuert – eine nach­hal­tige Ent­wicklung oder Kreis­lauf­wirtschaft.

Was hindert uns daran auszusteigen?
Brand: Da kom­men viele Fak­toren zu­sammen. Das sieht man etwa an der span­nenden Frage in Öster­reich: Kom­men wir aus der öko­lo­gisch zer­stö­re­ri­schen Auto­mo­bi­li­tät und der Auto­mobil­indus­trie raus? Also kön­nen wir alter­na­tive Ver­kehrs­kon­zepte ent­wickeln, die drin­gend not­wen­dig sind – wir wis­sen schließ­lich, dass wir auf­grund der Klima­ziele von Paris de­kar­bo­ni­sie­ren müs­sen. Das Elektro­auto wird hier nicht rei­chen. Was uns da­ran hin­dert, sind die der­zei­tigen Struk­turen – an ihnen hän­gen Be­schäf­ti­gung, Infra­struk­tur, Unter­nehmens­pro­fite, so­wie die Legi­timi­tät von Poli­tik durch Wachs­tum. Aber auch die Raum­struk­turen, der im länd­lichen Raum un­zu­rei­chende öffent­liche Ver­kehr und die Wün­sche vie­ler Men­schen, die gerne im Auto sitzen. Der Kapi­ta­lis­mus hat also pro­duk­tive An­teile, aber er ver­selb­ststän­digt sich. Durch den Neo­libe­ra­lismus ist die Steue­rungs­fähig­keit, die es nach dem Zwei­ten Welt­krieg gab, noch ein­mal zu­rück­ge­nom­men worden. Frü­her konnte die Poli­tik in die Wirt­schaft ein­grei­fen und Regeln auf­stel­len, damit nicht alles mög­lich war. In Öster­reich gibt es das zum Teil noch. Aber wir sehen ge­rade bei dem ge­plan­ten Ver­fas­sungs­ge­setz zur Wett­bewerbs­fähig­keit und der Ent­schlackung von Ge­setzen, dass noch stär­ker de­regu­liert wer­den soll. Die türkis-blaue Re­gie­rung hat eine Dere­gu­lierungs­agenda. Dere­gu­lie­rung be­deutet oft, dass die Star­ken noch stär­ker werden.

Die Regierung will das Staatsziel „Wirtschaftsstandort“ in die Ver­fas­sung schrei­ben, damit um­welt­schäd­liche Pro­jekte wie die drit­te Piste am Wie­ner Flug­hafen problem­los ge­baut wer­den können. Gegen den Bau demons­trierten aller­dings bloß ein paar hundert Leute. Viel­leicht inter­es­siert das gar nie­manden.
Brand: Degrowth ist ein Minderheitenkonzept, und ein grund­legen­der sozial-öko­lo­gi­scher Um­bau wird heute eher von weni­gen aktiv ge­wollt. Im Gegen­satz zum Kon­zept der Nach­haltig­keit ist es eine Waffe, die nicht zu ver­ein­nahmen ist. Der Be­griff Degrowth ist eine radi­kale Pro­vo­ka­tion. Machen wir es an der drit­ten Piste fest. Da be­deu­tet Degrowth: Wir müs­sen raus aus den Nah­flügen, raus aus einer Logik, dass man schnell mal von Wien nach Berlin fliegt.

Die breite Masse will aber fliegen.
Brand: Ja, da bin ich nicht naiv. Aber die Kritik an der Gesell­schaft kam im­mer von den Rän­dern. Den­ken wir an Zwenten­dorf zurück. Die Men­schen, die ge­gen das Atom­kraft­werk Zwenten­dorf waren, sind an­fangs für ver­rückt er­klärt wor­den. Doch irgend­wann ist die Stim­mung ge­kippt. Und heute gibt es in Öster­reich einen to­ta­len Anti-Atom-Konsens. Das Inter­essante an der drit­ten Piste ist, dass jetzt Wis­sen­schaft­ler, Intellek­tuelle und so­ziale Bewe­gungen – so schwach sie viel­leicht heute noch sind – sagen: Wir müs­sen um­denken. Der Kon­flikt um die drit­te Piste ist hoch auf­ge­laden und re­prä­sen­ta­tiv für die Frage: Welches Ver­kehrs­sys­tem wol­len wir? Er kann da­zu führen, dass wir auf­hören, im­mer nur an Flug­mobi­li­tät zu den­ken, wenn wir in Europa von Mobi­li­tät sprechen. Wenn wir die Gesell­schaft ver­ändern wol­len, brau­chen wir die Provo­kation vom Rand, die guten und nach­ahm­baren Bei­spiele und eine De­batte über ein gu­tes Leben. Ich bin über­zeugt, dass es die­sen Stachel braucht, damit ein Um­denken und dann auch reale Ver­ände­rung ge­lingen.

Derzeit denken die meisten Österreicher in eine andere Richtung. In Salz­burg wurde die Klima­poli­ti­kerin Astrid Rössler nach einem Um­welt-Wahl­kampf ab­ge­wählt. In der Bundes­re­gierung sitzt wie­derum ein Vize­kanzler, der am Klima­wandel zwei­felt. Was kann man da noch tun, damit in der Klima­poli­tik etwas weitergeht?
Brand: Wir brauchen zunächst weitere Initiativen, die Poli­ti­ker da­für kri­ti­sieren, wenn sie den Klima­wandel leug­nen. Außer­dem sind die staat­lichen Appa­rate nicht homo­gen. Im Nach­haltig­keits­minis­terium gibt es eine un­glaub­liche Frus­tra­tion, wie es ak­tuell läuft. Nehmen wir ak­tuell die Klima- und Ener­gie­stra­te­gie: Die ist der­zeit wachs­weich, ohne Ziel­vor­gaben und Finan­zie­rung. Da gibt es auch Kri­tik aus dem Ap­parat. Wir müs­sen schauen, wo die Kräfte sind, die über­haupt etwas in eine sozial-öko­lo­gi­sche Rich­tung ver­ändern könnten und wol­len. Und wir müs­sen über­legen, wie wir sie stär­ken können. Ich kriti­siere des­halb Bundes­prä­si­dent Van der Bellen, weil er seine sym­bo­lische Funk­tion als grüner Bundes­präsi­dent über­haupt nicht wahr­nimmt, um im­mer wieder diesen Stachel zu setzen. Das könnte er. Wenn er auf­tritt, ist er in al­len Medien. Aber er tut nichts. Und wo sind die pro­gres­si­ven Unter­nehmer, die sich für die ÖBB ein­setzen und die Asfinag oder Niki Lauda zu­rück­drän­gen, dessen Flug­linie zu einem Preis­kon­kur­renz­kampf führt?

­ Selbst wenn ein Österreicher extrem ökologisch lebt, hat er noch immer einen größeren Fuß­abdruck als der Durch­schnitts­bürger eines Ent­wicklungs­landes – wir leben auto­ma­tisch über den Ver­hält­nis­sen der Erde. Wie weit muss Degrowth gehen?
Brand: Es geht zunächst ums Umkehren. Mit Karl Polanyi (Anm.: siehe Seite 20) ge­spro­chen: Wir müs­sen die gesell­schafts­poli­tische und intel­lek­tuelle Gegen­be­wegung ge­gen eine im­mer weiter selbst­ver­ständ­liche, igno­rante Natur­ver­nutzung und impe­riale Lebens­weise ein­leiten. Dann sind Lern­pro­zes­se mög­lich, die ich bei eini­gen meiner Stu­die­renden schon sehe: Die wol­len gar kein Auto mehr haben, einige so­gar nicht mehr flie­gen. Sie wol­len ein­fach und gut leben. Das wäre der Hori­zont: Ein wach­sender Teil der Gesell­schaft will diese andere Lebensweise.

Gleichzeitig ist jeder vierte Neuwagen in Österreich heute ein SUV. Was denken Sie sich, wenn Sie einen SUV sehen?
Brand: Für die Stadtentwicklung ist das dramatisch, weil ja immer mehr Platz in An­spruch ge­nommen wird, per­sön­lich fühle ich mich als Radler ge­fährdet. Ich habe mir vor kur­zem zum ersten Mal einen Helm ge­kauft, weil die Autos im­mer brei­ter werden. Als Jugend­licher hatte ich noch Mercedes-Sterne ab­ge­rissen, um gegen Autos zu pro­tes­tieren. Das geht heute nicht mehr. Auf der Ebene der Stadt­ent­wicklung wün­sche ich mir aber, dass es einen Un­mut gibt in Bezug auf SUVs. Die hin­dern auf­grund ihrer Breite im­mer wieder Straßen­bahnen am Weiter­fahren, die Leute müs­sen manch­mal sogar aus­steigen. Es könnte einen posi­ti­ven Kultur­kampf gegen SUVs geben: „Ihr, die ihr euch im­mer sicher be­wegen wollt, schränkt unsere Mobi­li­tät ein, weil ihr euch imm­er fet­ter auf die Bim-Gleise stellt.“ Könnte es nicht heute wieder ein Un­be­hagen in den Städten geben, das dann dazu führt, dass die Städte eigent­lich viel lebens­werter werden, weil es weniger Autos gibt?

Ist es legitim, für dieses Ziel Gewalt anzuwenden wie Mercedes-Sterne abzureißen oder flächendeckend „CO2“ in SUVs zu ritzen, damit weniger Leute SUVs kaufen?
Brand: Ich würde heute keine Mercedes-Sterne mehr abbrechen und auch in kein Auto ritzen. Das war in den 1990ern so eine Wut und ge­schah in einem kultu­rel­len Milieu in Frank­furt oder Berlin, in dem es viele ge­macht haben. Der Pro­test müsste sich in einer kul­tu­rellen Aus­ein­ander­set­zung äußern. Aber viel­leicht ist das Rein­rit­zen ein wüt­en­der Aus­druck von Un­be­hagen – eine be­wusste Sach­be­schä­digung. Eine Ab­wägung derer, die das machen, nach dem Motto: „Das, was ich an deiner Tür be­schä­dige, ist viel weniger, als du die Stadt, das Klima, die Zu­kunft und die Res­sour­cen be­schä­digst.“ Die Be­schä­di­gung könnte zur Dis­kus­sion füh­ren, wel­che Funk­tion SUVs heute in Städten ha­ben, wa­rum es diese ver­rückte Form von Status­konsum gibt. Da hät­ten wir den Stachel wieder. Der Stachel kommt über die Pro­vo­kation. Aber man muss jetzt nicht flächen­deckend SUVs beschädigen.

Die Provokation kommt heute nur von den Rechten, die damit die Themen bestimmen.
Brand: Ja, das ist heute so. Aber das war nicht immer so. Eine Provo­ka­tion kann dazu füh­ren, sich zu ver­stän­digen, was eine hohe Lebens­quali­tät und gute Lebens­weise für alle Men­schen ist. Nicht eine, die andere Men­schen aus­grenzt, die ab­wertet und auf deren Kosten ge­lebt wird. Man könnte so den Rech­ten viel­leicht sogar das Was­ser abgraben.

Benedikt Narodoslawsky in FALTER 18/2018 vom 04.05.2018 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Saturday, July 14, 2018 10:08:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Würde 

Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft

Verlag: Knaus
Preis: € 20,60
von: Gerald Hüther, Uli Hauser
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 192 Seiten
Erscheinungsdatum: 05.03.2018

Rezension aus FALTER 27/2018

Die Würde würdevoll wiederentdeckt

Würde – ein großes Wort scheint in Vergessenheit zu geraten. Der Hirnforscher Gerald Hüther beobachtet einen allgemeinen Verlust an Würde, der freie Menschen zu Getriebenen macht, die sich sodann als Objekte missbrauchen lassen. Was Würde für unsere Spezies bedeutet und wie sie sich wahren oder wiederherstellen lässt, erklärt er in einem schlanken Buch anhand konkreter Fragen.
Gut, dass sich ein Naturwissenschaftler des großen Themas angenommen hat! Denn es gerät schnell in Schieflage – in Richtung Moralin – und birgt gar Ratgeber-Risiko. Dieser Gefahr erliegt Hüther nicht. Er erklärt, wie unsere Vorstellung von Würde im Gehirn verankert ist. Dabei geht es einmal mehr um Neuroplastizität, die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich auch nach der Adoleszenz immer wieder neu zu verdrahten. Von diesem Fundament ausgehend kommt Hüther zu ethischen und psychologischen Fragen: Was ändert das Erkennen der eigenen Würde? Wie können wir einander helfen, uns unserer Würde bewusst zu werden?

Die vom Aussterben bedrohte Grundhaltung ist für Hüther vor allem auch ein gesellschaftliches Thema, von den Menschenrechten, die uns Würde als unantastbares Gut garantieren, bis zur alltäglichen Selbstbestätigung. „Ein Mensch, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, leidet nicht an einem Mangel an Bedeutsamkeit“, befindet er und definiert damit einen klaren Gegenpol zum grassierenden Narzissmus.
Neben Fachpublikationen hat der Autor bereits einen Bestseller vorgelegt: „Jedes Kind ist hochbegabt“ (Knaus, 2012). Bei diesem wie auch beim aktuellen Werk hat ihn Stern-Redakteur Uli Hauser unterstützt. Das macht die Sache flüssig lesbar, doch auch ein wenig glatt. Inhaltlich punktet das Buch mit Präzision und Offenheit.
Hüther seziert mit Sachlichkeit unser neurologisches und genetisches Fundament, erforscht mit Neugier, was Menschen antreibt, und leitet klar ab, was würdevolles Verhalten bedeutet. Dem Hirnforscher gelingt es, das heikle Thema Würde mit Würde zu behandeln.

Andreas Kremla in FALTER 27/2018 vom 06.07.2018 (S. 26)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, July 4, 2018 2:10:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Der Weg zur Prosperität 

Die gängige neoliberale Theorie ist falsch und schädlich.

von Stephan Schulmeister

"Am Ende einer Sackgasse muss man neue Wege suchen." Seit 45 Jahren nehmen Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und Armut zu. Der Sozialstaat wurde geschwächt, Millionen Menschen in Europa leiden Not. Immer mehr erhoffen sich soziale Wärme in der nationalen Volksgemeinschaft. Was hat die herrschende Wirtschaftstheorie damit zu tun? Weshalb vertiefen ihre Empfehlungen die Krise? Wie kommt man aus diesem Teufelskreis heraus? Und wie prägt eine Ideologie, nach der nur die Konkurrenz das ökonomisch Beste ermöglicht, unser Zusammenleben? Der Ökonom Stephan Schulmeister erklärt den "marktreligiösen" Charakter der neoliberalen Theorien und entwirft eine neue "Navigationskarte" für den Weg zur Prosperität in einem gemeinsamen Europa.

