AZ-Neu

Die Informationsplattform für ArbeiterInnen, Angestellte, KMUs, EPUs und PensionistInnen

Die falschen Freunde der einfachen Leute  

Es bedarf vielmehr ein Gespräch über Angst, als einer Lektion über Rassismus

von Robert Misik

Inhalt

Alte Parteien verschwinden, neue tauchen auf, die Leitplanken des Diskurses verschieben sich. So chaotisch die politische Situation sich darstellt, so unübersichtlich ist das Angebot an Deutungen für den Aufstieg des autoritären Nationalismus: Die einen erklären ihn mit Politikverdrossenheit und amorpher Wut, andere mit ökonomischen Faktoren wie Globalisierung und wachsender Ungleichheit, wieder andere führen ihn auf die vermeintliche kulturelle Abwertung von Menschen mit konventionellen Werten und Lebensstilen zurück.

Für sich genommen, so Robert Misik, ist jede dieser Erklärungen viel zu simpel gedacht. Ökonomische und psychopolitische Dynamiken schaukeln sich hoch. Die verborgenen Verwundungen in einer Klassengesellschaft brauchen multikausale Erklärungen – und radikale Antworten.

Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Politikwissenschaft/Politik, Wirtschaft
Umfang: 138 Seiten
Erscheinungsdatum: 11.11.2019
Preis: ca. 14,40 €
Lieferbar:: ab 11.11.2019

Rezension aus FALTER 44/2019

Die sogenannten einfachen Leute

Warum die mediale Darstellung der Arbeiterschaft als ignorant, rassistisch und intolerant nicht nur falsch ist, sondern auch die falschen Parteien stärkt

In vielen europäischen Städten machen Menschen mit Migrationshintergrund rund 50 Prozent der Einwohnerschaft aus. Längst gibt es auch eine eingewanderte Mittelschicht, doch unter den verwundbarsten Arbeitnehmern und unter denen, die am Arbeitsmarkt keine Chance haben, sind Migranten häufiger vertreten, als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Der verletzbarste Teil der Arbeiterklasse, das sind Teile der alten weißen Arbeiterklasse und das neue, zugewanderte Proletariat.

Ihre Lage ist oft sogar frappierend ähnlich: Das beginnt mit der Chancenarmut, mit der sie bereits ins Schulleben starten. Es geht weiter mit den abwertenden Zuschreibungen und Projektionen, der Herablassung, mit der sie täglich konfrontiert sind. Setzt sich fort mit dem Hangeln von schlechtem Job zu schlechtem Job und dem – wenn überhaupt – verspäteten Eintritt in ein stabiles Beschäftigungsleben.

Betrachtet man die Dinge so, könnte man beinahe meinen, diese verschiedenen besonders verwundbaren Gruppen müssten sich zusammentun, ein instinktives Solidaritätsgefühl entwickeln. Und tatsächlich ist das ja auch manchmal der Fall: Spricht man mit Angehörigen der weißen Arbeiterklasse, die sich als Verlierer fühlen, kann man von ein und derselben Person hören, dass durch „die vielen Ausländer“ alles schlechter werde, dass „sie“ (die Eliten) all die Zuwanderer reinlassen, der türkische Kollege im Betrieb aber ein klasser Kerl sei, auf den sie nichts kommen lassen, und dass der syrische Ladenbesitzer im Nebenhaus bewundernswert fleißig sei oder der serbische Elektroinstallateur, der sich so um die Kinder kümmert und keinen Elternabend in der Schule versäumt, oder der mobile albanische Altenpfleger, der täglich die eigene Mutter besucht und wäscht.

Es ist, horcht man genau hin, ja keineswegs so, dass es kein Solidaritätsgefühl gibt. Selbst wenn man dieselben Lebenswelten bewohnt, existiert zwar eine Fremdheit, die selten vollends überwunden wird, aber durchaus auch wechselseitiger Respekt.

„Gute Leute“, das hört man von den Zuwanderern auf die Einheimischen gemünzt. „Gute Leute“, hört man genauso oft von den Einheimischen auf die Zuwanderer gemünzt.

Und dennoch wird gerne behauptet, Migration sei „das Thema“ schlechthin, es würde für Polarisierung sorgen, sei der entscheidende Faktor für die Entfremdung der „weißen Arbeiterklasse“, ihren Zorn und ihre Wut. Und das ist auch nicht völlig falsch.

Deswegen ist es wichtig zu verstehen, was da abgeht. Es ist ein seltsames Amalgam aus Vorurteilen, richtigen Urteilen, Empfindungen, aus Normen, Werten und Konflikten, aus Übersetzungen und Interpretationen von Verwundungserfahrungen.

Im Unterschied zu den migrantischen arbeitenden Klassen haben die weißen arbeitenden Klassen eine Abstiegserfahrung gemacht. Das kann ein ganz persönlicher Abstieg sein oder ein symbolisch empfundener – wenn die Aufstiegshoffnung, die frühere Generationen hegen durften, verschwindet, wird das als Verlust erlebt, der in gewisser Weise einem Abstieg gleichkommt. Menschen sind eher frustriert über das, was sie verloren haben, als über etwas, das sie nie besaßen.

Das Gefühl, an den Rand gedrängt worden zu sein, verbindet sich dann mit Erfah­rungen, die Menschen in Gesellschaften mit Massenmigration machen. „Wir sollten im Zentrum stehen. Ich denke, andere Leute sollen die gleichen Möglichkeiten haben wie wir, aber wir sollten schon als Erste drankommen“, meint ein Gesprächspartner in East London gegenüber dem Sozialforscher Justin Gest. Die Minderheiten stellen jedoch denselben Anspruch, zumindest scheint es so, als wäre der als natürlich empfundene Anspruch der „Hiesigen“, als „Erste dranzukommen“, heute nicht mehr gewährleistet. Das lässt das Gefühl entstehen, „selbst Opfer von Diskriminierung­“ zu sein. Die hiesigen „einfachen Leute“ haben das Gefühl, sie seien „eine neue Minderheit“.

„Bei uns sieht es aus wie in einem Vorort von Nairobi. Aber was können wir schon dagegen machen?“, sagt eine resignierte Gesprächspartnerin in East London. In der Wahrnehmung der Betroffenen werden der ökonomische Stress und die migrationsbedingten Veränderungen im Viertel dabei zu Symptomen ein und desselben Prozesses. Wenn diejenigen, die sich als Verlierer dieser Entwicklungen sehen, sagen „ich komme nicht mehr mit“, ist das oft ein Code für Immigration. Zugleich ist die Immigration aber in gewisser Hinsicht selbst nur ein Code für das ganze Set an Veränderungen, die mit diesem Abstieg verbunden werden.

Seit je hat die Arbeiterklasse einen eigenen Leistungsbegriff hochgehalten, nämlich dass man sich Respekt, Selbstrespekt und den Anspruch auf Einkommen durch Anpacken und die Bereitschaft verdient, die eigenen Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Durch Disziplin und Selbstdisziplin. Im „alten“ Klassenkampf war das ein schlagkräftiges Argument: Lohnsteigerungen setzte man nicht mit der Begründung durch, dass einen mehr Kohle fröhlicher macht, sondern man stellte sich auf die Position, dass einem ein fairer Anteil am Kuchen „zusteht“ – und zwar eben wegen der Anstrengung und der eigenen Lebensleistung. Dieses Leistungsprinzip der Arbeiterklasse führte­ im Übrigen dazu, dass Werte in der Realität oft in widersprüchlichen Schattierungen und mit vielen Graustufen auftraten: Einerseits gab es nicht nur das egalitäre Ideal, sondern regelrechte egalitäre Instinkte, andererseits das Bewusstsein für feine Unterschiede. Hier­archien fanden durchaus Akzeptanz.

Staatliche Gelder für Arbeitslose, chronisch Gescheiterte oder „die Armen“ waren in der Arbeiterklasse oft sogar weniger akzeptiert als in bürgerlichen Schichten. Für Angehörige der Arbeiterklasse waren die Armen Leute aus der eigenen Umgebung, die sich primär dadurch von ihnen unterschieden, dass sie sich weniger anstrengten oder es an Disziplin vermissen ließen. „Ich stehe ja auch um sechs Uhr morgens auf und mache einen Job, der eigentlich eine Qual ist – warum soll der andere eine Unterstützung bekommen, nur weil er sich diese Qual erspart?“ Gerade wer harte Arbeit leistet, will nicht, dass andere „auf meine Kosten leben“.

In Gesellschaften mit Massenmigration kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Nicht nur Leistung begründet Ansprüche an die Gemeinschaft, sondern auch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft selbst. Diese volle Zugehörigkeit wird bei Migranten oft – manchmal begründeter, manchmal unbegründeter – infrage gestellt. Hört man genau hin, stößt man auf ganz unterschiedliche Erscheinungsformen einer zerrissenen Solidarität. Für den Arbeitslosen aus der weißen Arbeiterklasse sind die Migranten, die das soziale Netz in Anspruch nehmen, Konkurrenten um Transferleistungen; für den, der zwölf Stunden am Tag malocht und seine Steuern und Sozialbeiträge zahlt, sind sie die Verursacher seiner Abgabenlast.

„Menschen aus der ‚weißen Arbeiterklasse‘ tendieren in Gesprächen dazu, als Vorwort gewissermaßen hinzuzufügen, dass sie keine Rassisten seien und keine Vorurteile hätten. (…) Sie haben Angst, dass ihre Ansichten disqualifiziert werden könnten, obwohl diese Ansichten in der Realität ja authentische Ausdrücke dessen sind, was sie erleben, wie sie leben und wie sich ihre Leben verändern“, resümiert Justin Gest.

Der Vorwurf des Rassismus wird als weiteres Mittel verstanden, die Artikulation der Arbeiterklasse zu kontrollieren und ihre Empfindungen als bedeutungslos hinzustellen. Einer sagt: „Ich arbeite seit 38 Jahren und sehe immer mehr Leute auf der Straße, bei denen ich das Gefühl habe, dass ich die mit durchziehe.“ Ein anderer: „Sie tun so, als gehöre ihnen die Straße.“

Ein ganzes Panorama psychopolitischer Dynamiken tut sich dann auf. Es geht bergab, und man fühlt sich auch noch unsichtbar gemacht. „Jeder tut so, als wäre man als Weißer eh gut gestellt.“ Alle anderen dürfen sich beklagen, aber man selber soll die Klappe halten.

Man sieht sich selbst als das „einfache Volk“, als „echt“, „authentisch“ und „normal“, aber die moderne Mittel- und die Oberschicht schaut nur mehr auf einen herunter. So kommt unter den „einfachen Leuten“ der Eindruck auf, Buntheit und Multikulturalität würden als „Diversity“ gefeiert, während sie selbst einen Statusverlust hinnehmen müssen.

„Die weiße Arbeiterklasse fühlt sich von den elitären weißen ‚Brüdern‘ verraten, die sie als Arbeiter ausbeuten, die sie während wirtschaftlicher Krisen hängenlassen und die sich nur für die sozialen Verwundungen von Minoritäten interessieren.“

Wenn progressive Sozialinitiativen Nachhilfe, Ausflüge oder Ferien für Kinder aus unterprivilegierten migrantischen Familien organisieren, fragen die Hiesigen sich: „Warum tun sie das nicht auch für uns?“ Und wenn sie in den Nachrichten junge Leute aus wohlhabenderen Milieus sehen, die an Bahnhöfen Hilfsaktionen für Flüchtlinge organisieren, betrachten sie das mit dem insgeheimen Wissen: „Für uns würden sie so etwas nie tun.“ Für diese Teile der alten einheimischen Arbeiterklasse stellt sich die Welt dann als eine Art Dreieck dar: Es gibt die einheimischen Eliten, die Migranten und die „einfachen Leute“. Und die ersten beiden stecken irgendwie zum Schaden Letzterer unter einer Decke.

Es gibt übersteigerten Nationalismus. Es gibt Rassismus. Es gibt die rechtsradikale Ideologie, dass Weiße mehr wert sind als Schwarze. Es gibt aber auch das Gefühl des Bedrängtseins, Leute, die finden, das Ausmaß der Zuwanderung und der Veränderung gehe zu weit.

Den Eindruck, von den Eliten verkauft worden zu sein. Ein Denken in Insider-Outsider-Kategorien, das sich mit den lange tradierten Werten der Arbeiterklasse verbindet, etwa dem lokalen Gemeinschaftsgeist, und oft zu scheinbar paradoxen Haltungen führt. So ergaben Studien unter Sympathisanten rechter Parteien in der deutschen Arbeiterschaft, dass sich „das Gesellschaftsbild der rechtsaffinen jungen Arbeiter kaum von demjenigen sozialdemokratisch orientierter Altersgenossen unterschied.

Man fühlte sich ungerecht behandelt und übte deshalb Kritik am ‚System‘. Im Grunde sehnte man sich jedoch nach einer Republik zurück, in der Arbeiter respektiert waren und Leistung gerecht vergütet wurde.“ Ein Rosenheimer Mechaniker sagt im Interview: „Man könnte mich in etwa so einschätzen, dass ich leicht rechts, leicht links orientiert bin.“ Keiner der Befragten hatte etwas gegen „die Ausländer“: „(E)inige der jungen Arbeiter waren mit migrantischen Altersgenossen befreundet. Doch es gab eine klare Scheidelinie.

Willkommen war nur, wer sich anpasste und etwas leistete.“ Ein Betriebsrat mit Sympathie für die radikale Rechte schätzt hart arbeitende Armutsmigranten, „Flüchtlinge“ stehen aus seiner Sicht viel weiter unten in der Hierarchie: „Flüchtlinge müssen (…) raus. Wer hier jetzt herkommt, arbeitet, sich integriert, wer sich einordnet, unterordnet, kein Thema. Da habe ich ja nichts dagegen. Aber die, die nur hierherkommen und die Hand aufhalten und sich benehmen wie das Letzte und denken, die können sich alles erlauben, raus.“

Joan C. Williams berichtet in ihrer Studie über die US-Arbeiterklasse von einem Mann, der seine Klasse durch Aufstieg verlassen hat, der die rassistischen Einstellungen seiner Familienmitglieder sehr wohl kennt, aber auch ihre egalitären Werte und der nicht glaubt, „dass seine Familienmitglieder schlechte Leute sind“.

Sie haben Ansichten, die er für intolerabel hält. Zugleich ist er sicher, dass sie das Herz am rechten Fleck haben. Seine Verwandten bräuchten keine Lektion über Rassismus, sondern ein Gespräch über Angst. „Leuten zu sagen, dass sie rassistisch, sexistisch und xenophob sind, bringt einen exakt nirgendwohin. Es ist eine zu einschüchternde Botschaft. Wenn wir etwas aus der Sozialpsychologie wissen, dann dass Menschen sich nicht ändern, wenn man sie angreift – sie können sich dann nicht ändern.“

Williams zieht daraus den Schluss: „Das Ziel sollte darin bestehen, einen Keil zwischen das Laster des ideologischen Rassismus und Leute zu treiben, die es einfach nur über haben, dass in ihren Augen die ‚politisch Korrekten‘ ihre Probleme ignorieren und alles Mitgefühl – oder jede Empathie – auf diverse andere Gruppen leiten.“

Diese Haltungen finden ihre Begründungen teilweise sogar in den Traditionen und Werten der historischen Arbeiterklassenkultur. Im Bewusstsein, „dass man nichts geschenkt bekommt im Leben“ oder dass, wer „dazugehört“, bevorzugt behandelt werden sollte. Sie wurzeln in den antielitären Affekten gegen „die da oben“, in den vorindustriellen Volkskulturen, im Lokalpatriotismus. Aber eben auch im Konservativismus der Arbeiterklassenkultur.