Verlag: Ecowin Verlag
Erscheinungsdatum: 24.05.2018
Preis: € 28,00
ISBN: 3711001483, 9783711001481
Länge: 480 Seiten
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Rezension aus FALTER 21/2018

Die Sprengkraft des langsamen Denkens

Die gängige neoliberale Theorie ist falsch und schädlich. Der Ökonom Stephan Schulmeister plädiert für eine moralisch orientierte Wissenschaft

Auf manche Menschen fällt der Lichtkegel des Erfolgs nicht. Sie meiden dieses Licht, weil ihnen bereits der Drang zu dieser Art von Licht suspekt erscheint. Solche Menschen prägen eine Epoche mehr als die meisten denken. Naturgemäß sind sie wenig bekannt, oder unter einem Etikett, das ihrem Wesen nicht entspricht. Die Wahrheit, hofft man, kommt schließlich doch ans Licht.
So ein Mensch ist der Ökonom Stephan Schulmeister. 71 Jahre alt, flott mit dem Motorrad unterwegs, einer Yamaha 500, aber ein Denker der langsamen und vorsichtigen Art. Ein Zweifler. Gern wird er als Querdenker präsentiert. Dabei scheint sein Denken nur kurios, weil er anders denkt als der Mainstream in Politik, Wissenschaft und Journalismus. Fast 40 Jahre hat es gebraucht, bis er seine Erkenntnisse in einem Buch niederlegte. Danach, sagt er, wird er keines mehr schreiben. Jedenfalls kein so fundamentales.
In seinem Buch „Der Weg zur Prosperität“ fasst Stephan Schulmeister seine Forschungen und Erkenntnisse der vergangenen vier Jahrzehnte zusammen und versucht, die einseitig von Ökonomen der neoliberalen, neoklassischen und Chicagoer Schule dominierte Weltsicht zu entzaubern. Diese Sicht ist falsch, schreibt er, mehr noch, sie ist verrückt, sie stürzt Millionen Menschen in die Krise, macht sie arm, und das alles nur, weil ein einziges Erkenntnissystem die Wissenschaft und damit die Politik beherrscht. Eines, das selbst blind ist für die Katastrophen, die es anrichtet.
Wer ist es, der da im Alleingang solche Beweise führt? Der als Einzelner antritt, eine seit fast fünf Jahrzehnten dominierende Denkschule zu stürzen, die heute das Denken von tausenden Universitätslehrern, Millionen Wirtschafstreibenden und vor allem der in der Politik maßgeblichen Personen beherrscht?

Es war einmal eine Zeit, da lief im ORF die Runde der Chefredakteure, und sie bedeutete noch etwas (1955 war es überhaupt die erste Sendung, die im Fernsehen on air ging). Großvater Schulmeister ging mit dem zwölfjährigen Stephan ins Kaffeehaus, denn zu Hause gab es Anfang der 1960er-Jahre keinen Fernseher, zum Fernsehen besuchte man das Casino Zögernitz. Dort sahen die beiden Stephans Vater zu, dem berühmten Otto, dem Chefredakteur der Presse, wie er mit Hugo Portisch (Kurier) und Franz Kreuzer (Arbeiter-Zeitung) diskutierte und nicht selten die Runde dominierte.
Stephan Schulmeister, kann man sagen, ist ein im besten Sinn Bürgerlicher, dem das Bürgertum abhanden kam. Klar war er stolz auf den Vater, sagt er. Bei Schulmeisters ging es großbürgerlich zu, wenn auch nicht immer friedvoll. Vater hielt intellektuell Hof, in seinem Haushalt war Österreich. Otto Mauer, den Domprediger zu St. Stephan, den legendären Galeriengründer und Freund zeitgenössischer Künstler, nennt der Sohn ironisch den „Hausdruiden“. Der junge Wolfgang Schüssel und der junge Heinz Fischer gastierten als hoffnungsvoller politischer Nachwuchs.
Die Familie traf sich vor allem sonntags beim Frühstück, Stephan, seine vier Geschwister und die Eltern. Mit deren Ehe stand es nicht zum Besten, aber der katholische Schein musste gewahrt bleiben; für die Kinder war das nicht leicht. Sonntags wurde mit Leidenschaft gestritten. Aus dieser Schule hat Schulmeister seine Wortgewalt; die Auseinandersetzungen zwischen seinem Vater und Otto Mauer, die oft in Schreiduelle ausuferten, waren lehrreich. Der Friede bekam Risse, als der junge Stephan merkte, dass sein autoritärer Vater eine Nazi-Vergangenheit hatte. Aber er brach nie mit ihm. Auch nicht, als er sich von seinen eigenen Plänen und seinem Weltbild verabschiedete: Politiker hatte er werden wollen, und katholisch war er.

In 1968er-Zeiten wurden viele Pläne geändert, viele Familienverhältnisse komplizierten sich. Die beiden älteren Geschwister waren gefestigt, verheiratet und steckten die Probleme im Haus Schulmeister besser weg. Die jüngeren revoltierten. Schwester Therese ging in die berüchtigte Kommune des später wegen Sexualverbrechen verurteilten Aktionisten Otto Mühl, Stephan, schon in der Schule ein schlimmer Knabe, ging zum Cartellverband; auch das ein Bruch. Ein Schulmeister gehörte nicht zum CV, kamen die Eltern doch aus einer anderen katholischen Ecke, der Neulandbewegung.
Ganz zum Bruch zwischen Eltern und Kindern kam es sowieso nie; der alte Schulmeister besuchte seine Tochter auch in der Kommune, ging mit der Kahlgeschorenen (damals unerhört) einkaufen und verstand sich glänzend mit Otto Mühl, dessen Machenschaften noch wenig durchschaut waren. Stimmt es, dass Mühl Schulmeisters Tochter heiraten wollte, um deren Namen anzunehmen? Stephan lacht. Er kennt das Gerücht, aber es ist nur ein guter Schmäh. Mit einem Körnchen Wahrheit, denn beide Ottos waren autoritäre Typen, „zwei Alphatiere, die sich gut verstanden“.
Mühl malte den Herausgeber der Presse sogar großformatig. Stephan war „aus Neugierde drei-, vier-, fünfmal im Jahr“ bei den Mühls, weil er das Projekt interessant fand und seine Schwester besuchte. Als Ende der 1970er-Jahre die Abschaffung des Privateigentums in der Kommune in dessen Fetischisierung umkippte, erlahmte sein Interesse. Mühl selbst war ihm immer unsympathisch, Stephan „ging immer auch nach Bauchgefühl“, und für die Mutter war Mühl überhaupt der Teufel. „Der war er ja auch. Den Missbrauch und dessen Ausmaß haben wir alle nicht geahnt.“

Ab 1968 klammerte der Sohn im Gespräch mit dem Vater „gewisse Themen wegen Sinnlosigkeit aus“, Vietnam zum Beispiel, wo der Vater in Leitartikeln Bombardements noch 1972 verteidigte. Das verdarb ein ganzes Weihnachtsfest. „Ich glaube, ich habe Schreibtischmörder zu ihm gesagt.“ Chile war ein nächster Bruchpunkt. Stephan Schulmeister mochte Salvador Allende, den sozialistischen Präsidenten Chiles. Als General Pinochet diesen 1973 unter dem Beifall der Kirche wegputschte, trat er aus der Kirche aus. Weder die Mühl-Kommune noch das Post-68er-Milieu der K-Gruppen stellten für ihn eine Versuchung dar. Mit Parteien hatte er nie etwas am Hut.
Auch Priester wollte er nie werden. Von denen sah er zu viele und spürte, da stimmt zwischen Wort und Wahrheit einiges nicht. „Aber ich merke, dass mich eine Person wie Papst Franziskus betört. Da ist eine Resonanz in mir aus Urzeiten. Den finde ich toll.“ Denn damals, 1968, war Stephan von gefestigter katholischer Weltanschauung.
Was brachte die Festung ins Wanken? Ironischerweise der CV. Werner Vogt, der junge Arzt und Publizist, war federführend in der CV-Verbindung Austria. Zusammen mit dem wohlbekannten Journalisten Werner A. Perger und Leuten wie dem Industriemanager Manfred Leeb und dem Historiker Michael Mitterauer waren dort „kritische und unabhängige Geister“ versammelt. Vogt lehrte Schulmeister „den aufrechten Gang“. Es wurde eine Lebensfreundschaft daraus. 2002 initiierten die beiden das Sozialstaatsvolksbegehren, das über 700.000 Unterschriften bekam. Vogt überzeugte Schulmeister, in die Hochschulpolitik zu gehen. Er trat auch der Austria bei, weil er dachte, „wenn die beim CV sind wie der Vogt“, könne auch er dabei sein. Als Vogt aus dem Cartellverband ausgeschlossen wurde, ging Schulmeister mit.

1968 beschlossen ein paar junge bürgerliche Wiener Hochschulpolitiker, darunter Schulmeister, nach Berlin zu fahren und den Studentenführer Rudi Dutschke zu treffen. Der Februar 1968 war kalt, die Windschutzscheibe das Autos barst, die DDR-Grenzer nahmen den Wienern alle Bücher weg. An der TU fand der berühmte Vietnamkongress der Linken statt, mit Dutschke als Hauptfigur. Die Rechten hatte ihn in einen Saal an der FU geladen, um ihn „aufzumachen“.
Schulmeister erinnert sich: „Der Saal war voll mit Kappelträgern und Konservativen. Ich saß in der ersten Reihe und hatte eine negative Grundhaltung Dutschke gegenüber, weil mir die Zeitungen das Bild des Demagogen vermittelt hatten. Er hat mich tief erschüttert. Das Publikum hat ihn verspottet und provoziert. Seine priesterliche Art hat mich sicher auch angesprochen. Er redete langsam, predigthaft, eindringlich. Er ließ sich durch überhaupt nichts aus der Fassung bringen. Er hatte unglaublich viele Argumente. Mir wurde klar, dass ich über Gesellschaftswissenschaften, Philosophie gar nichts weiß. Und das löste einen gewaltigen Zweifelsschub bei mir aus. Ich bin ein Typ, der ganz langsam denkt.“
Nicht, dass Dutschke Schulmeister „umgedreht“ hätte. Langsam denken, schnell studieren. In neun Semestern absolviert er sein Jusstudium und hängt eineinhalb Gerichtsjahre an, „denn das war damals ganz gut bezahlt und zu Hause gab es kein Taschengeld“. Im Hinterkopf hat er die Idee, Armenanwalt zu werden. Die autoritäre Realität österreichischer Gerichte lässt ihn das bald als aussichtslos erscheinen. Das ist schon die zweite Karriere, die er ausschlägt.
Die erste, jene des Politikers, hat er trotz vielversprechender Ausgangsposition als ÖH-Vorsitzender nach dem Rausschmiss der Vogtianer aus der Austria abgehakt. Statt Anwalt zu werden, studiert er nun Ökonomie. Er will die Gesellschaft verstehen. Diesen Floh hat ihm Rudi Dutschke ins Ohr gesetzt. Als Jurist wird ihm eine Staatsprüfung angerechnet, wieder ist er schnell mit dem Studium fertig, noch immer ist er ratlos, was er wirklich machen soll.

Nun, 1972, lehnt er eine dritte Karriere ab, jene als Banker. Er hat eine Freundin und sucht einen Job. Es gibt Angebote von überall. „Als Schulmeister-Sohn hatte ich es sicher ein bisschen leichter.“ Das Geld war bei einem Bankjob attraktiv. Aber jeden Tag Krawatte tragen, das eben abgelegte Zeichen der Unfreiheit? Nein. Er spricht bei Heinz Kienzl vor, dem roten Gewerkschafter und damals Vizepräsidenten der Nationalbank. „Wissen S’ was, Sie gengan jetzt einfach ins Wifo und lernen was, und nach zwei Jahren können Sie was anderes machen“, rät der. Im Wifo lernte man das Handwerkszeug für Karrieren.
Schulmeister kennt Hans Seidel, den Leiter des Wifo, weil der seine Jus-Prüfung in Volkswirtschaft abgenommen hatte. Er fängt an mit Tourismusforschung. Auch interessant, sagt Schulmeister heute, „um die Entfremdung des Menschen zu erforschen“. Schulmeister ist nun „wissenschaftlicher Mitarbeiter des Wifo“, das bleibt er die nächsten Jahrzehnte. Alle späteren ­Wifo-Leiter lassen ihm diese Position. Er hat Carte blanche und eine Mitarbeiterin, solange er Finanzierungen für seine Studien auftreibt. Außerdem lehrt und forscht er in Deutschland, den USA und Österreich.
„Zweifel ist ein interessantes Phänomen“, sagt Schulmeister. Bei ihm sei das „ein ganz langsamer Prozess, wo die Widersprüche wie Spalten in Gemäuern sind, wo sich Wurzeln bilden, die die Spalten auseinanderreißen. Und da es bei mir immer sehr langsam zugeht, habe ich Jahre gebraucht, bis ich mich verabschiedet habe.“ Von Kirche, Glaube, Weltanschauung, Familie und ökonomischem Mainstream.