In der wirklichen Welt dominieren die Graustufen und die Übergänge. Menschen etwa, die es satthaben, dass die Reichen immer reicher werden, während in ihr eigenes Leben immer mehr Unsicherheit einzieht. Leute, die Rassismus ablehnen, aber dennoch finden, dass gegen afghanische Jugendgangs etwas getan werden sollte, und die sich darüber aufregen, dass, wie mir das einmal ein bayerischer Gewerkschafter sagte, „die Oberen, die nichts zum Gemeinwohl beitragen, uns zu allem Überdruss noch erklären wollen, wie wir zu reden haben!“

Wie bei dem oben zitierten Mechaniker aus Oberbayern geht im echten Leben oft alles durcheinander, finden sich „eher rechte“ Auffassungen und zugleich „eher linke“ – und meist keine davon in ihrer radikalen Reinform.

Die mediale Darstellung der „einfachen Leute“ als ignorant, rassistisch und intolerant erregt dann erst recht den Zorn dieser „einfachen Leute“, die als „zornig“ vorgeführt werden (es ist dann gewissermaßen ein Zorn zweiter Ordnung), weil sie sich nicht authentisch wiedergegeben fühlen, sondern auf ungerechte Weise abgewertet sehen.

Sie haben – nicht ganz zu Unrecht – den Eindruck, ihre durchaus durchdachten, auf realen Erfahrungen beruhenden, oft auch sehr abgestuften Urteile würden nicht einmal wahrgenommen, sondern sie würden als Realkarikaturen ihrer selbst vorgeführt wie früher am Jahrmarkt die Verwachsenen oder Menschen mit Wasserkopf.

Robert Misik in FALTER 44/2019 vom 01.11.2019 (S. 18)

Posted by Wilfried Allé Saturday, November 2, 2019 8:06:00 PM Categories: Politikwissenschaft/Politik Wirtschaft
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Überreichtum 

von Martin Schürz

Zu viel Reichtum in wenigen Händen zerstört die Demokratie, warnt der Vermögensforscher Martin Schürz in einem neuen Buch – und zieht radikale Schlüsse

Verlag: Campus
Format: Taschenbuch
Genre: Wirtschaft
Umfang: 226 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.09.2019
Preis: € 25,60

Rezension aus FALTER 40/2019

Überreichtum zerstört die Demokratie

Der Ökonom Martin Schürz legt ein faktenreiches und politisch aufrüttelndes Buch über Reichtum und wie man ihn begrenzt vor

Zur Vermögensforschung hat in Österreich kaum jemand so viel beigetragen wie der Wirtschaftswissenschaftler Martin Schürz. Während über die Armen jedes Detail ihrer ökonomischen Verhältnisse amtsbekannt ist, interessierten sich Politik und Wissenschaft über Jahrzehnte nicht für die Verhältnisse der Reichen. Mit dem unter der Leitung von Schürz erhobenen „Household Finance and Consumption Survey“ der Nationalbank wurde die Datenlage besser: Das oberste Prozent der Haushalte besitzt zwischen 30 und 40 Prozent des gesamten Vermögens.

Doch die aufwendig erhobenen Daten ließen den Nationalbankökonomen unzufrieden zurück. Was bedeutet exzessiver Reichtum einiger weniger bei gleichzeitiger Armut so vieler für Gesellschaft und Demokratie? Die Ökonomie kann zur Beantwortung dieser Frage wenig beitragen. Glücklich die Fügung, dass der Autor nicht nur Ökonom, sondern auch Philosoph und Psychoanalytiker ist. So wird ein innovativer Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen des Reichtums möglich.

Schürz führt den Begriff des „Überreichtums“ ein, der dem Buch den wuchtigen Titel gibt und in der gesellschaftlichen Debatte den geeigneten Gegenbegriff zur Armut bildet. Er nimmt bei Platon Anleihe, der als „überreich“ jene Reichen bezeichnet, die nicht tugendhaft sind. Für Schürz sind jene überreich, die zu viel haben, fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien verletzen und die Demokratie zerstören.

Das Buch sucht nach Begründungen des Überreichtums. Die Debatte um Gerechtigkeit zwingt die Überreichen zumindest zur Rechtfertigung, etwa von Leistung, was sie rasch an ihre Grenzen führt. Wie sollte jemand tausendmal leistungsfähiger sein als jemand anderer? Meist wird der Gerechtigkeitsdiskurs deshalb rasch verlassen. Lieber werden beliebige Narrative zum gesellschaftlichen Verdienst der Reichen gesponnen, wie etwa jene vom innovativen Unternehmer oder gutmütigen Charakter. Den Reichen werden Tugenden wie Großzügigkeit und Mitleid zugeschrieben, und vor allem die Philanthropie erweist sich als wirkungsmächtiges Instrument der Rechtfertigung des Überreichtums. Sie signalisiert, der Reichtum käme schlussendlich doch auch den Armen zugute. Doch die aus den Gated Communities der Überreichen geleistete Philanthropie ist nur ein undemokratischer Gegenentwurf zu dem mit Rechten und Ansprüchen der breiten Bevölkerung verbundenen Sozialstaat.

Die Politik beschränkt sich – wenn überhaupt – auf bescheidene Reformvorschläge: Reichensteuern mit niedrigen Sätzen; Bildung, die nur sehr langfristig hilft; die Ideologie der Eigentümergesellschaft, die den Einzelnen mit einem Eigenheim ruhigstellen will. Für Martin Schürz ist eine Erbschaftssteuer, die dann erst wieder mit Ausnahmen durchlöchert wird, zu wenig. Die Eigentumsverhältnisse sind entglitten und dies bedarf nicht nur eines bescheidenen Beitrags der Superreichen, sondern einer demokratischen Grenzsetzung. Damit thematisiert er ein Tabu. Eigentumsfragen sind heute so verpönt wie es die Infragestellung von Ungleichheit noch vor 15 Jahren war.

Der durch die Gleichzeitigkeit von Überreichtum weniger und Armut vieler ausgelöste Zorn kann zusammen mit Mitgefühl eine tragfähige Basis für notwendiges politisches Handeln sein: Regulierung von Märkten zur Vermeidung exzessiver Pro­fite, Trockenlegen von Steuersümpfen, Vermögensregister, -steuern und -obergrenzen. Für das Gelingen ist neben der Basis aus genauen Daten und normativer Analyse vor allem aber Mut notwendig. Die ersten beiden Elemente hat Martin Schürz mit seinem wichtigen Buch bereitgestellt und an Letzterem fehlt es ihm nicht.

Markus Marterbauer in FALTER 40/2019 vom 04.10.2019 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, October 2, 2019 11:15:00 AM Categories: Wirtschaft
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Die Ibiza-Affäre 

Innenansichten eines Skandals

von Bastian Obermayer, Frederik Obermaier

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 272 Seiten
Erscheinungsdatum: 22.08.2019
Preis: € 16,50

 

Rezension aus FALTER 34/2019

Die Ibiza-Affäre neu in Buchform: „Joschi, mach das klar!“

Die schlechte Nachricht für alle, die auf weitere Skandale gehofft haben: In der 272 Seiten dicken Aufarbeitung des Ibiza-Skandals finden sich weder Sex noch Drogen. Lesenswert ist dieses Buch der beiden Süddeutsche Zeitung-Aufdecker Frederik Obermaier und Bastian Obermayer trotzdem.

Die beiden Journalisten, die federführend an der Veröffentlichung der Ibiza-Videos vergangenen Mai beteiligt waren und dadurch Langzeit-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und dessen Vertrauten Johann Gudenus zum Rücktritt zwangen, schildern in „Die Ibiza-Affäre. Wie wir die geheimen Pläne von Rechtspopulisten enttarnten und darüber die österreichische Regierung stürzten“ ganz penibel, wie sie zu dem Bildmaterial mit Strache und Gudenus von jenem Abend auf Ibiza kamen, wie sie es überprüften und wie sich die Recherche gestaltete.

Das Buch räumt mit zahlreichen Mythen auf, etwa mit jener von der FPÖ verbreiteten Behauptung, dass Strache nur in jenen sieben Minuten, die von Süddeutscher Zeitung und Spiegel veröffentlicht worden waren, die halbe Republik verscherbeln wollte, auf den restlichen Stunden Bild- und Tonmaterial hingegen staatsmännisch unterwegs gewesen sei.

Sie erklären, wieso vieles unveröffentlicht bleibt, und legen ihre Recherche offen. Dargelegt wird, wie sie ihre Quelle schützen und wieso sie nur Passagen öffentlich machen, die von öffentlichem Interesse sind.