Ein Zufall hilft. Sein Psychoanalytiker weist ihn auf Ludvik Fleck hin. Der Biologe und Wissenschaftstheoretiker Fleck, dessen Werk erst Anfang der 1980er-Jahre auf Deutsch erschien, fragt: Wie etablieren Wissenschaftler Denkmodelle, deren Konsequenzen sie vor sich selbst verbergen? Wie schaffen sie es, sich als strenge Wissenschaftler darzustellen, obwohl sie Interessen dienen? Und wie funktioniert es, dass sie zu einer Herde werden, in der – gegen alle Evidenz – einer dem anderen folgt, bis eine Hierarchie des Denkens etabliert ist?
Fleck wird sein „theoretischer Lebensbegleiter“. Auch Bertolt Brechts Turandot-Drama und sein Romanfragment über die „Tui“, eine Analyse des Verhaltens von Intellektuellen, die sich instrumentieren lassen und es vor sich selbst verbergen, sind ihm wichtig. Das polit-ökonomische Schlüsselerlebnis wird Lateinamerika. Richard Nixons Abschaffung des Systems fester Wechselkurse und das Verhalten von Devisenhändlern stürzen den Kontinent 1981 in eine Finanzkrise und verursachen Millionen Tote. Staaten hatten sich bei niedrigem Dollarkurs verschuldet und konnten nun bei gestiegenem Kurs die Zinsen ihrer Kredite nicht mehr bedienen.
Die zugehörige Theorie ist Hayeks Neoliberalismus, verschärft durch Milton Friedmans Monetarismus. Der Markt, sagen sie, regelt alles. Dabei berufen sie sich auf den großen Aufklärer Adam Smith, der angeblich dem rationalen Egoismus des Menschen und der unsichtbaren Hand des Markts das Wort redet. Unsinn, ruft Schulmeister empört, gerade Smith ist der Sozialphilosoph eines aus Eigeninteresse mitfühlenden Menschen!
Wie greift man eine als falsch erkannte Theorie an? „Man kann versuchen, innerhalb des Denksystems logische Widersprüche herauszuarbeiten. Dafür bin ich nicht intelligent genug und das haben andere schon gut gemacht.“ Man könne mathematisch ihre Schwachstellen aufzeigen. Linke Ökonomen haben auch das getan. „Mein dritter Weg orientiert sich an Hegels Satz ,Die Wahrheit ist konkret‘ und konfrontiert die Aussagen und die Hypothesen der Theorie mit dem, was ist.“ Eine Art detektivischer Forschung, bei der die Mainstream-Ökonomie die Rolle des Dr. Watson übernimmt, der immer gleich alles weiß, und Schulmeister jene von Sherlock Holmes, der an schnellen Wahrheiten zweifelt, aber am Ende recht behält.

Schulmeister geht langsam vor, studiert Statistiken, Börsenverläufe. Er geht an Börsen in Frankfurt und New York, wo in den 1980er-Jahren die Trader noch gesprächig sind. Der italienische Erdölkonzern ENI finanziert seinen New-York-Besuch; den Italienern war Schulmeister mit einer Studie über den Ölpreiskurs aufgefallen.Er besucht die Wall-Street-Investmentbank Goldman Sachs und bemerkt überall menschliche Motive und Interessen, alles, nur nicht den stets vernünftig handelnden Homo œconomicus, diese Grundfiktion der dominierenden wirtschaftlichen Theorie.
Am Ende findet er Erklärungen, es ist einmal der schwankende Dollarkurs, die Doppelrolle des Dollars als Weltwährung und nationale Währung. Einerseits. Und dann die menschliche Motivation hinter den Bullen- und Bärenmärkten, welche die Kurven der Kurse lang hinauftreiben und dann panisch zum Absturz bringen. Nicht rational handelt der Mensch, sondern beides, emotional und rational.
Schulmeister entdeckt die gigantische Manipulation, die Friedrich Hayek in den 1940er-Jahren in Gang brachte, die Milton Friedman in den 1980er-Jahren fortsetzte und die mit hunderten Millionen Dollar unterstützt wird. „Ich bewundere Hayek ja wirklich“, sagt Schulmeister. Solche Geduld hätten sonst nur Leute vom Schlag Victor Adlers gehabt. „Ein großes Ziel zu verfolgen, die Keynesianer zu vertreiben, aber im Wissen, das kann 30 oder 60 Jahre dauern. Da muss man halt ganz langsam vormarschieren.“ John Maynard Keynes lieferte die Grundlagen zum Wohlfahrtsstaat, Hayek und Friedman jene zur Entfesselung der Finanzmärkte.

Bleibt zu erzählen, wie Schulmeister Publizist wurde. 1994 verlor die SPÖ-ÖVP-Regierung unter Franz Vranitzky und Erhard Busek eine Wahl und beschloss anschließend ein Sparprogramm. Wütend darüber, dass diese scheinvernünftige Maßnahme nach der ökonomischen Mode Jörg Haider in die Hände spielen würde, schrieb Schulmeister einen 24-seitigen Brief an beide. Als er keine Antwort erhielt, schickte er das Papier an Gerfried Sperl, den Chefredakteur des Standard. Der brachte es in vier Teilen, und der Publizist Schulmeister, der bis dahin nur in Fachjournalen publiziert hatte, war auf der Medienbühne. Als Querdenker, als Querulant. Mittlerweile hat er hunderte Artikel und ein Buch geschrieben, hat TV-Auftritte absolviert und fasziniert ein junges Publikum mit messerscharfen Analysen auf seiner Facebook-Seite.
Verstanden wird er bis heute nicht. Die Unternehmer und die Realwirtschaft müssten doch erkennen, dass auch sie die Opfer einer entfesselten Finanzwirtschaft sind, sagt er. In der Politik führt deren Dominanz zum Anstieg von Nationalismus und gefährdet den Zusammenhalt der EU. Der Euro ist nicht das Problem, es ist die Art, in der er verwendet wird. Die Spielanordnung ist falsch, nicht das Spiel.
Es wäre einfach, diese zu reparieren. Statt permanenter, maschinengestützter Spekulation schlägt Schulmeister Auktionen zu fixen Zeiten vor. Und die Finanztransaktionssteuer würde er einführen, natürlich. Die hätte er mit Mitstreitern vor ein paar Jahren politisch beinahe durchgesetzt. Es war eines jener Projekte, mit denen er politisch Gehör fand, bei der Bundesregierung und sogar bei der EU-Kommission. Die Spekulanten wurden beinahe auf dem falschen Fuß erwischt, ehe sie mit von Goldman Sachs und Deutscher Bank abwärts finanzierten „wissenschaftlichen“ Gutachten zurückschlugen und die Steuer doch noch verhinderten.
In solchen Propagandaaktionen sieht Schulmeister das Elend der Intellektuellen bestätigt. Die Notwendigkeit, ihre Meinung zu Markte zu tragen, läuft bei Wissenschaftlern ihrer Pflicht zuwider aufzuklären. „Ich glaube schon, dass ich im Zweifelsfall kein Opportunist bin“, sagt er bescheiden. Typischer Zusatz: „Nicht so sehr wie die meisten.“ Um sich dem Konformitätsdruck nicht auszusetzen, wollte er sich auch nie als Universitätsprofessor habilitieren.

Was ist er denn, der Schulmeister? Ein Heimatloser? „Ja. Das passt irgendwie zu mir. Es zieht sich von meinem Schlimmsein in der Schule bis zu meinem Beruf. Ich bin ein gewordener Außenseiter, habe daher ein Herz für Außenseiter und ich finde, dass man in der Forschung sogar Vorteile hat, wenn man sozusagen im Abseits steht, weil man eine andere Perspektive einnehmen kann. Aber man zahlt einen Preis. Gleichzeitig hat man ja sein Ego und würde gerne anerkannt werden.“
Das große Buch sollte ihm nun endlich diese Anerkennung bringen. Sein Plädoyer für eine moralisch gemäßigte Wirtschaft hat Stephan Schulmeister damit nun vorgelegt. In der langen Schlacht der Intellektuellen hält er recht einsam die Fahne der Menschlichkeit hoch, nicht falsch abstrakt, sondern empirisch, theoretisch und ethisch fundiert. Was könnte man über einen Wissenschaftler Besseres sagen?

Armin Thurnher in FALTER 21/2018 vom 25.05.2018 (S. 10)

Weiters in dieser Rezension besprochen:

Der Weg zur Knechtschaft (Friedrich A. von Hayek)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 23, 2018 5:46:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Die große Gereiztheit 

Wege aus der kollektiven Erregung

von Bernhard Pörksen

Terrorwarnungen, Gerüchte, die Fake-News-Panik, Skandale und Spektakel in Echtzeit – die vernetzte Welt existiert längst in einer Stimmung der Nervosität und Gereiztheit. Bernhard Pörksen analysiert die Erregungsmuster des digitalen Zeitalters und beschreibt das große Geschäft mit der Desinformation. Er führt vor, wie sich unsere Idee von Wahrheit, die Dynamik von Enthüllungen und der Charakter von Debatten verändern. Heute ist jeder zum Sender geworden, der Einfluss etablierter Medien schwindet. In dieser Situation gehört der kluge Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung und sollte in der Schule gelehrt werden. Medienmündigkeit ist zur Existenzfrage der Demokratie geworden.

Verlag: Hanser, Carl
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Preis: € 22,70
Format: eBook
Preis: € 16,99
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

Leseprobe

Rezension aus FALTER 19/2018

Wie entkommen wir der medialen Gereiztheit?

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat ein bemerkenswertes Buch über unsere Kommunikationskrise geschrieben. Er kennt Auswege

Auf den Tübinger Hügeln blühen die Bäume. Die mittelgroße schwäbische Stadt ist seit Zeiten der Aufklärung so etwas wie eine deutsche Geistesmetropole. Hegel, Schelling und Hölderlin studierten am dortigen Stift, der wahnsinnig gewordene Hölderlin verbrachte seine letzten Jahrzehnte in einem gern besichtigten Turm. Hermann Hesse lernte hier Buchhändler, Ernst Bloch und Hans Mayer, Walter Jens und Martin Buber lehrten hier. In Bubers Sommervilla wohnt nun Bernhard Pörksen, allerdings nur zur Miete, wie er dem Gast gleich erklärt.
Der Medienwissenschaftler habe das Buch der Stunde geschrieben, hieß es vor einigen Wochen im Falter. Pörksen legte mit seinem Essay „Die große Gereiztheit“ einen scharfen Schnappschuss der aktuellen menschlichen Verfassung vor. Den Titel seines Buches entnahm er dem Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, der darin die Stimmung vor dem Ersten Weltkrieg schildert.
Pörksen ist aber weit davon entfernt, ein Alarmist zu sein. Im Gegenteil. Er analysiert unseren kommunikativen Zustand schonungslos, aber nicht ohne Hoffnung. Er setzt auf die Utopie einer redaktionellen Gesellschaft, in der Menschen lernen, eingeübte Verfahrensweisen professioneller Kommunikation zu übernehmen: Skepsis, Distanz, Faktenprüfung, Wahrheitswillen. Kurz: Eine allgemeinverbindliche Kommunikationsethik soll uns die gewaltigen Vorteile der digitalen Gesellschaft zugänglich machen, ohne dass wir uns dabei gegenseitig anprangern, vernichten, mobben oder ausbeuten. Er nennt die redaktionelle Gesellschaft ein „Bildungsziel für die digitale Moderne“. Auch heute noch kommen also aus Tübingen Ideen der Aufklärung. Kommende Woche kann man Pörksen persönlich hören, er ist am Dienstag zu Gast bei Peter Huemer im Stadtgespräch von Falter und AK.

Falter: Herr Pörksen, wie würden Sie Ihren Beruf beschreiben?
Bernhard Pörksen: Grenzgänger zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft. Jemand, der sich an der Schnittstelle besonders wohlfühlt. Jemand, der glaubt, dass Wissenschaft, die sich abschottet, schlechte Wissenschaft ist. Jemand, der der Auffassung ist, dass das Reizklima der Öffentlichkeit produktiv auf die Erkenntnis einwirkt, weil man gezwungen wird, verständlich zu sein, anschaulich zu sein, reaktionsfähig und interventionsfähig zu sein.

Was macht ein Medienwissenschaftler den ganzen Tag, wenn er nicht populäre Bücher schreibt?
Pörksen: Medienwissenschaft ist der schönste Beruf, denn Sie müssen nicht zum Frisör, um alles zu lesen, was Sie lesen wollen. Sie haben immer ein Argument, um auch Schund zu konsumieren. Aber ernsthaft: Man liest, man schreibt, man notiert, man exzerpiert und man versucht, Muster zu erkennen. Muster in den Empörungsrhythmen, Muster in der Art der Skandalisierung, Muster in der Form der politischen Inszenierung, Muster in der Kommunikation in sozialen Netzwerken.

Man kann ja nicht alles lesen, sonst hätte man keine Chance, irgendetwas zu tun. Wie gehen Sie vor?
Pörksen: Ich stehe auf und surfe ein bisschen durch das Netz, gucke meistens die Tagesschau vom Vorabend, habe einige Newsletter abonniert, lese dann die Lokalzeitung und blättere durch verschiedene Magazine. Dann lehre ich oder schreibe Vorträge oder Artikel oder vertiefe mich in einzelne Theorien und Ideen, die mönchische Phase. Nachmittags bin ich dann nicht mehr so richtig leistungsfähig, dann werde ich wieder zu jemandem, der auf mäandernde Weise, auf unstrukturiertere Weise liest.

Welche Einflüsse haben Sie geprägt?
Pörksen: Ich war inspiriert durch den Konstruktivismus. Mein erstes Buch habe ich vor 20 Jahren mit dem Wiener Kybernetiker Heinz von Foerster geschrieben, der Ludwig Wittgenstein seinen Nennonkel nannte. Mich hat dieses Nachdenken über unsere Erkenntnismöglichkeiten zunächst vor allem auf neurobiologischer Basis fasziniert. Die ersten zehn Jahre an der Universität habe ich vor allem als stiller Theoretiker gearbeitet.

Und dann?
Pörksen: Dann gab es ein Schlüsselerlebnis, das mir gesagt hat, da draußen passiert gerade eine Medienrevolution, du musst dich auf die Welt einstellen. Ein Student, Hilfskraft in meiner Abteilung, hatte über Pfingsten 2010 Zeit. Er hörte, wie Bundespräsident Horst Köhler aus Afghanistan kommend in einem Radiointerview sagte, wir brauchen eventuell auch Militär zur Sicherung von Handelswegen. Meine Hilfskraft interpretierte das als grundgesetzwidrige Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen, kritisierte die Äußerung entsprechend hart und skandalisierte den Satz bei Nachrichtenagenturen, großen Zeitungen und online. Mit dem Erfolg, dass es einen großen Aufschrei gab. Eine knappe Woche später war Horst Köhler zurückgetreten. Dann tauchten in meiner Abteilung Reporter auf der Suche nach dem Blogger, der den Bundespräsidenten gestürzt habe, auf. Auf dieses Schlüsselerlebnis habe ich zusammen mit meiner Mitarbeiterin mit dem Buch „Der entfesselte Skandal“ reagiert, wo ich versucht habe, eine neue Dynamik der Eskalation, die Evolution der Skandalisierung unter vernetzten Bedingungen, zu beschreiben. Eine neue Form von Agenda-Setting. Das Publikum selbst als Medienmacht, als fünfte Gewalt.