Das trifft auf von Strache angesprochene, möglicherweise illegale Parteispenden zu, aber nicht auf böswillige Gerüchte, die Strache und Gudenus in jener Nacht über politische Konkurrenten verbreiteten.

Neben der spannenden Recherche, etwa wenn die Autoren ihr Treffen mit dem geheimen Lockvogel beschreiben, sind es vor allem die Schilderungen über diese eine Nacht auf Ibiza, die dieses Buch so interessant machen. In „Die Ibiza-Affäre“ legen die beiden Journalisten noch einmal ganz ausführlich und mit vielen zuvor nicht bekannten Details dar, wie sich Strache und Gudenus auf dieser Partyinsel um Kopf und Kragen geredet haben, wie Gudenus etwa in Straches Auftrag am Ende des Abends noch extra zur vermeintlichen Oligarchennichte geht, um den Deal zu Ende zu bringen. „Joschi, mach das klar!“, lautete der Auftrag.

„Die Ibiza-Affäre“ ist der politische Soundtrack dieses Sommers und sollte unbedingt noch vor der Wahl im September gelesen werden.

Nina Horaczek in FALTER 34/2019 vom 23.08.2019 (S. 14)

Posted by Wilfried Allé Monday, August 26, 2019 6:03:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Kurz & Kickl 

Ihr Spiel mit Macht und Angst

von Helmut Brandstätter

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Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 25.07.2019
Preis: € 22,00

 

Rezension aus FALTER 30/2019

Machtwille und Mediendominanz. Wie die türkis-blaue Regierung versuchte, den Kurier auf Linie zu bringen.

So unterschiedlich Kurz und Kickl im Auftreten sind, so sehr ähneln sie einander im Umgang mit den Medien, vor allem, was das Ziel betrifft: nämlich Einfluss zu haben, und zwar mit vielen denkbaren Methoden, wenn es sein muss auch mit der Verbreitung von Angst.

Der Unterschied lag in der Vorgangsweise. Kurz und seine Gefolgschaft machten es meistens geschickter, der Kanzler setzte lieber Mitarbeiter für Interventionen ein, griff aber auch selbst oft zum Telefon, mit einer Mischung aus Interesse an Redakteuren, deutlichen Wünschen an diese und Druck auf Eigentümer. Kickl agierte mit seinem Medienerlass vor allem gerichtet gegen KURIER, Standard und Falter, der immerhin zu einer kurzfristigen Solidarität unter Journalisten führte. Aber er wollte auch, dass seine Macht in der Regierung bekannt ist. Ein wenig Angst verbreiten, das passte ihm auch. Im ORF kursierte der Spruch: „Wenn du was werden willst, musst du zum Kickl gehen, nicht zu Strache.“ So etwas gefiel dem Politiker, der sich oft zu wenig anerkannt fühlte. (...)

Ich kann mich an kein persönliches Gespräch mit Herbert Kickl erinnern. Das klingt fast unglaublich, wenn man so lange im Wiener polit-medialen Komplex lebt. Um dieses Manko zu beseitigen, habe ich zu Beginn seiner Zeit als Innenminister um einen Termin angesucht, wie bei allen anderen Regierungsmitgliedern auch. Doch dazu kam es nie, Kickl verweigerte jeden Kontakt. Dafür sprach er mit den Eigentümern des KURIER, hier also eine Parallele zu Kurz.


Sebastian Kurz – der Kontrollor

Normalerweise nahm Kurz selbst nur die Vorbereitung von Schmutzarbeit in die Hand, hinter den Kulissen, also so, dass er nicht damit identifiziert werden konnte. Spätestens seit Kurz beschlossen hatte, die Regierung Kern/Mitterlehner zu ihrem Ende zu bringen oder ihr zumindest keinen Erfolg zu gönnen, also bald nach dem Antritt von Christian Kern im Mai 2016, begannen die Vorbereitungen für die Übernahme der ÖVP. Ein klares Ziel war die Schaffung einer der ÖVP noch freundlicheren Medienlandschaft. So hörte ich bald aus der Umgebung des Außenministers, jetzt müsse „der KURIER auf Linie gebracht werden“. Ja, genau so war die Formulierung. Dann wurde es schon persönlicher. Ein anderes Statement wurde mir so nähergebracht: „Du musst dich drei Schritte von Christian Konrad entfernen.“ Drei Schritte entfernen? Was heißt das? Warum? Und warum solle der KURIER, wie es hieß, „auf Linie gebracht werden“?

Den Versuch von Interventionen gab es in vielen Fällen, aber niemandem ist es gelungen, „den KURIER auf Linie zu bringen“. Umso größer war der Wunsch von Kurz, der das wusste. Und Christian Konrad? Der Raiffeisen-Generalanwalt und KURIER-Aufsichtsratspräsident hat mich im Sommer 2010 als Chefredakteur zum KURIER geholt und 2013 auch zum Herausgeber gemacht. In dieser Funktion hat er mir bei allen Interventionen, die bei ihm einlangten, den Rücken freigehalten. Er nahm die Unabhängigkeit des KURIER immer ernst. Vom August 2015 bis zum September 2016 war er dann Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung und sollte in dieser Funktion für das bestmögliche Management sorgen. Gerade zwischen den Ministerien, den Bundesländern und den NGOs gab es viel zu koordinieren, um den Druck auf alle diese Institutionen zu reduzieren. Für den geplanten Wahlkampf von Sebastian Kurz war es besser, mehr Probleme zu zeigen als weniger, Konrad passte nicht in die türkise Strategie, und auch ein Zeitungsherausgeber, der die Flüchtlingswelle zwar als große Herausforderung sah, aber von seinen Überzeugungen her immer für menschliche Lösungen eintrat, war der ÖVP lästig. Das Vorgehen von Kurz und seinen Leuten verlief nach einer klassischen Doppelstrategie: Entweder wir bringen den KURIER „auf Linie“, wie ja die eindeutige Losung hieß, oder der Verantwortliche muss weg. Ich habe beides gespürt. Zunächst einen durchaus werbenden Sebastian Kurz, der gerne anrief, Treffen vereinbaren ließ, Standpunkte testete. Gleichzeitig liefen Beschwerden bei den Eigentümern ein. „Ich habe niemanden angerufen“, erklärte er mir regelmäßig, wenn ich ihn auf Interventionen ansprach. Kann man solche Anrufe wirklich sofort vergessen?

„Spricht da die sozialistische Tageszeitung KURIER?“

Für den zweiten Teil der Strategie, den „KURIER auf Linie zu bringen“, waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kurz zuständig. Besonders brutal war dabei das Vorgehen von Gerald Fleischmann, einem Mann, der kurz Journalist war, die meiste Zeit seines Lebens aber Pressesprecher. Dabei muss er eine eigene Art entwickelt haben, Redakteure unter Druck zu setzen und zu verunsichern. Anruf bei einem KURIER-Redakteur: „Spricht da die sozialistische Tageszeitung KURIER?“ Er wurde erst etwas vorsichtiger, als ich im drohte, den nächsten derartigen Anruf wörtlich abzudrucken.

Auch andere Ministerinnen und Minister versuchten sich in der Methode der Message Control. Besonders patschert stellte sich Außenministerin Karin Kneissl an. Zu Beginn ihrer Amtszeit suchte der KURIER auch bei ihr um ein Interview an. Die Rückmeldung war ungewöhnlich: Ja gerne, aber sie werde nicht mit der Redakteurin sprechen, die das Interview machen wollte, wir sollten jemanden anderen schicken, ließ der Pressesprecher ausrichten. Wie bitte? Also rief ich Frau Kneissl persönlich an. Was haben Sie gegen diese Kollegin? „Diese Redakteurin hat einmal unfreundlich über mich geschrieben, mit der rede ich nicht.“ Meine Antwort: „Das muss ich zur Kenntnis nehmen, wir werden aber unseren Lesern erklären, dass und warum Frau Kneissl nicht im KURIER vorkommen will.“ Und dann sagte ich noch ein paar wenig freundliche Worte über ihre Nähe zum Boulevard, zu dem sie ja keine Berührungsängste hätte. Da reagierte sie besonders böse, erklärte mir, dass bei ihr im Zimmer einige Leute bei diesem Telefonat zuhören würden, und dann meinte sie: „Gut, schicken Sie diese Redakteurin, Sie haben mich erpresst.“ Was ich mir auch nicht gefallen ließ und drohte, diesen Vorwurf sofort auf unsere Website zu stellen. Worauf sie sich entschuldigte. Nein, in Österreich haben solche Episoden keine Konsequenzen. Im Gegenteil, es gibt immer mehr Politikerinnen und Politiker, die sich aussuchen wollen, mit wem sie reden und was über sie geschrieben wird.