Sie sprechen im Zusammenhang von neuen Komunikationsverhältnissen von „Klimawandel“. Das ist ja doch etwas Beunruhigendes, was viele Menschen verstört.
Pörksen: Wir erleben Unruhe, Gereiztheit, Wut, auch Verstörtsein über die permanente Grenzverletzung im öffentlichen Raum. Und letztlich die Verschlechterung des Kommunikationsklimas.

Wie weit ist das ein Phänomen von
Insidern, Journalisten oder Kommuni­kationswissenschaftlern? Sind Leute im Vorstadtzug davon ebenfalls betroffen oder schauen die auf Facebook eh nur die Bilder ihrer Freunde und Familien an?
Pörksen: Ich glaube nicht, dass das Nachdenken über das Kommunikationsklima ein Filter-Blasen-Phänomen ist. Wir wissen aus Befragungen, dass bis zu 40 Prozent der Menschen online Belästigungen erfahren haben. Die meisten Menschen kennen jemanden, der online attackiert wurde, online gemobbt wurde. Wir wissen von in der ganzen Schule verbreiteten Bildern, die Jugendliche einander zuschicken und die einen Einzelnen auf entsetzliche Weise blamieren. Die Veränderung des Kommunikationsklimas ist für alle spürbar und erlebbar geworden.

Was wirklich passiert, wenn man auf Facebook ist, dass man nämlich mit seinen eigenen Daten oder eigentlich mit seinem Leben bezahlt, das ist den meisten aber nicht klar.
Pörksen: Nein, es ist ihnen nicht klar, dass es Algorithmen gibt, die im Hintergrund Informationsströme manipulieren, dass eine scheinbar neutrale Plattform ein redaktionelles Programm hat, dass eine massive publizistische Machtverschiebung stattfindet. Dass der klassische Journalismus auf dramatische Weise schwächer wird und Qualität nicht mehr refinanzieren kann. Dass Facebook im Jahr 2017 40 Milliarden Dollar Werbeeinnahmen hatte – alle deutschen Medien zusammen kommen nicht auf die Hälfte dieser Werbeeinnahmen. Das ist den meisten Menschen nicht klar. Es ist eine große, noch unverstandene Bildungsherausforderung, die in der gegenwärtigen Situation der mentalen Pubertät im Umgang mit diesen neuen Medienmöglichkeiten steckt. Wir sind selbst medienmächtig geworden, aber noch nicht medienmündig.

Wir haben jetzt über Facebook gesprochen. Kann man die digitale Wende mit Social Media gleichsetzen oder ist das eine Vereinfachung?
Pörksen: Ich würde es nicht gleichsetzen. Für mich sind das Entscheidende drei Prozesse. Der erste Prozess ist die Digitalisierung. Materialien, Dokumente, Daten bekommen eine ganz neue Leichtigkeit und Beweglichkeit. Die Materialität des Buches ist schwer, behäbig, begrenzt die eigene Verbreitung. Der zweite Prozess ist die Vernetzung. Die Möglichkeit, mit Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt auf eine leichte Weise in Interaktion zu treten. Und der dritte Prozess ist, dass wir alle kleine Sendestationen in Gestalt von Smartphones mit uns herumtragen. Das ist die publizistische Selbstermächtigung des Publikums. Wir haben alle die Instrumente, um uns barrierefrei zuzuschalten und Materialien, Dokumente, Daten aller Art auf barrierefreie Weise zu verbreiten.

Dadurch ergibt sich ein Problem, das wir mit den klassischen Medien nicht hatten: Keiner weiß mehr genau, ob das, was ich sehe, auch das ist, was der andere sieht. Ich kann nicht davon ausgehen, dass wir den selben Informationsstand in irgendetwas haben.
Pörksen: Es gibt einen sanften Paternalismus der Zeitung. Das Motto: Egal, ob es dich interessiert, wir zeigen dir trotzdem, dass wir dieses Theaterstück im Kulturbereich für relevant halten. Selbst wenn man den Wirtschaftsteil wegwirft, aus den Augenwinkeln wird man ja doch noch darüber informiert, dass es da etwas anderes gibt. Das ist das verborgene Pathos der gebündelten Form. Man wird irritiert mit Informationen, die man nicht gesucht hat. Bei digitalen Medien haben wir eine Informationswelt, die der Bestätigungssehnsucht des Menschen, dem Bedürfnis danach, Bestätigung zu finden, die eigenen Urteile und Vorurteile einfach belegt zu finden, sehr, sehr weit entgegenkommt.

Ein Mensch, der von Facebook nach seinen Vorlieben versorgt wird, hat sicher den Eindruck, alle kriegen das Gleiche wie er. Nur stimmt das nicht. Der Leitartikel in der Zeitung ist für alle der gleiche. Aber das Äquivalent auf Facebook wäre unter Umständen nicht das gleiche.
Pörksen: Ja. Aber ich halte das Phänomen der Filterblase für überschätzt. Weil wir durch unterschiedlichste Informationswelten surfen, ist jeder Link ein Ticket in ein anderes Universum. Einmal bin ich bei Herrn Kurz auf der Facebook-Präsenz und hüpfe wieder zu Herrn Wolf und von dort aus zu Herrn Strache. Oder auf irgendein Reise- oder Newsportal. Weiters sehen wir inzwischen an den empirischen Untersuchungen, die Informationsheterogenität ist sehr viel größer als gedacht. Ich beschreibe in meinem Buch die Möglichkeit der Selbstabschottung. Die ist aber sehr viel stärker getrieben von unserer allgemeinen menschlichen Bestätigungssehnsucht, weniger durch die Algorithmen. Diese Selbstabschottung trifft auf die gleichzeitige Sofortkonfrontation mit immer anderen Ansichten. Meine These ist: Das erzeugt diese Stimmung der Gereiztheit, der Anstrengung.

Eine permanente Überforderung.
Pörksen: Ja. Man kann für die eigenen Urteile und Vorurteile sofort Bestätigung finden und ist doch immer nur einen Klick entfernt von der Vorstellung der anderen. Wenn Sekten extremistisch werden, wechseln sie in ein geschlossenes Tal, kreieren eine eigene, von Monotonie und Totalkontrolle regierte Informationsökologie. Jim Jones ging in den Dschungel, Bhagwan in ein Tal in Oregon, Otto Mühl kaufte sich ein einsames Tal auf La Gomera … Wenn wir bei der Analogie des einsamen Tals bleiben: Sie können sich heute in Ihr Tal mit lauter Gleichgesinnten zurückziehen. Aber dieses Tal ist stets belagert. Sie wissen, nur einen Sprung, nur einen Link, nur einen Klick entfernt beginnt wieder ein anderes Tal. Auch der Fundamentalist weiß heute, er ist nicht mehr alleine. Und das erzeugt eine eigene Art von Dissonanz oder Differenzkoller, Wut und Gereiztheit.

Ein von der amerikanischen Alt-Right Infizierter trüge gleichzeitig auch das Bewusstsein mit sich herum, dass er nicht ganz richtig liegt?
Pörksen: Dass alles, was er sagt, von seinen Gegnern sofort diskreditiert wird. Ich würde nicht sagen, er geht so weit zu sagen, „ich liege nicht ganz richtig“. Aber sein Rückzug in den Behaglichkeitskosmos eines unangefochtenen Selbstverständnisses ist nicht mehr möglich. Der Filter-Clash ist unvermeidlich.

Umso vehementer muss er sich verteidigen.
Pörksen: Ja genau. Ein Großteil der Kommunikation ist heute immer auch Metakommunikation, ist Auseinandersetzung mit Kritik, ist Zurückweisung von Kritik, ist Vorwegnahme von Kritik. Viele der Phänomene, die uns erschrecken, lassen sich auch als Abwehr- und Notwehrbewegungen gegen die Sofortkonfrontation mit immer anderen Ansichten lesen. Verschwörungstheorien sind eine Möglichkeit, die Position eines anderen blitzschnell zu entwerten. Die Political-Correctness-Debatte ist eine Möglichkeit, blitzschnell zu sagen, ich brauche euch gar nicht zuzuhören, ihr werdet eh nur versuchen, mich auf diese verkniffene, moralisierende Weise zu diskreditieren.

Wieso lassen sich Leute von Propaganda so leicht instrumentalisieren?
Pörksen: Wegen des massiven Vertrauensverlusts in die Institutionen der Politik und der klassischen, etablierten Medien. Wenn das Misstrauen so groß ist, dann verlieren sie ihren Kompass. Dann wird alles auf eine seltsame Art und Weise gleichgewichtig und dann können sie alles glauben. Dann haben sie keine innere Haltung mehr, um jemanden mit der nötigen Schärfe und Energie als Propagandisten zu entlarven.

Wie weit sind die klassischen Medien selber schuld an ihrem Bedeutungsverlust?
Pörksen: In Deutschland haben wir doch nach wie vor gute Zeitungen, interessante, vielfältige Medien. Das heißt nicht, dass die nicht auch Fehler machen, Grenzüberschreitungen begehen, Kritik verdienen. Aber sie werden gebeutelt von einem fatalen Zusammenspiel von Refinanzierungskrise und Vertrauenskrise. Das ist ja die ungelöste Ein-Millionen-Euro-Frage. Wie kann man Qualität refinanzieren? Mit Dreck können Sie sehr viel Geld verdienen. Aber eben nicht mit Qualität, die ist teuer in der Produktion. Es ist fatal: Die Solidarität schwindet in einem Moment, in dem man eigentlich den Pakt zwischen Publikum und klassischem Journalismus neu begründen müsste, vielleicht weniger asymmetrisch, dialogischer.

Sie versuchen, die digitale Wende immer sehr hoffnungsvoll zu schildern …
Pörksen: Ich bin ein Bildungsoptimist! (Lacht.)

… aber stehen nicht die Verfahrensweisen der repräsentativen Demokratie jetzt durch diese mediale Wende zur Disposition?
Pörksen: Welche Verfahrensweisen meinen Sie?
Dass, wie der Philosoph Jürgen Habermas etwa sagte, durch eine qualifizierte Öffentlichkeit von Qualitätszeitungen und öffentlich-rechtlichen Medien über die Meinungsbildung von informierten Eliten noch ein demokratischer Konsens hergestellt wird. In Ihrem Buch beschreiben Sie Punkt für Punkt, wie dieser Vorgang aufgelöst wird.
Pörksen: Ja. Wie Wahrheit zersetzt, Autorität pulverisiert, der Diskurs durch den Extremismus ruiniert wird und die Reputation jedes Einzelnen angreifbar wird. Für die Zukunft kann ich meine prinzipielle Position nur als Hoffnung oder Haltung formulieren. Nämlich: Ich glaube, wir sind in einer Übergangsphase der Medienevolution. Ich halte den Menschen für ein ungeheuer erfindungsreiches und fähiges Wesen. Wir werden neue Filter und Zivilisierungs- und Mäßigungsinstrumente entwickeln. Das Jetzige ist eine Phase der mentalen Pubertät, das ist ein Um-sich-Schlagen, ein Exzess an Geschwindigkeit, ein Rausch der Nervosität, eine Veränderungspanik, die uns untergründig erfasst hat. Ich glaube, man muss über Zivilisierungstechniken neu nachdenken. In der gigantischen Öffnung des kommunikativen Raums ist jeder zum Sender geworden. Aber nicht jeder vermag mit diesem Zuwachs an kommunikativer Freiheit publizistisch verantwortlich umzugehen. Das ist eine Bildungsaufgabe. Und: Wir müssen aufpassen, dass wir als Kultur- und Gesellschaftsdiagnostiker nicht demokratisches Bewusstsein vorschnell verloren geben. In diesem Sinne ist mein Bildungsoptimismus vielleicht dem Vorwurf einer gewissen Naivität ausgesetzt. Aber es scheint mir im Zweifel der bessere Glaube. Selbst, wenn es ein Irrglaube ist!

Aufklärung ist der bessere Glaube?
Pörksen: Ja, denn dann behalten Sie das Ideal von Mündigkeit, dann behalten Sie das Vertrauen in den anderen Menschen, die Basis des demokratischen Zusammenlebens. Wir müssen an die Idee der Mündigkeit glauben. Selbst wenn sie sich eines Tages als Fiktion erweisen sollte.

Ich dachte, Sie sind ein Systemtheoretiker, der Soziologe Niklas Luhmann, ein Widerpart von Habermas, hat Sie beeinflusst. Aber am Ende wird es doch wieder diskursethisch. Das ist ja ein Habermas’scher Appell: Lass uns doch über Schulen und Selbstreflexion zu einer Übereinstimmung im Dialog kommen!
Pörksen: Ich glaube ernsthaft, dass die Entwicklung ambivalent ist. Ich laufe mehrfach täglich zwischen der Position der Euphoriker, die begeistert sind über die neuen Möglichkeiten, und der Position der Apokalyptiker hin und her. Ich leide unter der Kloake aus Hass und Propaganda, aber ich freue mich über den ungeheuren Informationsreichtum, das Geschenk des Informationsreichtums, die barrierefreie Interaktion, die kostengünstige Information, die blitzschnelle Kommunikation. Ich freue mich darüber! Und zwar ernsthaft. Und ich profitiere als Wissenschaftler täglich davon. Für mich sind all die Krisenphänomene, die ich zu beschreiben versuche, doppelgesichtig. Die Wahrheitskrise, die Autoritäts- und Reputations- und Diskurskrise. Großartig, dass wir uns von der Diktatur der Monopolperspektive verabschieden und so viele Wahrheiten kennenlernen können. Schrecklich das Maß an Überforderung, schrecklich das Maß an Propaganda. Großartig, dass auf einmal jeder mitsprechen kann und dass sich Diskursverhältnisse in diesem Sinne neu sortieren und das alte hierarchische Modell der Belehrung zu seinem Ende gekommen ist. Schrecklich, wie Menschen diese neue kommunikative Freiheit nutzen. So kann man fast alles durchgehen. Auch furchtbar, wie Politiker, Mitglieder der sogenannten Elite, Prominente attackiert werden. Großartig, in welcher Geschwindigkeit man heute Öffentlichkeit schaffen kann, wenn sich illegitime Formen der Machtausübung zeigen. Ein Missbrauchsideologe wie Otto Mühl, der so doof war, die zur Kunst überhöhte Grenzüberschreitung in seinem Spießerprojekt am Friedrichshof filmisch zu dokumentieren, wäre heute nicht mehr möglich. Das ginge heute genau vier Wochen, dann würde das erste Handyvideo auftauchen. Und dann wäre die Polizei vor Ort.