Dieses kleine Beispiel zeigt, dass manche ungeübte Politikerinnen und Politiker diese Message Control nur ungeschickt versuchten. Aber die ganze Regierung hätte am liebsten nur mit Medien gesprochen, wo man sich Fragen und Reporter aussuchen kann. Und die Regierung schreckte nicht zurück, gefügige Medien mit Steuergeld mittels Inseraten zu kaufen. Das war auch zuvor der Fall, aber Kurz und Co. haben uns ja oft versprochen, sie wollten „neu regieren“.

Kurz, Kickl und Strache – so sehen sie die Medien

Ganz grundsätzlich haben die drei Herren unterschiedliche Zugänge zu Journalisten und Medien. Kurz will sie gebrauchen, Strache hat sich mit ihnen arrangiert und Kickl würde die kritischen am liebsten abschaffen, und da er das nicht kann, müssen sie einfach boykottiert werden. (...) Dezember 2017. Die Regierungsbildung ist fast abgeschlossen, es sind nur mehr Details offen. Ein guter Grund für den designierten Bundeskanzler, sich wieder ins Studio von OE24.tv zu setzen. Sebastian Kurz spricht gerne mit Wolfgang Fellner, denn dieser stellt keine Fragen, sondern wirft unelegant, aber bewusst ein Hölzl nach dem anderen jenen Gesprächspartnern zu, die in seiner Gunst stehen. Besonders lieb wird behandelt, wer viel Geld im verschlungenen Medienkonstrukt der Fellners gelassen hat. Während die Sendung läuft, die natürlich als LIVE ausgewiesen wird, rufe ich Kurz am Handy an. Er hebt sofort ab. Erstaunlich, meine ich, wie könne er denn telefonieren, wenn er LIVE im Studio sitzt? Na ja, das ist halt aufgezeichnet, so seine Antwort.

Medien haben für ihn keine wesentliche Rolle in der Demokratie, er sieht sie eher als Verbreitungsorgane seiner Botschaften. (...) Die Demokratie lebt unter anderem vom Spannungsverhältnis zwischen der Politik auf der einen Seite und ihrer Beobachtung auf der anderen Seite. Genau das hat Kurz nie wirklich akzeptiert. Er sieht sich als Politiker, der Medien einfach nutzen will: Die Bilder seines Kameramanns und die Botschaften seiner Pressesekretäre sollen seine öffentliche Wahrnehmung bestimmen, nicht unabhängige Journalisten, die seine Inszenierungen und seine Worte hinterfragen.

„Wer mag mich?“

Spätestens seit dem 19. Juni 2017 habe ich verstanden, wie Kurz versucht, mit Journalisten zu spielen. Da war er bereits ÖVP-Obmann, die Regierung hatte er beendet und er war voll auf die Wahl im Herbst eingestellt. Wir trafen uns im Restaurant Mario in Wien Hietzing. In nur zwei Stunden habe ich sehr viel über Kurz erfahren, seinen Zugang zu Medien, seine Stärken, vor allem aber auch seine Schwächen. Kurz braucht ein Umfeld, in dem man ihn schätzt und mag.

Wenn das nicht der Fall ist, will er dahinterkommen, was denn getan werden könne, um gemocht zu werden. Ich kann es bis heute nicht glauben, wie wichtig es diesem raffinierten und in der Öffentlichkeit stets kontrolliert auftretenden Politiker ist, dass man „ihn mag“. Anderen erzählte er, dass er sich schwer damit tut, dass „man ihn hasse“. Diese Sehnsucht gemocht, vielleicht geliebt zu werden, treibt wahrscheinlich viele Menschen in Berufe mit starker Öffentlichkeitswirksamkeit. Bei Kurz klingt das immer wieder durch, wenn er etwa bei Reden einfließen lässt, dass er sich heute besonders wohl fühle, weil ja so viele Frauen und Männer da seien, die „ihn mögen“. Aber an diesem Abend wurde doch klar, dass Medien für ihn (noch) notwendige Hilfsmittel darstellen, solange nicht die ganze Kommunikation über die Sozialen Medien läuft. Und dass er keine Hemmungen hat, sich einzumischen, wo man ihn lässt. Den Hinweis, dass er ja Journalisten habe, die sehr positiv über ihn schrieben, quittierte er mit einem trockenen: „Ja, aber die rufe ich auch an und sage ihnen, es könnte noch besser gehen.“ Und wie sorgten Kurz und seine Leute, vor allem (die Pressesprecher, Anm.) Gerald Fleischmann und Johannes Frischmann, dafür, dass es stets „noch besser“ ging? Durch brutalen Druck und penetrante Interventionen, immer wenn ihnen Geschichten nicht gefielen und oft, wenn sie Unangenehmes ahnten oder auch nur Unkontrolliertes wahrnahmen. Im ORF hörte man schon vor Regierungsantritt von Sebastian Kurz, dann aber umso häufiger, dass vor allem diese Mitarbeiter sich meldeten, sobald auch nur ein Pressetext ausgeschickt wurde. Wie denn die Geschichte aussehen würde und ob man denn helfen könne, das waren die harmlosen Fragen. Es gab auch andere, und es gab und gibt auch Formulierungen, denen man kein Fragezeichen anhängen konnte.

Helmut Brandstätter in FALTER 30/2019 vom 26.07.2019 (S. 21)

Posted by Wilfried Allé Thursday, July 25, 2019 4:10:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Rettet den Boden! 

Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen

von Florian Schwinn

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Verlag: Westend
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 240 Seiten
Erscheinungsdatum: 04.06.2019
Preis: € 24,70

 

Rezension aus FALTER 25/2019

Am Boden bleiben, erdverbunden oder geerdet sein: Durch die Sprache wird uns bewusst, wie wichtig die Ressource Boden ist. Beim Strukturwandel der Landwirtschaft zur Industrie habe die Branche an Bodenhaftung verloren, meint Florian Schwinn, mit drastischen Folgen für Klima, Pflanzen, Tiere und Bauern. Der Bauernbund sei kein guter Partner, um das zu ändern. Er warne immer nur vor einer Preissteigerung bei den Lebensmitteln. Doch genau die wäre im Sinne der Bauern, um nicht von Krediten abhängig zu sein. Die derzeitigen europäischen Agrarsubventionen seien inspirationslos und kontraproduktiv, moniert Schwinn.

Sein eindrücklicher Appell für eine „Humuswende“ zur Rettung der noch verbleibenden fruchtbaren Böden wartet nebenbei auch noch mit spannenden Geschichten über den Landraub in Rumänien, die Selbstmordrate unter französischen Bauern oder das Sexualleben des Regenwurms auf.

Juliane Fischer in FALTER 25/2019 vom 21.06.2019 (S. 34)

Posted by Wilfried Allé Thursday, June 20, 2019 10:05:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Klare, lichte Zukunft 

Eine radikale Verteidigung des Humanismus

von Paul Mason, geb. 1960 in Leigh, ist ein englischer Autor und vielfach ausgezeichneter Fernsehjournalist. Er arbeitete lange für die BBC und Channel 4 News und schreibt regelmäßig für den Guardian.

Übersetzung: Stephan Gebauer
Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 415 Seiten
Erscheinungsdatum: 13.05.2019
Preis: € 28,80

Kurzbeschreibung des Herstellers:

Stellen Sie sich vor, Sie geben die Kontrolle über große Teile Ihres Lebens an ein Computerprogramm ab, von dem es heißt, es regele das Zusammenleben effektiver als jeder Staat. Was vielen als undenkbar erscheinen mag, erweist sich als bittere Realität, wenn man »Computerprogramm« durch »Markt« ersetzt. Ging der Kapitalismus bislang mit liberalen Freiheitsrechten einher, so nimmt er unter Herrschern wie Putin oder Trump zunehmend autoritäre Züge an. Können diese nun auch noch auf die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz und digitaler Überwachung zurückgreifen, ist der Mensch als autonomes Wesen in Gefahr.

Um die Werte der Aufklärung in die Zukunft zu retten, legt Paul Mason eine radikale Verteidigung des Humanismus vor. Ausgehend von Karl Marx’ Frühschriften entwirft er ein Bild vom Menschen, das ihn als ein selbstbestimmtes und zugleich gemeinschaftliches Wesen zeigt. Mason begleitet uns an die Orte vergangener und gegenwärtiger Kämpfe um Würde und Gerechtigkeit, von der Pariser Kommune über das von der Sparpolitik gebeutelte Griechenland bis hin zum Protest indigener Aktivisten auf der Inselgruppe Neukaledonien. Die Erben der Frauen und Männer auf den Barrikaden von damals, so Mason, sind die vernetzten Individuen von heute. Paul Mason, geboren 1960 in Leigh, ist ein englischer Autor und vielfach ausgezeichneter Fernsehjournalist. Er arbeitete lange für die BBC und Channel 4 News und schreibt regelmäßig für den Guardian.

Posted by Wilfried Allé Friday, May 24, 2019 12:48:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Haltung 

Flagge zeigen in Leben und Politik

von Reinhold Mitterlehner

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Verlag: Ecowin
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 17.04.2019
Preis: € 24,00

Rezension aus FALTER 16/2019

Der Kronzeuge der Kurz-Revolution

Zwei Jahre nach seinem Rücktritt legt Reinhold Mitterlehner offen, wie er die Machtübernahme der ÖVP durch Sebastian Kurz erlebt hat. Ein Kapitel politischer Zeitgeschichte gehört neu geschrieben

Es waren über 500 SMS, die Reinhold Mitterlehner auf seinem Handy fand, nachdem er die für ihn wohl schwierigste Pressekonferenz seines Lebens gegeben hatte. „Sagen Sie einmal: ‚Ich trete von all meinen Ämtern zurück‘, und zwar Wort für Wort“, hatte ihm sein Pressesprecher wenige Minuten davor noch geraten, bevor er am 17. Mai 2017 in der ÖVP-Parteizentrale in der Wiener Lichtenfelsgasse vor die Kameras trat. „Darüber sind schon viele gestolpert.“

Mitterlehner stolperte nicht, weder über den einen noch über die anderen Sätze, mit denen er sich als ÖVP-Chef und bis dato letzter Vizekanzler einer großen Koalition verabschiedete. Er wolle kein Platzhalter sein, keiner, der an einem Amt klebe, erst recht nicht, wenn in der Koalition „Regierungsarbeit und gleichzeitig Opposition“ betrieben werde.

Fast zwei Jahre sind seither vergangen, und oft wurde Mitterlehner gefragt, was denn die wirklichen Gründe gewesen seien, aus denen er sich damals zurückgezogen habe. Jetzt sind sie in Buchform nachzulesen. „Haltung“ hat Mitterlehner seine biografische Skizze genannt, in der er nicht nur seine Sicht des Machtwechsels in der ÖVP offenlegt, sondern auch erzählt, warum gerade er, der Sohn eines Mühlviertler Gendarmen und einer Hausfrau, erstes von fünf Geschwistern, bis zum Schluss an die große Koalition als bessere Regierungsform geglaubt hat und immer noch glaubt. Er sieht sich als Kind der Aufstiegsgesellschaft der Zweiten Republik, die er immer noch schätzt und warnt vor der „Dritten Republik“, vor dem Rechtspopulismus Sebastian Kurz’ und der Digitalisierung der ÖVP-Parteienstruktur.

Abrechnung, Rache, Richtigstellung – das sind die Schlagworte, unter denen Mitterlehners Werk in den Medien eingeordnet wird. Dabei ist es mehr als das. Mitterlehner schreibt im Bewusstsein, Zeitzeuge einer historischen Umbruchsphase zu sein. Die Finanzmarktkrise 2008, die Flüchtlingskrise 2015 und natürlich die Machtübernahme Sebastian Kurz’ in der ÖVP im Jahr 2017 sind drei Schlüsselmomente, die er aus nächster Nähe miterlebt hat. Er berichtet darüber nicht mit Schaum vor dem Mund, sondern mit der ihm eigenen trockenen Nüchternheit, die ihn schon als Politiker auszeichnete und ihm zwar über die Jahre viel Respekt, aber keine große Empathie eintrug.

Berichten, wie er es erlebt hat, aufzeichnen, was aus seiner Sicht passiert ist. Die Hoheit des Erzählers nicht jenen überlassen, die jetzt an der Macht sind, das sind Mitterlehners Motive. Sein Buch soll Zeugnis und historische Quelle zugleich sein, vor allem für die Jahre 2016 und 2017, die Österreichs Politik durcheinanderwirbelten wie kaum zwei andere und, historisch gesehen, den Wechsel von der Zweiten zur Dritten Republik markierten.

2016 fanden nicht nur die Präsidentschaftswahlen statt, bei denen erstmals keiner der beiden großkoalitionären Kandidaten eine Mehrheit bekam, sondern letztlich, nach einer zuerst aufgehobenen und dann auch noch verschobenen Stichwahl, Alexander Van der Bellen, der von den Grünen, im zweiten Wahlgang dann auch von der SPÖ, Teilen der Neos und einigen Bürgerlichen unterstützt wurde.

2016 wurde auch der damalige SPÖ-Chef und Bundeskanzler Werner Faymann vom ÖBB-Boss Christian Kern unfreiwillig abgelöst. Mitterlehner war damals ÖVP-Chef und Vizekanzler, Kurz Außenminister. Mitterlehner sei für Kurz völlig überraschend zurückgetreten, weil er mit dem neuen SPÖ-Chef Kern nicht zurande gekommen sei, so lautet die türkise Version der Geschichte. Die große Koalition sei gescheitert, Kurz habe sie überwunden und regiere jetzt mit „neuem Stil“.

Mitterlehner erinnert sich an diese Phase in seinem Buch entschieden anders. Kurz wollte schon im Mai 2016, gleich nachdem Kern SPÖ-Chef und Kanzler geworden war und in den Umfragen abhob, in Neuwahlen gehen. Bereits im März gab er beim Meinungsforscher Franz Sommer eine Meinungsumfrage in Auftrag, um seine Chancen als ÖVP-Spitzenkandidat auszuloten. Plus 15 Prozent seien drinnen. Als ihm die ÖVP damals jedoch den Absprung in Neuwahlen verweigerte, begann er damit, die Koalitionsarbeit systematisch zu zermürben und seine Machtübernahme vorzubereiten.

Was ihm die ganze Zeit über fehlte, war einer, der ihm die undankbare Rolle des Sprengmeisters der Koalition abnahm, also die SPÖ so sehr sekkierte, bis vielleicht Kern von sich aus das Handtuch werfen würde. Selber wollte er das keinesfalls, das hätte sein wohl gehütetes Image als Messias, der sich „am gegenseitigen Anpatzen nicht beteiligt“, zerstört. Mit diesem Slogan zog Kurz später in den Wahlkampf.

Mitterlehner erinnert sich an ein entscheidendes Gespräch zwischen ihm und Kurz am 11. Mai 2016, am Tag nach dem Parteivorstand, als die Partei sich gegen die von Kurz gewünschten Neuwahlen entschied. Es war der Wendepunkt in ihrer politischen Beziehung. Mitterlehner solle die Koalition sprengen, er habe die dafür notwendige Glaubwürdigkeit, bot Kurz ihm an. Als Dankeschön könne er sich dann aussuchen, was er werden wolle. Parlamentspräsident oder etwas Ähnliches.