Sie adressieren mit Ihrem Vorschlag eines redaktionellen, in Schulen vermittelten Bewusstseins zumindest indirekt die Politik.
Pörksen: Vollkommen erfolglos übrigens. Wir haben hier eine Digitalministerin, die von Flugtaxis schwärmt und die Digitalpolitik als Industriepolitik missversteht und nicht als Gesellschaftspolitik begreift. Es gibt in der deutschen Politik eine systematische Weigerung, die anstehende Wertedebatte zu führen.

Glauben Sie, dass öffentlich-rechtliche Social Media eine Alternative wären?
Pörksen: Ich glaube, dass wir den öffentlich-rechtlichen Gedanken sehr viel breiter verstehen müssen. Demokratie braucht eine Informationsinfrastruktur, die davon ausgeht, dass seriöse, unabhängige Berichterstattung systemrelevant ist. Mich stört an der Debatte über die Öffentlich-Rechtlichen – die ich schätze und die ich für wichtig halte und deren Diskreditierung absurde Züge angenommen hat – die Verengung auf eine Perspektive. Die klassische Zeitungswelt bräuchte ebenfalls eine gesellschaftliche Lobby. Ich ringe da um Begriffe. Wir brauchen so etwas wie informationelle Solidarität oder qualitätsbezogene Solidarität in einem sehr viel umfassenderen Maße. Wir müssen grundsätzlich darüber reden, wie kann jene Informationsinfrastruktur, welche die Demokratie braucht, erhalten bleiben? Die Öffentlich-Rechtlichen sind da sicher eine Ausformung, aber genauso wichtig ist die Zeitungsöffentlichkeit als Debattenöffentlichkeit. Die großen Debatten der Bundesrepublik sind Zeitungsdebatten gewesen. Den intellektuellen Fokus, wie Habermas sagen würde, den haben die Zeitungen hergestellt.

Man hat Ihre Idee eines redaktionellen Bewusstseins romantisch genannt, weil unsere Demokratie nur mehr die Simulation von Demokratie sei.
Pörksen: Dem kann ich nur unfreundlich entgegnen: Ich halte die leichtfertige Beschwörung des Untergangs der Demokratie – als sei ihr Schicksal besiegelt – für eine Form der Apokalypsegeilheit. Man will dann nicht kämpfen, nicht streiten. Und ich würde hinzufügen: Wir haben doch die Bildungsherausforderung der gegenwärtigen medialen Situation noch gar nicht erkannt und dechiffriert. Und dann sagen Leute, das geht nicht und das kann gar nicht funktionieren. Ja, ich bin auch pessimistisch, was ein eigenes Schulfach angeht in einer föderalistisch zersplitterten Bundesrepublik. Das wird lange dauern. Aber ich glaube doch sehr viel hartnäckiger an die ungeheure Lernfähigkeit von Gesellschaften und Menschen.

Armin Thurnher in FALTER 19/2018 vom 11.05.2018 (S. 27)

 

Rezension aus FALTER 11/2018

Unterwegs zur Empörungsdemokratie

Debattenkultur: Zwei Bücher plädieren für eine neue Streitkultur und mehr Medienkompetenz für alle

Das Wichtigste ist nicht, was passiert, sondern wie darüber geredet ist. Das Wirkmächtigste ist nicht, was wahr ist, sondern die Interpretation davon. Und die entsteht immer öfter in der Hitze eines Gefechts als in Ruhe, immer mehr auf der Grundlage von Emotionen als von Argumenten. Die Debattenkultur, Grundlage des Vertrauens in einer Demokratie, verkommt – so lautet die Diagnose zweier Bücher, die sich diesem Thema auf unterschiedliche Weise nähern. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beleuchtet in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ die Entwicklung der Öffentlichkeit zur Emotionsindustrie und macht in der vernetzten Welt einen Brandbeschleuniger aus. Die ORF-Journalistin Susanne Schnabl kommt von der anderen Seite, jener der Medien, und fordert in ihrem Buch „Wir müssen reden“ eine neue Streitkultur ein.

Erregung statt Aufklärung
Eine Gesellschaft ist immer nur so klug wie der Diskurs, den sie gerade führt. Gemessen an dieser Weisheit, mit der Susanne ­Schnabl ihre Streitschrift für das Streiten beginnt, haben wir noch Luft nach oben. Denn die gesellschaftliche Debatte, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, ist laut, eng und gehässig geworden, lautet ihre Diagnose, dominiert von einer Dauerempörung. Die einfachste Grundregel der Kommunikation wird dabei ignoriert: „Das Argument des anderen zuerst einmal anhören, bevor man mit Meinung und Urteil schon zur Stelle ist.“ An die Stelle von Argumenten ist eine ritualisierte Erregung getreten. Das Gute dabei: Es wird wieder politisiert. Leider nicht miteinander, sondern in getrennten Räumen. Die ­Debatte trägt Scheuklappen, ist gefangen in ­Milieus, die neuerdings gerne Filterblasen genannt werden, und tendiert zur Selbstgerechtigkeit. Ein amerikanischer Präsident vom Kaliber Donald Trumps trägt zur ­Kontaminierung des Klimas mit Rüpelhaftigkeit und dem Primat von Ego-Agenden bei. Die ­Frage, um die es eigentlich geht – jene, wie wir leben wollen –, gerät dabei aus dem Blickfeld.
Da Schnabl als Moderatorin des Magazins „Report“ Teil des öffentlichen Diskurses ist, nimmt sie sich zuerst einmal selbst an der Nase und sucht das Gespräch mit einer Frau, die nicht nur andere Meinungen vertritt, sondern auch einem anderen ­Milieu angehört. Im 21. Wiener Gemeindebezirk wohnt Frau T., Inhaberin eines Nagelstudios. Ihr Facebook-Profil liest sich wie das einer typischen Wutbürgerin mit Hass auf „die“ Flüchtlinge und „die da oben“. Sie hat Schnabl mit dem Kampfbegriff „Lügenpresse“ bombardiert, deren Anfragen zu einem Gespräch aber nicht wie viele andere ignoriert. Auch weil sie erstaunt war, dass ihre Nachrichten überhaupt gelesen wurden.
Jetzt, einem realen Menschen gegenübersitzend, scheint sie schon weniger zornig. Und aus dem Vorwurf, man dürfe ja nicht mehr sagen, was man denke, wird die Anklage: „Aber mir, uns hier, hört ja niemand zu!“ Trotzdem postet Frau T. auf ihrem ­Facebook-Account mittlerweile nur noch Werbung für ihr Geschäft. Und antwortet auf die Erhitzung der gesellschaftlichen Debatte mit Rückzug. „Die Annahme, die Kommunikation werde durch die sozialen Medien offener, hat sich als Illusion herausgestellt“, folgert Schnabl.

Für eine neue Streitkultur
Wie konnte es passieren, dass eine der Säulen der Gesellschaft, der unabhängige Journalismus, derart in Verruf geriet? Und eine Debattenkultur zur Skandalmaschine verkam? Schnabl sieht die Ursachen nicht nur in der Zweiten Republik, die als „Konsensdemokratie“ konzipiert war, in der wichtige Themen in Hinterzimmern verhandelt wurden und die deswegen keine Streitkultur entwickeln konnte, sondern auch in einer zunehmenden Polarisierung sowie einem neuen Tugendterror, in dem fast alle Lebenslagen mit Moral aufgeladen werden und zwischen Weiß und Schwarz, Gut und Böse kein Platz mehr ist, sowie einer neuen Überempfindlichkeit, die zu einer Infantilisierung des Diskurses führt.
Eine Gesellschaft, in der die Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen aus Angst vor der Reaktion nicht mehr miteinander reden, könne nicht die Lösung sein, meint Schnabl und plädiert für eine neue Streitkultur. Denn die „Kulturtechnik des Streitens“ könne und müsse man ebenso erlernen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Demokratie bedeutet institutionalisierter Streit. Wie kann man den Streit rehabilitieren, wie funktioniert echter Streit? Leidenschaftlich, aber höflich, fair, aber hart in der Sache, meint Schnabl. Dabei gelte es, Dampf aus dem Druckkessel des „Sofortismus“ abzulassen. Manchmal kommt die Wahrheit erst später zutage, und die drängenden Themen der Jetztzeit – Globalisierung, Klimawandel und Zuwanderung – erlauben per se keine schnellen und einfachen Antworten. Schnabl erwähnt als Vorbilder Debattierklubs im angloamerikanischen Raum oder die TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix, in der der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild Nikolaus Blome und der Herausgeber der linken Zeitung Freitag Jakob Augstein ihre argumentativen Messer wetzen. „Am Ende ist man meistens klüger, hat neue Begründungen gehört, bestenfalls eine andere, zusätzliche Perspektive und wurde dabei auch noch gut unterhalten.“ Ein Buch als Appell, flott geschrieben, manchmal flapsig, immer wieder redundant, aber ein Auftakt, den man nicht unbeantwortet verhallen lassen sollte.

Mediengeschichtliche Zäsur
Der Medientheoretiker Bernhard Pörksen kommt zu einem ähnlichen Befund: Das „große gesellschaftliche Gespräch“ drohe in sinnlosen Attacken und bösartigem Gerede zu versinken, und eine zunehmende Diskursanarchie durch den Verlust zivilisierter Filter erzeuge Angst. Die Ursache der immer schnelleren Eskalation von Konflikten und Skandalen und der daraus folgenden Beunruhigung macht Pörksen in den neuen Medien aus. Smartphone, Facebook und Twitter haben eine mediengeschichtliche Zäsur eingeläutet, meint Pörksen, die nicht nur das Kommunikationsklima der Gesellschaft elementar verändert hat, sondern auch den Charakter der Öffentlichkeit beeinflusst, denn sie schließen privates und öffentliches Bewusstsein kurz. Dadurch entsteht eine nie gekannte Dynamik und Dramatik der Enthüllungen, eine rauschhafte Nervosität, die nicht nur Unsicherheit generiert, sondern immer öfter auch in Gewalt endet, obwohl die Erregung oft auf Gerüchten oder Falschmeldungen basiert.
Pörksen exemplifiziert seine Thesen von Anfang an mit anschaulichen Beispielen. Etwa jenem der 13-jährigen Lisa, die am 12. Januar 2016 nachts nicht nach Hause kam und ihre Mutter am nächsten Tag anlog, von südländisch aussehenden Männern vergewaltigt worden zu sein. Bereits einen Tag später tauchten wütende Russen vor einem Flüchtlingsheim auf, Fenster splitterten und ein Sicherheitsmann wurde verletzt. Einer der beliebtesten russischen Fernsehsender berichtete, dass es in Deutschland eine neue Ordnung gebe, und auf einer Veranstaltung der NPD wurde die Todesstrafe für Kinderschänder gefordert. Am 26. Januar, 14 Tage später, warf der russische Außenminister Sergej Lawrow den deutschen Behörden vor, das Verbrechen aus Gründen politischer Korrektheit nicht angemessen zu verfolgen. „Die große Gereiztheit hat nun das Parkett der internationalen Diplomatie erreicht.“ In anderen Fällen, wie jenem des jungen Mannes, der im Juli 2010 in einer Mini-Gemeinde in Florida einen Pastor dabei filmte, wie er dafür eintrat, einen Koran zu verbrennen, führte eine wenig bedeutende Nachricht, die durch soziale Medien globale Verbreitung fand, auch schon zu Dutzenden Toten.

Fünf Krisendiagnosen
Die öffentliche Debatte ist in der Krise. Pörksen macht das an fünf Diagnosen fest. Erstens der Wahrheitskrise: In Zeiten von Fake News und gekonnten Bild- und Videomanipulationen können Realität und Propaganda immer schwerer auseinandergehalten werden. Denn vom Twitter-Poster über den Wikipedia-Mitarbeiter bis zu den Geheimdiensten wird die „große Schlacht um die richtige Auffassung“ oft mit ­falschen Informationen betrieben. Und die neue ­Schnelligkeit der Urteile verbessert ­zumeist nicht ihre Richtigkeit, sondern führt zu einer neuen Ungeduld, zu einer „Unaushaltbarkeit der Ungewissheit“ und „Tabuisierung der Ratlosigkeit“.
Die Diskurskrise bedeutet zweitens eine Gesellschaft auf dem Weg von der Medien- zur Empörungsdemokratie, der ungebremsten Herrschaft der „fünften Gewalt der vernetzten Vielen“: der Verschwörungstheoretiker, rechtsradikalen Agitatoren, aber auch der Hypermoralisierten, die Protestgemeinschaften bilden. Sie verändern als „Publikative eigenen Rechts“ die neben Exekutive, Judikative und Legislative vierte Gewalt des traditionellen Journalismus, können aber selbst kaum zur Rechenschaft gezogen werden. In der Autoritätskrise werden drittens Vorbilder und Mächtige via Skandalen abmontiert und reagieren darauf zumeist mit ängstlicher Anpassung oder – wie im Falle von Donald Trump – mit höhnischer Ignoranz. In der Behaglichkeitskrise geht viertens die Sehnsucht nach Ruhe verloren: Noch nie waren die Schrecken der Welt so unmittelbar und pausenlos sichtbar. Ihre Dauerpräsenz via Fernseher und Smartphone erzeugt Empörung und das Gefühl von Ohnmacht. Vor ihnen gibt es keine Flucht mehr. Und der Begriff der Reputationskrise beleuchtet zuletzt die Tatsache, dass Ansehen im digitalen Zeitalter per se zum gefährdeten Gut geworden ist, unabhängig von Macht und Prominenz.

Die redaktionelle Gesellschaft
Das Problem besteht darin, dass die ­neuen Herausforderungen zugleich technischer und sozialer Natur sind, bestehend aus Geräten – Smartphones mit ­Videofunktion –, dem Aufstieg von Plattform-Monopolisten und einem Vertrauensverlust in Journalisten. „Wir leben in einer Phase der ­mentalen Pubertät im Umgang mit neuen Möglichkeiten, erschüttert von Wachstumsschmerzen der Medienrevolution“, ­konstatiert Pörksen. Da sich diese Entwicklungen schwerlich rückgängig machen ließen, bleibe uns nichts anderes übrig, als mit den neuen Gegebenheiten besser umgehen zu lernen.
Sein Konzept dafür, das er mit diesem Buch vorlegt, sieht für die klassischen Medien einen stärker dialogisch ausgerichteten Journalismus vor, der vom Prediger und Pädagogen zum Zuhörer, Moderator und Diskurspartner wird – einen Weg, den Susanne Schnabl bereits zu gehen versucht. Sowie das Beharren auf der Relevanz von Informationen entgegen dem neuen Primat der Interessantheit von Plattformen wie ­Buzzfeed.com oder heftig.de.
Aber heute ist via Smartphone, Facebook und Twitter jeder Journalist – und trägt deswegen Mitverantwortung für die Qualität der öffentlichen Debatte. Daraus folgt, dass jeder Einzelne das Rüstzeug zu verantwortungsvollen und reflektierten Publikationsentscheidungen braucht. Diesem „Ideal der Medienmündigkeit“, einer „Utopie der redaktionellen Gesellschaft“, komme man nur durch ein konsequentes Bildungsangebot näher, insistiert Pörksen, dadurch, dass journalistische Fähigkeiten „zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos“ werden.
Mediengeschichte und -praxis, Machtanalyse und angewandte Irrtumswissenschaften, die ein „Wertegerüst des öffentlichen Sprechens“ bilden, bestehend aus den Prinzipien Wahrheitsorientierung, Skepsis, Proportionalität, Ethik und Transparenz, gehören für Pörksen dazu, am besten unterrichtet in einem eigenen Schulfach. Das klingt plausibel. Und Pörksen wäre mit seiner Fähigkeit zur anschaulichen Darstellung und Synthese bestens geeignet, dafür das Unterrichtsmaterial vorzulegen. Damit bekäme ein Journalismus neuer Prägung die Chance, zu einer allgemeinen Kulturtechnik oder gar zu einem Bewusstseinszustand zu werden.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 30)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 9, 2018 10:59:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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How Democracies Die 

“Cool and persuasive comes at exactly the right moment.” — The Washington Post

by Steven Levitsky and Daniel Ziblatt

Donald Trump’s presidency has raised a question that many of us never thought we’d be asking: Is our democracy in danger? Harvard professors Steven Levitsky and Daniel Ziblatt have spent more than twenty years studying the breakdown of democracies in Europe and Latin America, and they believe the answer is yes. Democracy no longer ends with a bang—in a revolution or military coup—but with a whimper: the slow, steady weakening of critical institutions, such as the judiciary and the press, and the gradual erosion of long-standing political norms. The good news is that there are several exit ramps on the road to authoritarianism. The bad news is that, by electing Trump, we have already passed the first one.

Drawing on decades of research and a wide range of historical and global examples, from 1930s Europe to contemporary Hungary, Turkey, and Venezuela, to the American South during Jim Crow, Levitsky and Ziblatt show how democracies die—and how ours can be saved.

Editorial Reviews

Review

A NEW YORK TIMES BOOK REVIEW   EDITORS' CHOICE

“Levitsky and Ziblatt show how democracies have collapsed elsewhere—not just through violent coups, but more commonly (and insidiously) through a gradual slide into authoritarianism.... How Democracies Die is a lucid and essential guide to what can happen here.”
New York Times

“We’re already awash in public indignation—what we desperately need is a sober, dispassionate look at the current state of affairs. Steven Levitsky and Daniel Ziblatt, two of the most respected scholars in the field of democracy studies, offer just that.” 
The Washington Post

“Where Levitsky and Ziblatt make their mark is in weaving together political science and historical analysis of both domestic and international democratic crises; in doing so, they expand the conversation beyond Trump and before him, to other countries and to the deep structure of American democracy and politics.”
Ezra Klein, Vox

“The political-science text in vogue this winter is How Democracies Die.”
—The New Yorker

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 28, 2018 8:56:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Mitteleuropa revisited 

Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird

von Emil Brix, Erhard Busek

Heute existieren zwei große Ansichten zu Mitteleuropa. Für die einen ist es die größte europäische Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte, weil eine friedliche vollständige Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft und die Eingliederung in die westeuropäischen Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen gelungen sind. Für die anderen ist Mitteleuropa zu einer fragmentierten und teilweise marginalisierten Region geworden, aus der keine Vorschläge für Europas Zukunft kommen, die sich in der Migrationskrise unsolidarisch verhält und in der politische Stabilität nur um den Preis starker nationalpopulistischer Politik zu erreichen ist. 1986 veröffentlichten Erhard Busek und Emil Brix das Buch „Projekt Mitteleuropa“, das eine verbindende, grenzüberschreitende Utopie in einer Welt der feindseligen Extremismen präsentierte. Für viele Dissidenten in Ostmitteleuropa war diese Idee eine Chiffre der Hoffnung gegen das von Moskau gelenkte System, bis 1989 der Eiserne Vorhang fiel. Es scheint, dass Europa heute ein neues Nachdenken über Mitteleuropa braucht, um zu sich und zur Vernunft zu kommen.

Preis: € 24,00
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 224 Seiten
Erscheinungsdatum: 05.03.2018


Rezension aus FALTER 13/2018

Mitteleuropa, revisited?

Vor mehr als 30 Jahren haben Emil Brix, der Diplomat, und Erhard Busek, der Politiker, mit einem Buch ihr „Projekt Mitteleuropa“ begründet. Beide sind alive and kicking und legen jetzt noch einmal, ein wenig bescheidener, ein „Mitteleuropa revisited“ vor. Ob die „Mitteleuropa-Idee“, wie sie es nennen, damals wesentlich zum Fall der Mauer(n) beigetragen hat, kann man bezweifeln. Ein eigenständiger Faktor in Europa ist die von Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński angeführte Region heute aber auf jeden Fall. Mitteleuropa gehört ernst genommen: Das ist Grunderkenntnis aus dem kenntnis- und gedankenreichen Buch der beiden alten Kämpen.
Aber was genau anfangen mit der Erkenntnis? Mit den neuen mitteleuropäischen Moden, dem Ziehen von Grenzzäunen nach außen und dem Aufrichten von „Leitkulturen“ nach innen, haben die beiden keine Freude. So versuchen sie, das Syndrom aufzudröseln: an der Oberfläche Flüchtlingshysterie, nationale Animositäten, postproletarischer Cäsarenwahn, Dinge, die Brix und Busek gar nicht gefallen. Die Tiefenstruktur der Region sehen die Autoren in einer historisch gesättigten Vernunft, die den Träumern weiter westlich abgehe. So ist der verstörende Vorschlag zu verstehen, ihr Land möge sich doch den Visegrád-Staaten anschließen. Gemeinsam mit Slowenien könnte Österreich der Region die Giftzähne ziehen, hoffen sie. Heraus käme, anstelle der deutsch-französischen Nachkriegsträume von einer politischen Union Europas, ein neues Europa der Nationen, und an die Stelle des radikalen Liberalismus mit seiner galoppierenden Ungleichheit träte eine neue Sozialorientierung.
Fragt sich, wer hier träumt. Das autoritär-nationalistische Syndrom im neuen Mitteleuropa ist in sich beängstigend schlüssig, überhaupt nicht sozial orientiert, und schon gar nichts spricht dafür, dass der Anschluss Österreichs daran etwas ändern würde. Mag ja sein, dass der Nachkriegstraum von der politischen Union ausgeträumt ist. Aber ein Grund, ihn gegen einen Vorkriegsalbtraum zu ersetzen, ist das noch nicht.

Norbert Mappes-Niediek in FALTER 13/2018 vom 30.03.2018 (S. 20)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 28, 2018 7:31:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Das neue Kapital –  

Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus

von Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger

Wie entsteht ökonomischer Mehrwert im Kapitalismus? Und wie sollte er umverteilt werden? Das waren die zentralen Fragen, die Karl Marx am Übergang zum Industrie- Kapitalismus in »Das Kapital« auf radikale Weise beantwortete. Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge beantworten die gleichen Fragen am Übergang zum globalen Datenkapitalismus neu.

Wir können mit Daten den Markt neu erfinden – und Wohlstand für alle schaffen. Dazu müssen Big Data, Automatisierung und Künstliche Intelligenz ihr Potenzial voll entfalten können. Den Effizienzgewinn dürfen nicht allein die großen Datenmonopolisten einstreichen. Nur wenn dieser allen zugute kommt, schaffen wir eine digitale soziale Marktwirtschaft. In der aber werden Geld und Banken eine untergeordnete Rolle spielen.

Produktinformation

  • Format: Kindle Edition
  • Dateigröße: 1850 KB
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe: 304 Seiten
  • Verlag: Ullstein eBooks (13. Oktober 2017)
  • Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Sprache: Deutsch
  • ASIN: B0725G1JVX
  • Kindle Edition: EUR 19,99
  • Gebundene Ausgabe: EUR 25,00

Kundenrezensionen
 

Man nimmt das Buch zur Hand, die Anspielung im Titel provoziert: Ist "Das Digital" etwa von ebenso hoher Bedeutung wie "Das Kapital"? Worin liegt die Äquivalenz? Können Daten denn Werte und Vermögen bilden? Womöglich sogar Wohlstand für alle bringen?

Schon die ersten Seiten verschmelzen beide Begriffe und beschreiben Datenkapitalismus überzeugend als reales Phänomen. Denn Daten sind der Reichtum des 21. Jahrhunderts.

In einem Merkmal unterscheidet sich "Das Digital" jedoch vom wuchtigen Werk des berühmten deutschen Philosophen in bemerkenswerter Weise: Man blättert darin, liest hinein und kann nicht mehr aufhören zu lesen. Zu gut sind die Geschichten aus erster Hand und erstklassiger Quelle. Man fliegt förmlich durch den Text und fühlt sich unmittelbar angesprochen - wie in einem spannenden Vortrag.

Der Duktus des Autorenduos (Spitzenwissenschafter im Bereich Big Data/Topjournalist bei brand eins) trägt in präzisen Formulierungen von Seite zu Seite, ohne dabei dem wissenschaftlichen Anspruch in die Quere zu kommen. Anekdoten und Kasuistik illustrieren Phänomene, argumentiert wird aber immer über faktische Trends und Entwicklungen.

Obwohl - offenbar mit Absicht - auf die Verwendung von Diagrammen und Abbildungen gänzlich verzichtet wurde, nimmt man als Leser in ganz großem Kopfkino Platz, erste Reihe fußfrei.

Die Narrative der Argumentationslinien in den einzelnen Kapiteln beleuchten und demonstrieren exemplarisch die Fülle von Entwicklungen und Konsequenzen, die sich aus der Informationsrevolution und ihren technischen Möglichkeiten ergeben. Die Verknüpfung des Potentials von Big Data mit der Breitenwirksamkeit von Social Media etwa. Oder das Umkrempeln ganzer Branchen bis hin zur Auslöschung klassischer Berufsbilder und Dienstleistungen.

Meistens sind es bloß Symptome, die wir sehen. Zugrunde liegen aber die rasanten Dynamiken jener Entwicklung, die es uns ermöglichen, riesige Massen an Informationen von und über uns Menschen durch Algorithmen verarbeiten und verwalten zu lassen. Wir digitalisieren uns. Und unsere Werte, immaterielle wie materielle.

Daten werden ähnlich wie Rohstoffe gewonnen und angehäuft; immer mehr Feedbackschleifen und Sensoren liefern immer genauere Daten über Umwelt, technische Anwendungen, Dienstleistungen und Personen. So entsteht rasant wachsender Datenreichtum. Wie die Autoren zeigen, wachsen Profite und Profitmöglichkeiten mindestens ebenso rasant. Aus Daten läßt sich Kapital schlagen.

Ein Vergleich mit den sozio-ökonomischen Erschütterungen der Industriellen Revolution erscheint daher angebracht: vom "Mehrwert", der aus den Datenminen geschöpft wird, fließt nur wenig an die Träger dieser Daten zurück. Wenig fließt auch an Staatsgebilde und ihre klassischen Finanzierungsformen.

Dem Datenkapitalismus ein menschliches Anlitz geben - geht das überhaupt? Dem Streben nach Datenmonopolen wirksame Regulative entgegensetzen - ist das denkbar? Verweist das erfolgreiche Experimentieren mit Microtargeting und Nudging nicht auf unausweichliche politische Dystopien?

Die Autoren plädieren für Maßnahmen, um digitale Formen von Ausbeutung und politischer Manipulation intelligent und effektiv zu verhindern: vernünftige Regulationen wie progressives Data-Sharing, sinnvolle und gerechte Besteuerung und - last but not least! - die Stärkung funktionierender Märkte in der neuen, digitalen Welt. Datenreichtum bedeutet letztlich ja auch, über ausreichend Feedback für die Optimierung dieser Tools zu verfügen.

"Das Digital" listet ein breites Spektrum an Chancen und positiven Utopien auf: optimierte Logistik und Infrastruktur, effiziente Nutzung von Ressourcen, didaktisch individuell angepaßtes Lernen, partielles bedingungsloses Grundeinkommen.

Das bedeutet viele neue, diverse und spezifische Märkte (oft auch Communities) mit vielen Teilnehmern. Die zufrieden sind, weil ein Plus an geeigneten Daten sie zu besseren Produkten und Resultaten bringt.

Das größte Plus aber könnte sein: ein Zugewinn an Entscheidungsfreiheit, an Wissen und an menschlicher Erkenntnis.