Mitterlehner erbat sich Bedenkzeit und sagte ihm dann sinngemäß mit folgender Begründung ab. „Wenn ich den Koalitionsbruch provoziere und es geht schief, hält mich jeder in der Partei für einen Wahnsinnigen. Wenn wir die Wahlen verlieren oder wieder Zweiter werden, die Konstellation also gleich bleibt oder wir gar nicht mehr in der Regierung sind, genauso. Gewinnst du tatsächlich und ist richtig, was du sagst, dann bleibt über, dass du der Sieger bist, der Mitterlehner aber der Sprengmeister war. Also was soll das für eine Option sein?“ Dafür zeigte Kurz Verständnis, sagte seinem Parteichef aber auch, dass er ab jetzt mit seinen „Problemen alleine bleibe und die volle Verantwortung tragen müsse. Er würde die Rolle des Außenministers wahrnehmen und sonst nichts.“

Letztlich war es der damalige Innenminister – und nunmehrige Nationalratspräsident – Wolfgang Sobotka, der im Frühling 2017 den Sprengmeister für Kurz machte.

Mitterlehner weigerte sich bis zum Schluss, jene Regierungsform zu vernichten, mit der sich der gelernte Sozialpartner am meisten identifizierte: die große Koalition. Im Gegenteil, er kämpfte bis zuletzt um sie. Anfang 2017 hatten Kern und Mitterlehner noch versucht, das Regierungsübereinkommen nachzubessern. Die Verhandlungen Ende Jänner wurden zum Polit-Krimi, weil Sobotka seine Unterschrift unter den neuen rot-schwarzen Pakt verweigerte. Es war aber nicht nur Sobotka, der in diesen brenzligen Wintertagen die Regierungsarbeit sabotierte, sondern auch Kurz höchstpersönlich, schildert Mitterlehner.

Über Kurz’ Rolle beim Bruch der Koalition ist bislang nur spekuliert worden, einige Details, die Mitterlehner schildert, sind komplett neu. Noch am vorletzten Verhandlungstag, Samstag, dem 28. Jänner 2017, kündigte Kurz dem engsten ÖVP-Verhandlerkreis an, ebenfalls nicht zu unterzeichnen. Kurz nach Mitternacht bat der Außenminister Mitterlehner und dessen Staatssekretär Harald Mahrer ins Ringstraßenhotel Le Meridien und forderte vom Vizekanzler erneut, nicht abzuschließen. Mitterlehner erinnert sich unter anderem so genau an die Begegnung, weil er seine Brieftasche mitten am Tisch vergaß, auf dem auch einige leere Gin-Tonic-Gläser standen.

Mitterlehners Vergangenheitsaufarbeitung kommt für Sebastian Kurz zur Unzeit. Der 32-jährige ÖVP-Chef und Bundeskanzler ist ungebrochen populär, aber die in den ersten 17 Monaten zur Schau gestellte Harmonie in der türkis-blauen Koalition schwindet. Vizekanzler Heinz-Christian Strache ist mit der Identitären-Affäre in die internationalen Schlagzeilen geraten. Ein Regierungspartner mit rechtsextremen Kontakten, das passt so gar nicht in Kurz’ Drehbuch.

Und es regt sich etwas im christlich-sozialen Lager. Die Proteste sind überschaubar, aber in Summe trotzdem nicht zu übersehen. Da ist die breite Bürgerbewegung „Uns reicht’s“ in Vorarlberg, die sich gegen die Ausländerpolitik der FPÖ in der Regierung stellt. Der Städtebund protestiert gegen das Regierungsvorhaben, Asylwerbern, die in Gemeinden Gärten pflegen, Schüler lotsen oder andere gemeinnützige Dienste tun, nur mehr maximal 1,50 Euro „Arbeitslohn“ auszuzahlen. Letzten Sonntag sprach Kardinal Christoph Schönborn in der ORF-„Pressestunde“ aus, was sich viele Bürgerliche bisher nur im Stillen gedacht haben. Er mache sich „Sorgen um die Asylpolitik“. Asylwerber werden unter Generalverdacht gestellt, das Schild „Ausreisezentrum“ am Tor der Erstaufnahmestelle Traiskirchen sei „einfach unmenschlich“.

Und jetzt steht auch die immer wieder wiederholte Erzählung seiner unbefleckten Obmann-Empfängnis in Zweifel. War Kurz wirklich der edle Retter aus der Not, der sich aufopferte und die darniederliegende Volkspartei, von Mitterlehners Rücktritt überrascht und überrumpelt, übernahm und bei den darauffolgenden Neuwahlen zum Sieg führte?

Tatsächlich lag die ÖVP unter Mitterlehner im Frühjahr 2017 in den Umfragen mal knapp unter, mal knapp über der 20-Prozent-Marke. Kaum übernahm sie Kurz im Mai, schnellte sie auf stabile 30 Prozent und gewann die Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017 mit 31,5 Prozent. Nicht einmal Mitterlehner glaubt mittlerweile, dass er bei Wahlen als Obmann dieses Ergebnis hätte einfahren können.

Aber das mit dem Überrascht- und Überrumpelt-Sein, das wird spätestens nach der Lektüre von Mitterlehners Erinnerungen nicht mehr haltbar sein. Das Image des makellosen Messias ebenso wenig. Stattdessen zeigt sich im Rückblick ein Machtpolitiker erster Güte, dem Risiko nicht fremd ist. Und der die Wahrheit auch nur eine Tochter der Zeit nennt, wie einst der rechtskonservative ÖVP-Vordenker Andreas Khol.

Erste Zweifel an Kurz’ unschuldiger Version der Machtübernahme hätten genaue Beobachter schon am 14. Mai 2017 haben können, als Kurz nach dem ÖVP-Parteivorstand das erste Mal als designierter neuer ÖVP-Chef vor die Presse trat. Vom neuen Parteinamen über die neue Parteifarbe bis zum Social-Media-Auftritt wirkte alles wie aus einem Guss. Keine Spur von Improvisation, sondern perfekt vorbereitet.

Im September 2017 tauchte dann ein ganzes Konvolut von Dokumenten aus dem Umfeld Kurz’ auf, das nahelegte, dass Kurz seine Machtübernahme lang vorher minutiös vorbereitet hatte. Der Falter veröffentlichte die „Kurz-Leaks“ fast vollständig auf seiner Homepage im Original. Inzwischen sind sie im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte nachzulesen – als historisches Dokument und Quellenmaterial für Historiker, die später einmal über die Ära Kurz forschen wollen. Seine Wahlkampf- und mittlerweile Regierungsstrategie, als eine Art höflicherer Strache aufzutreten, findet sich dort ebenso wie „FPÖ-Themen, aber mit Zukunftsfokus“ als Grundlinie des Wahlprogramms. Teil der Unterlagen ist auch das Projekt „GSK“, das Kurz im Mai 2016 startete, also kurz nachdem er damit gescheitert war, die ÖVP in schnelle Neuwahlen zu treiben. Damals verhandelten Vertraute der Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss, Kurz’ und des damaligen Neos-Chefs Matthias Strolz über eine mögliche Wahlplattform nach dem Vorbild von Emmanuel Macrons En Marche!

Wie lief das konkret ab? Da bereitet der eine, die Zukunftshoffnung, die Machtübernahme vor, während der andere, der offizielle Amtsinhaber, so tut, als wäre nichts? Im Idealfall ist so eine Doppelstrategie abgesprochen und damit sehr professionell, eine ideale Amtsübergabe. Im schlimmsten Fall ist sie „systematische Illoyalität“, wie es Mitterlehner in „Haltung“ nennt, mit einem Fragezeichen. Denn Mitterlehner überlässt es seinen Lesern, sich ein Urteil zu bilden über jene Monate, in denen er zwar noch formal Parteichef war, aber Kurz schon die Geschicke der Partei lenkte. „Faktisch gab es in dieser Phase zwei ÖVP-Chefs, mich, den offiziellen, und einen inoffiziellen, gewissermaßen heimlichen, nämlich Sebastian Kurz. Er baute eine Art Parallelimperium auf mit wöchentlichen Parallelbesprechungen, meistens sonntags. Bei unseren regulären Sitzungen war dann deutlich spürbar, dass Dinge vorbesprochen und anders akkordiert worden waren und ich mehr oder weniger ein Potemkin’sches Dorf führte. Für mich wäre es ein Befreiungsschlag gewesen, auch öffentlich sagen zu können, dass Kurz unser Spitzenkandidat sei. Das wollte er jedoch partout nicht, denn ab dem Zeitpunkt wäre er natürlich sofort dem Feuer der Opposition ausgesetzt gewesen.“

Wie belastend das alles gewesen sein muss, ließ Mitterlehner nur einmal kurz durchschimmern, als er zu Jahresanfang 2017 bei Claudia Stöckls „Frühstück bei mir“ auf Ö3 zu Gast war und dabei auch erstmals öffentlich über die schwere Krankheit seiner ältesten Tochter aus einer früheren Beziehung sprach, die im Herbst zuvor gestorben war. Mit einem Mal war Mitterlehner, der unnahbare Wirtschaftskämmerer, der sich als ÖVP-Chef mit seinem Cartellverbands-Spitznamen „Django“ als cooler Macher inszeniert hatte, auch ein Mensch zum Mitfühlen und Angreifen.