Möge dieses Buch viele Leser finden. Es ist ein Manifest für die Emanzipation gegenüber Datenenteignung und Datenmißbrauch. Und für einen Datenreichtum, dessen Dividenden für möglichst viele ausgeschüttet werden.
am 19. Oktober 2017
Viktor Mayer-Schönbergers und Thomas Ramges Buch "Das Digital: das neue Kapital - Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus" (auf Englisch passenderweise "Reinventing Capitalism in the Age of Big Data" betitelt) wirkt auf den ersten Blick wie ein linker Kampfaufruf: aus “Das Kapital” werde “Das Digital“, und "der Datenkapitalismus werde den Finanzkapitalismus ablösen". Die Anspielung ist Absicht: wollte Marx den ökonomischen Mehrwert umverteilen, so müsste heute Information umverteilt werden, finden die Autoren.

In gewohnt präziser, faktenbasierter Weise beschreiben die Autoren, wie datenreiche Märkte schon längst einen traditionell geldbasierten Markt nach dem anderen auflösen. Anhand ausgewählter Fallbeispiele zeigen sie, wie datengetriebene Unternehmen dank immenser Datenansammlungen und dem Einsatz von Big Data, AI-Systemen und Assistenzprogrammen zu passenderen Transaktionen, zufriedeneren KundInnen, und weniger Verschwendung beitragen. Der Finanzkapitalismus ist am Ende, prognostizieren die Autoren- und belegen es plausibel. Gleichzeitig erkennen sie die dringende Notwendigkeit eines klaren gesellschaftlichen und regulativen Rahmens: zum einen, um die Kontrolle über die Datenkraken zu bewahren, zum anderen, um die Veränderungen von Arbeitswelt und menschlicher Entscheidungsaufgabe zu bewältigen.

Dieses Buch endet nicht in der Analyse und mit Fragen, sondern zeigt Visionen und Wege auf. Ein lesenswertes Buch für alle, die am Wandel und der Gestaltung unserer Zukunft aktiv teilhaben wollen.
Gut zu lesen, und absolut lesenswert!
Posted by Wilfried Allé Thursday, March 22, 2018 12:38:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Wir müssen reden 

Warum wir eine neue Streitkultur brauchen von Susanne Schnabl

Laut, drastisch und unversöhnlich. Nicht nur im Netz, auch im öffentlichen, im politischen Diskurs geht es zunehmend um entweder – oder, gut oder böse. Zunehmend dreht sich alles um das schnelle Urteil bzw. Vorurteil dafür oder dagegen. Es ist eng geworden. „Sich binnen Sekunden zu allem eine Meinung zu bilden und diese vehement und unnachgiebig zu verteidigen“, so Susanne Schnabl, „ist legitim. Aber wo bleibt das Dazwischen?“
Ringen um Argumente, um Standpunkte? Dem anderen zuhören, sich austauschen? Wie steht es um unsere Streitkultur in einer temporeichen, unübersichtlichen Zeit, in der die Versuchung nach vermeintlich simplen Antworten so groß geworden ist? Kommt uns die Diskursfähigkeit in aufwühlenden Zeiten abhanden? Weshalb wir wieder mehr Sachlichkeit statt Drama brauchen, erklärt Susanne Schnabl, und fordert eine neue Kultur des Streitens. Die österreichische Journalistin und Fernsehmoderatorin Susanne Schnabl ist zutiefst überzeugt, dass genaues Fragen und noch genaueres Hinhören wichtiger denn je für unsere Debattenkultur und à la longue wichtig für den Erhalt unserer Demokratie ist. Sie steht für Qualitätsjournalismus und moderiert seit vielen Jahren den „Report“, das wöchentliche Fernsehmagazin für Innenpolitik des ORF.

Preis: € 22,50
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.03.2018

 

Rezension aus FALTER 12/2018

„Demokratie ohne Streit gibt es nicht“

ORF-Moderatorin Susanne Schnabl über den Lärm der Empörer und das Schweigen der Mitte

Die öffentliche Debatte ist gehetzt, schrill und gehässig geworden. Dabei werden die Lauten an den Rändern gehört, während die Mitte auseinanderdriftet oder sich in Schweigen einmauert. Die ORF-Journalistin und „Report“-Moderatorin Susanne Schnabl hat ein Buch mit dem Titel „Wir müssen reden“ geschrieben, in dem sie beklagt, dass das gesellschaftliche Gespräch, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, zunehmend von einer ritualisierenden Erregung dominiert wird, die mehr und mehr die Zwischentöne verliert. Dabei werde die einfachste Grundregel der Kommunikation ignoriert: Dem anderen zuhören und zuerst nachdenken, bevor man sich ein Urteil bildet.

Falter: Was war der Anstoß zu Ihrem Buch?
Susanne Schnabl: Ein Anstoß war die Polarisierung im Zuge der Flüchtlingskrise. Da war eine neue Unerbittlichkeit zu spüren. Es gab die Helfer und jene, die das ablehnten. Die wechselseitige Kritik der beiden Lager bestand aber nicht in Argumenten, sondern in Vorwürfen, die auch an uns Journalisten gerichtet waren. Da ging es nicht nur um die gegensätzlichen Meinungen selbst, sondern die Frage, warum wir dem jeweils anderen überhaupt ein Forum bieten, seine Meinung zu sagen. Zudem bestand eine Diskrepanz in der Kritik an uns Journalisten und dem seither steigenden Publikumszuspruch, der sich in einem Zehnjahreshoch befindet. Ich habe mich gefragt: Wo ist die schweigende Mitte?

Wie haben Sie das Gespräch gesucht?
Schnabl: Ich habe zunächst einmal versucht, mit einem jener Menschen zu sprechen, die mir so wütende Mails schrieben – interessanterweise viele mit Klarnamen –, aber ihrer Empörung auch in Foren Luft machten. Sie warfen uns Fake-News vor, teilten jedoch selbst Fake-News über Flüchtlinge. Es hat Monate gedauert, bis mir überhaupt jemand geantwortet hat. Frau T., die ein Nagelstudio im 21. Bezirk betreibt, hatte mir schon zweimal wieder abgesagt. Schließlich durfte ich sie doch besuchen. Und sie hat mir sogar ein Fernsehinterview gegeben. Über die Begegnung mit ihr schreibe ich auch in meinem Buch, weil sie mir exemplarisch erscheint.

Wie war das Gespräch?
Schnabl: Als ich ihr gegenübersaß, war sie erstaunlicherweise gar nicht mehr so zornig. Sie brachte durchaus auch berechtigte Kritikpunkte vor, aber in erster Linie ging es ihr um Resonanz. Das betrifft die Politik und uns Medien. Hinter all den früheren, zornigen Sätzen kam immer wieder die Aussage zutage, dass sie sich nicht wahrgenommen fühle in ihrer Lebensrealität. Und da ist tatsächlich was dran. Manchmal gehen wir Journalisten alle in eine Richtung, ein Thema beherrscht alles, und wir merken das nicht einmal. Wenn wir jetzt eine Glaubwürdigkeitskrise haben, dann hat es meiner Meinung nach neben anderen Ursachen auch damit zu tun.

Antworten Sie allen, die Ihnen schreiben?
Schnabl: Den meisten, aber nicht allen. Die Grenze liegt da, wo es gehässig und extremistisch bis hin zu rassistisch oder antisemitisch wird. Ich kann extreme Menschen nicht erreichen oder gar überzeugen. Deswegen schreibe ich diesen nicht zurück – wenn ich etwa merke, dass jemand in einer eigenen, konstruierten Welt lebt. Und natürlich hängt es von meiner Tagesverfassung ab. Man hat nicht jeden Tag die Zeit und Nerven, sich mit allen auseinanderzusetzen.

Welche Rollen spielen hier die neuen Medien?
Schnabl: Ich bekomme viele Nachrichten noch immer über Mail, aber vieles wird auch in Foren kommentiert. Da ist oft organisierte Kritik oder Hetze dabei, wie es etwa die Puls-4-Infochefin Corinna Milborn erleben musste, als sie den Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer in einem Interview hart anfasste. Nach Recherchen von mokant.at, einem Onlinemagazin für Datenjournalismus, und neuen Auswertungen sind die Lauten, Dominanten in den Debatten eigentlich in der Minderheit. Dass sie gehört werden, überrascht nicht, aber dass sie auch große Resonanz in traditionellen Medien finden, halte ich für eine Fehlentwicklung.

Was passiert derweil mit den Leisen?
Schnabl: Die hört man selten. Sogar Frau T. hat auf den Empörungsdiskurs und Kritik an ihren eigenen Postings mit Rückzug reagiert. Sie teilt auf Facebook nur noch Katzenfotos, Yin-Yang-Zeichen und Werbung für ihr Nagelstudio, aber keine politischen Kommentare oder Zeitungsartikel mehr. Aber was passiert, wenn sich immer mehr Menschen zurückziehen und sie sich nur noch in Minigruppen, in ihren geschützten Blasen und Gruppen austauschen?

Hat das auch mit einer überschießenden Political Correctness zu tun?
Schnabl: Nicht jeder hat die Zeit, sich Kritik zu stellen, und nicht jeder hat so eine dicke Haut, das auszuhalten. Und natürlich gibt es die Angst, von der falschen Seite Applaus zu erhalten. Timothy Garton Ash beschreibt das Problem sehr schön: Alles, was nicht auf meiner Seite ist, ist gegen mich. Widerspruch ist unerwünscht. Auf der rechten Seite gibt es eine Polarisierung in „wir“ und „die anderen“, kritischer Journalismus wird gleich als Fake-News diskreditiert. Und auf der anderen Seite beschneidet die Linke die Redefreiheit durch Forderung nach übertriebener politischer Korrektheit, indem alles, was nicht in ihr Weltbild passt, entweder ausgeladen oder übermalt wird – wie das Gedicht von Eugen Gomringer. Und das zum 50. Jubiläum der 68er-Revolution!

Kann man heute nicht mehr offen oder „ins Unreine“ denken?
Schnabl: Es gibt eine neue Unerbittlichkeit, die meiner Meinung nach auch etwas mit Denkbequemlichkeit zu tun hat. Ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen mit dem anderen. Ich muss nicht nachdenken und hinterfragen. Der Widerspruch wird immunisiert durch Moral. So kann kritisches Denken nicht funktionieren: Wenn ich am Anfang schon weiß, was am Ende rauskommt. Außerdem sollte man zu allem eine fixe Meinung haben, und zwar sofort.

Lassen wir uns zu wenig Zeit, uns eine Meinung zu bilden?
Schnabl: So pauschal kann ich das nicht beurteilen. Aber durch die Rasanz, in der Dinge verhandelt werden, wird der Druck immer größer, zu allem sofort eine Meinung haben zu müssen, ansonsten gilt man als meinungsschwach.

Wie würde richtiges Streiten funktionieren?
Schnabl: Ich komme aus keinem sehr politischen Haushalt. Aber in meinem Elternhaus wurde am Esstisch um Positionen gerungen. Es war meinen Eltern wichtig, Fragen auszudiskutieren, nicht nur in der Pubertät. Wenn ich gegen etwas war oder etwas unbedingt tun wollte, dann musste ich es auch begründen, mit Argumenten. Beim konstruktiven Streiten geht es ums Nachfragen und ums Zuhören. Darum, auch einmal die Perspektive zu wechseln oder gegen den Strich zu denken. Ich bin in Kärnten aufgewachsen und in meiner Schulzeit war Jörg Haider Landeshauptmann. Da war man entweder voll und ganz dafür oder ganz dagegen. Und dazwischen gab es die schweigende Mitte.

Warum braucht Demokratie eine entwickelte Streitkultur?
Schnabl: Demokratie ohne Streit gibt es nicht. Das wäre ja eine Diktatur, wenn alle derselben Meinung zu sein hätten. Deswegen verstehe ich auch gar nicht, warum Streiten im Sinne eines Ringens um Argumente so einen schlechten Ruf hat. Aber den Streit durch die Empörung zu ersetzen, das, was der Medientheoretiker Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch die „große Gereiztheit“ nennt, ist nur allzu bequem. Warum soll es auf der anderen Seite nicht Argumente geben, die genauso stichhaltig sind? Ich muss sie ja nicht übernehmen. Aber ich muss mich mit ihnen auseinandersetzen.

Gibt es spezifisch österreichische Ursachen für die unzureichende Streitkultur?
Schnabl: Die sogenannte Konsensdemokratie ließ wenig Spielraum, dazu kommt das historisch gewachsene Lagerdenken. In Deutschland etwa wird in der Regel härter diskutiert. Eine Streitkultur braucht Auseinandersetzungen auf Augenhöhe und eine Fehlerkultur. Letzteres ist hoffentlich ein Generationenproblem. Damit meine ich, dass es für frühere Autoritäten schwerer war, Fehler zuzugeben, als für zukünftige. Auf Augenhöhe bedeutet, auf jemanden zuzugehen. Deswegen habe ich Frau T. bei sich zu Hause besucht und sie gefragt, ob sie mir erklären kann, was sie meint, was sie gesagt bzw. geschrieben hat.

Kann man rational streiten?
Schnabl: Man kann nicht immer nur trocken Sachargument gegen Sachargument abwägen. Streit hat immer auch mit Emotionen zu tun. Dazu gehört auch Leidenschaft. Das merke ich zu Hause in meiner Familie am Küchentisch, und da geht es ja nur um Banales, wohin man auf Urlaub fährt. Man muss damit umgehen lernen, und das geht offenbar nur auf der Grundlage von Emotionen. Deswegen kann man Fake-News so schwer widerlegen, denn die kommen emotional und spektakulär daher. Fakten hingegen sind unspektakulär nüchtern. Solange es nicht persönlich oder untergriffig wird, kann man auch hart in der Sache bleiben. Die Lösung kann jedenfalls nicht Rückzug und Biedermeier 4.0 lauten.

Bernhard Pörksen schlägt einen „dialogischen Journalismus“ vor. Wie könnte der aussehen?
Schnabl: Wir werden umdenken müssen, wenn wir auch Menschen wie Frau T. erreichen wollen, was ja nicht nur das Anliegen, sondern auch der Auftrag des ORF ist. Bestimmte Menschen erreicht man nur auf ­Facebook, manche schauen nur fern. Aber viele wissen nicht, wie Journalismus überhaupt funktioniert, wie das auch bei Frau T. der Fall war. Deswegen hat sie uns ­Fake-News vorgeworfen. Dialogischer Journalismus bedeutet für mich, sich diesen Schwierigkeiten zu stellen. Dafür gibt es schon zahlreiche Ansätze: Die BBC hat zum Beispiel „Question Time“, wo Politiker und Medienleute Publikumsfragen beantworten, oder Town-Hall-Meetings in den Regionen, die ähnlich funktionieren. Der Spiegel veranstaltet im Mai eine sogenannte Leserkonferenz. Die Zeit Online-Kollegen starten gerade die Fortsetzung von #D17, wo es darum geht, Menschen, die politisch denken, mit Andersdenkenden zusammenzubringen. Und in der TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix steigen der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild-Zeitung, Nikolaus Blome, und der Herausgeber des linksorientierten Freitag, Jakob Augstein, in den Ring. Pro-und-Contra-Formate bieten dem Zuschauer grundsätzlich die Gelegenheit zu entscheiden, welches Argument stichhaltiger ist – und sich dann selbst eine Meinung zu bilden.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 24)

 

Rezension aus FALTER 11/2018

Unterwegs zur Empörungsdemokratie

Debattenkultur: Zwei Bücher plädieren für eine neue Streitkultur und mehr Medienkompetenz für alle

Das Wichtigste ist nicht, was passiert, sondern wie darüber geredet ist. Das Wirkmächtigste ist nicht, was wahr ist, sondern die Interpretation davon. Und die entsteht immer öfter in der Hitze eines Gefechts als in Ruhe, immer mehr auf der Grundlage von Emotionen als von Argumenten. Die Debattenkultur, Grundlage des Vertrauens in einer Demokratie, verkommt – so lautet die Diagnose zweier Bücher, die sich diesem Thema auf unterschiedliche Weise nähern. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beleuchtet in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ die Entwicklung der Öffentlichkeit zur Emotionsindustrie und macht in der vernetzten Welt einen Brandbeschleuniger aus. Die ORF-Journalistin Susanne Schnabl kommt von der anderen Seite, jener der Medien, und fordert in ihrem Buch „Wir müssen reden“ eine neue Streitkultur ein.

Erregung statt Aufklärung
Eine Gesellschaft ist immer nur so klug wie der Diskurs, den sie gerade führt. Gemessen an dieser Weisheit, mit der Susanne ­Schnabl ihre Streitschrift für das Streiten beginnt, haben wir noch Luft nach oben. Denn die gesellschaftliche Debatte, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, ist laut, eng und gehässig geworden, lautet ihre Diagnose, dominiert von einer Dauerempörung. Die einfachste Grundregel der Kommunikation wird dabei ignoriert: „Das Argument des anderen zuerst einmal anhören, bevor man mit Meinung und Urteil schon zur Stelle ist.“ An die Stelle von Argumenten ist eine ritualisierte Erregung getreten. Das Gute dabei: Es wird wieder politisiert. Leider nicht miteinander, sondern in getrennten Räumen. Die ­Debatte trägt Scheuklappen, ist gefangen in ­Milieus, die neuerdings gerne Filterblasen genannt werden, und tendiert zur Selbstgerechtigkeit. Ein amerikanischer Präsident vom Kaliber Donald Trumps trägt zur ­Kontaminierung des Klimas mit Rüpelhaftigkeit und dem Primat von Ego-Agenden bei. Die ­Frage, um die es eigentlich geht – jene, wie wir leben wollen –, gerät dabei aus dem Blickfeld.
Da Schnabl als Moderatorin des Magazins „Report“ Teil des öffentlichen Diskurses ist, nimmt sie sich zuerst einmal selbst an der Nase und sucht das Gespräch mit einer Frau, die nicht nur andere Meinungen vertritt, sondern auch einem anderen ­Milieu angehört. Im 21. Wiener Gemeindebezirk wohnt Frau T., Inhaberin eines Nagelstudios. Ihr Facebook-Profil liest sich wie das einer typischen Wutbürgerin mit Hass auf „die“ Flüchtlinge und „die da oben“. Sie hat Schnabl mit dem Kampfbegriff „Lügenpresse“ bombardiert, deren Anfragen zu einem Gespräch aber nicht wie viele andere ignoriert. Auch weil sie erstaunt war, dass ihre Nachrichten überhaupt gelesen wurden.
Jetzt, einem realen Menschen gegenübersitzend, scheint sie schon weniger zornig. Und aus dem Vorwurf, man dürfe ja nicht mehr sagen, was man denke, wird die Anklage: „Aber mir, uns hier, hört ja niemand zu!“ Trotzdem postet Frau T. auf ihrem ­Facebook-Account mittlerweile nur noch Werbung für ihr Geschäft. Und antwortet auf die Erhitzung der gesellschaftlichen Debatte mit Rückzug. „Die Annahme, die Kommunikation werde durch die sozialen Medien offener, hat sich als Illusion herausgestellt“, folgert Schnabl.

Für eine neue Streitkultur
Wie konnte es passieren, dass eine der Säulen der Gesellschaft, der unabhängige Journalismus, derart in Verruf geriet? Und eine Debattenkultur zur Skandalmaschine verkam? Schnabl sieht die Ursachen nicht nur in der Zweiten Republik, die als „Konsensdemokratie“ konzipiert war, in der wichtige Themen in Hinterzimmern verhandelt wurden und die deswegen keine Streitkultur entwickeln konnte, sondern auch in einer zunehmenden Polarisierung sowie einem neuen Tugendterror, in dem fast alle Lebenslagen mit Moral aufgeladen werden und zwischen Weiß und Schwarz, Gut und Böse kein Platz mehr ist, sowie einer neuen Überempfindlichkeit, die zu einer Infantilisierung des Diskurses führt.
Eine Gesellschaft, in der die Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen aus Angst vor der Reaktion nicht mehr miteinander reden, könne nicht die Lösung sein, meint Schnabl und plädiert für eine neue Streitkultur. Denn die „Kulturtechnik des Streitens“ könne und müsse man ebenso erlernen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Demokratie bedeutet institutionalisierter Streit. Wie kann man den Streit rehabilitieren, wie funktioniert echter Streit? Leidenschaftlich, aber höflich, fair, aber hart in der Sache, meint Schnabl. Dabei gelte es, Dampf aus dem Druckkessel des „Sofortismus“ abzulassen. Manchmal kommt die Wahrheit erst später zutage, und die drängenden Themen der Jetztzeit – Globalisierung, Klimawandel und Zuwanderung – erlauben per se keine schnellen und einfachen Antworten. Schnabl erwähnt als Vorbilder Debattierklubs im angloamerikanischen Raum oder die TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix, in der der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild Nikolaus Blome und der Herausgeber der linken Zeitung Freitag Jakob Augstein ihre argumentativen Messer wetzen. „Am Ende ist man meistens klüger, hat neue Begründungen gehört, bestenfalls eine andere, zusätzliche Perspektive und wurde dabei auch noch gut unterhalten.“ Ein Buch als Appell, flott geschrieben, manchmal flapsig, immer wieder redundant, aber ein Auftakt, den man nicht unbeantwortet verhallen lassen sollte.

Mediengeschichtliche Zäsur
Der Medientheoretiker Bernhard Pörksen kommt zu einem ähnlichen Befund: Das „große gesellschaftliche Gespräch“ drohe in sinnlosen Attacken und bösartigem Gerede zu versinken, und eine zunehmende Diskursanarchie durch den Verlust zivilisierter Filter erzeuge Angst. Die Ursache der immer schnelleren Eskalation von Konflikten und Skandalen und der daraus folgenden Beunruhigung macht Pörksen in den neuen Medien aus. Smartphone, Facebook und Twitter haben eine mediengeschichtliche Zäsur eingeläutet, meint Pörksen, die nicht nur das Kommunikationsklima der Gesellschaft elementar verändert hat, sondern auch den Charakter der Öffentlichkeit beeinflusst, denn sie schließen privates und öffentliches Bewusstsein kurz. Dadurch entsteht eine nie gekannte Dynamik und Dramatik der Enthüllungen, eine rauschhafte Nervosität, die nicht nur Unsicherheit generiert, sondern immer öfter auch in Gewalt endet, obwohl die Erregung oft auf Gerüchten oder Falschmeldungen basiert.
Pörksen exemplifiziert seine Thesen von Anfang an mit anschaulichen Beispielen. Etwa jenem der 13-jährigen Lisa, die am 12. Januar 2016 nachts nicht nach Hause kam und ihre Mutter am nächsten Tag anlog, von südländisch aussehenden Männern vergewaltigt worden zu sein. Bereits einen Tag später tauchten wütende Russen vor einem Flüchtlingsheim auf, Fenster splitterten und ein Sicherheitsmann wurde verletzt. Einer der beliebtesten russischen Fernsehsender berichtete, dass es in Deutschland eine neue Ordnung gebe, und auf einer Veranstaltung der NPD wurde die Todesstrafe für Kinderschänder gefordert. Am 26. Januar, 14 Tage später, warf der russische Außenminister Sergej Lawrow den deutschen Behörden vor, das Verbrechen aus Gründen politischer Korrektheit nicht angemessen zu verfolgen. „Die große Gereiztheit hat nun das Parkett der internationalen Diplomatie erreicht.“ In anderen Fällen, wie jenem des jungen Mannes, der im Juli 2010 in einer Mini-Gemeinde in Florida einen Pastor dabei filmte, wie er dafür eintrat, einen Koran zu verbrennen, führte eine wenig bedeutende Nachricht, die durch soziale Medien globale Verbreitung fand, auch schon zu Dutzenden Toten.

Fünf Krisendiagnosen
Die öffentliche Debatte ist in der Krise. Pörksen macht das an fünf Diagnosen fest. Erstens der Wahrheitskrise: In Zeiten von Fake News und gekonnten Bild- und Videomanipulationen können Realität und Propaganda immer schwerer auseinandergehalten werden. Denn vom Twitter-Poster über den Wikipedia-Mitarbeiter bis zu den Geheimdiensten wird die „große Schlacht um die richtige Auffassung“ oft mit ­falschen Informationen betrieben. Und die neue ­Schnelligkeit der Urteile verbessert ­zumeist nicht ihre Richtigkeit, sondern führt zu einer neuen Ungeduld, zu einer „Unaushaltbarkeit der Ungewissheit“ und „Tabuisierung der Ratlosigkeit“.
Die Diskurskrise bedeutet zweitens eine Gesellschaft auf dem Weg von der Medien- zur Empörungsdemokratie, der ungebremsten Herrschaft der „fünften Gewalt der vernetzten Vielen“: der Verschwörungstheoretiker, rechtsradikalen Agitatoren, aber auch der Hypermoralisierten, die Protestgemeinschaften bilden. Sie verändern als „Publikative eigenen Rechts“ die neben Exekutive, Judikative und Legislative vierte Gewalt des traditionellen Journalismus, können aber selbst kaum zur Rechenschaft gezogen werden. In der Autoritätskrise werden drittens Vorbilder und Mächtige via Skandalen abmontiert und reagieren darauf zumeist mit ängstlicher Anpassung oder – wie im Falle von Donald Trump – mit höhnischer Ignoranz. In der Behaglichkeitskrise geht viertens die Sehnsucht nach Ruhe verloren: Noch nie waren die Schrecken der Welt so unmittelbar und pausenlos sichtbar. Ihre Dauerpräsenz via Fernseher und Smartphone erzeugt Empörung und das Gefühl von Ohnmacht. Vor ihnen gibt es keine Flucht mehr. Und der Begriff der Reputationskrise beleuchtet zuletzt die Tatsache, dass Ansehen im digitalen Zeitalter per se zum gefährdeten Gut geworden ist, unabhängig von Macht und Prominenz.

Die redaktionelle Gesellschaft
Das Problem besteht darin, dass die ­neuen Herausforderungen zugleich technischer und sozialer Natur sind, bestehend aus Geräten – Smartphones mit ­Videofunktion –, dem Aufstieg von Plattform-Monopolisten und einem Vertrauensverlust in Journalisten. „Wir leben in einer Phase der ­mentalen Pubertät im Umgang mit neuen Möglichkeiten, erschüttert von Wachstumsschmerzen der Medienrevolution“, ­konstatiert Pörksen. Da sich diese Entwicklungen schwerlich rückgängig machen ließen, bleibe uns nichts anderes übrig, als mit den neuen Gegebenheiten besser umgehen zu lernen.
Sein Konzept dafür, das er mit diesem Buch vorlegt, sieht für die klassischen Medien einen stärker dialogisch ausgerichteten Journalismus vor, der vom Prediger und Pädagogen zum Zuhörer, Moderator und Diskurspartner wird – einen Weg, den Susanne Schnabl bereits zu gehen versucht. Sowie das Beharren auf der Relevanz von Informationen entgegen dem neuen Primat der Interessantheit von Plattformen wie ­Buzzfeed.com oder heftig.de.
Aber heute ist via Smartphone, Facebook und Twitter jeder Journalist – und trägt deswegen Mitverantwortung für die Qualität der öffentlichen Debatte. Daraus folgt, dass jeder Einzelne das Rüstzeug zu verantwortungsvollen und reflektierten Publikationsentscheidungen braucht. Diesem „Ideal der Medienmündigkeit“, einer „Utopie der redaktionellen Gesellschaft“, komme man nur durch ein konsequentes Bildungsangebot näher, insistiert Pörksen, dadurch, dass journalistische Fähigkeiten „zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos“ werden.
Mediengeschichte und -praxis, Machtanalyse und angewandte Irrtumswissenschaften, die ein „Wertegerüst des öffentlichen Sprechens“ bilden, bestehend aus den Prinzipien Wahrheitsorientierung, Skepsis, Proportionalität, Ethik und Transparenz, gehören für Pörksen dazu, am besten unterrichtet in einem eigenen Schulfach. Das klingt plausibel. Und Pörksen wäre mit seiner Fähigkeit zur anschaulichen Darstellung und Synthese bestens geeignet, dafür das Unterrichtsmaterial vorzulegen. Damit bekäme ein Journalismus neuer Prägung die Chance, zu einer allgemeinen Kulturtechnik oder gar zu einem Bewusstseinszustand zu werden.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 30)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 21, 2018 9:27:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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