Schon damals begann Mitterlehner ein Interesse an sich als Person zu spüren, das er so in der Politik nicht kannte. Menschen kondolierten ihm zum Tod seiner Tochter, nach seinem Rücktritt wollten sie wissen, wie alles wirklich war mit Kurz und den Türkisen. Trotzdem beschloss Mitterlehner nach seinem Rücktritt, sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Interviewanfragen lehnte er ab, stattdessen ließ er sich von einem Coach dabei unterstützen, den Schritt in sein neues Leben als Unternehmer und Privatperson besser hinzukriegen.

Prozesse mit Unterstützung besser zu organisieren, Verwaltung bürgernäher machen, den Staat optimieren – das waren immer schon Lieblingsthemen des promovierten Juristen, der es nur dank seiner Tante, die gleichzeitig seine Volksschullehrerin war, ans Gymnasium und dann auf die Universität Linz schaffte. Mitterlehners wilde Jahre währten kurz, dazu gehörten lange Haare, Schlaghosen und die Geburt seiner ersten Tochter, da hatte er gerade erst zu studieren begonnen. Dass sich das Leben nicht in festgefügte Schemata pressen lässt, erfuhr Mitterlehner früh, und entsprechend unorthodox und gleichzeitig pragmatisch positionierte er sich dann auch als Nationalratsabgeordneter.

Er trat für eine gemeinsame Schule ein, als das in der ÖVP noch ein No-Go war, dafür, dass sich Österreich endlich als Einwanderungsland verstehen und das Potenzial der „Ausländer“ nutzen soll und für eine modernere Frauenpolitik. Für einen ÖVPler forderte er so progressive Dinge wie ein einkommensabhängiges Karenzgeld und bessere Kinderbetreuung, auch für die Kleinsten. Das brachte ihm den Ruf ein, ein wenig unberechenbar und mitunter stur zu sein, und verzögerte seine politische Karriere.

Erst mit 53 wurde Mitterlehner 2008 Wirtschaftsminister, und dass er 2014 ÖVP-Chef wurde, war auch mehr Zufall. Sein Vorgänger Michael Spindelegger schmiss alles hin, ohne einen Nachfolger zu designieren, Mitterlehner ergriff die verspätete Chance. Er war nie der Herzenskandidat seiner Partei, er war von Anfang an als Übergangsobmann punziert, schließlich war der um 31 Jahre jüngere Kurz seit 2013 als Staatssekretär für Integrationsfragen der heimliche Star.

Mitterlehner und Kurz trennt nicht nur eine ganze Generation, sie haben auch ein völlig anderes Politikverständnis. Mitterlehner ist Großkoalitionär und Sozialpartner durch und durch, sozialisiert im mitunter mühseligen, aber aus seiner Sicht sinnvollen Suchen nach dem gesellschaftspolitischen Konsens, der die Zweite Republik prägte. Entsprechend kritisch fällt in „Haltung“ sein Blick auf seinen Nachfolger aus.

Er sieht Kurz als letztlich sachpolitisch desinteressierten Marketingpolitiker, der nur umsetzt, was Umfragen gerade als beliebt prognostizieren. Und weil sich derzeit mit Stimmungsmache gegen Fremde gut regieren lässt, werden alte Wertmaßstäbe bedenkenlos beiseite geschoben. Egal ob Familienbeihilfe, Mindestsicherung oder Auszubildende: Menschen erhalten unter Türkis-Blau vom Staat unterschiedlich hohe Zuwendungen, je nachdem, ob sie Migrationshintergrund haben oder nicht, schreibt Mitterlehner. Die Sorge, dass sich Österreich auf dem Weg in eine autoritäre, illiberale Demokratie befinde, bewegte Mitterlehner am Ende auch dazu, seinen Rückzug zu beenden und als Buchautor in die öffentliche Debatte zurückzukehren. „Demokratie heißt nicht zentrale Führung, Demokratie lebt von freier Meinung, Partizipation und der Vielfalt in unserer Gesellschaft“, schreibt er. „Genau dazu, zum Nachlesen und Nachdenken, möchte mein Buch ein Beitrag sein.“

Die türkisen Kommunikatoren beeilten sich, Mitterlehners Werk bereits im Vorfeld als Elaborat eines Gekränkten abzustempeln. „Mitterlehner und Christian Kern haben sich wiederholt getroffen. Kern steckt hinter der Idee, dass Mitterlehner ein Abrechnungsbuch“ schreibe, wurde ein „hochrangiger Türkiser“ in der Gratis-Boulevardzeitung Österreich Anfang Februar zitiert. Die Kronen Zeitung spekulierte, dass es wohl kein Zufall war, dass sich Mitterlehner eine Redakteurin des kanzlerkritischen Falter als „Schreibhilfe“ holte.

Dabei ist es gängige Praxis, dass Politiker oder Prominente ihre Autobiografien oder Erinnerungen mit Hilfe eines Publizisten verfassen. Politiker zu sein und lange Texte zu schreiben sind kaum vereinbar, die Kultur des geschriebenen Wortes hat im zerstückelten und durchgetakteten Alltag der Spitzenpolitik keinen Platz. Auch für Mitterlehner war das Buchschreiben eine neue Erfahrung. Der 1955 geborene hat seine Karriere stets mit Assistenten, Sekretären und Sprechern verbracht und wenn, dann Reden, Buchbeiträge oder Vorworte diktiert. Mittlerweile tippt er selber, und das ganz schön flott.

Barbaba Tóth in FALTER 16/2019 vom 19.04.2019 (S. 11)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, April 17, 2019 12:18:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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China First 

Die Welt auf dem Weg ins chinesische Jahrhundert

von Theo Sommer

Verlag: C.H.Beck
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 480 Seiten
Erscheinungsdatum: 25.01.2019
Preis: € 26,80

 

"Wenn heute in China ein Sack Reis umfällt, bebt die ganze Welt."

Theo Sommer

China hat sich in wenigen Jahrzehnten vom Armenhaus im Mao-Look zur Hightech-Nation gewandelt. Vielspurige Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszüge verbinden die Zentren. Oft heißt es, die Technologie sei nur importiert, ja geraubt, und die sozialen und ökologischen Probleme seien übermächtig. Doch das ist eine gefährliche Täuschung, wie Theo Sommer eindrucksvoll zeigt. Wer sein luzides Buch voller überraschender Fakten und Zusammenhänge gelesen hat, wird China und den Westen mit anderen Augen sehen.
In immer mehr Zukunftssparten wie erneuerbare Energien oder Elektromobilität übernimmt China die Führung. Das Seidenstraßen-Projekt stellt wichtige Handelswege unter chinesische Kontrolle. Außenpolitisch trumpft China immer mehr auf, in Asien auch militärisch. Der neue starke Mann Xi Jinping hat sich eine Machtfülle gesichert, wie sie nicht einmal Mao hatte. Er perfektioniert den Überwachungsstaat mit digitaler Gesichtserkennung und einem an Orwell gemahnenden "Sozialkreditsystem". Auch hier spielt China eine beängstigende Vorreiterrolle. Das chinesische Jahrhundert hat begonnen. Es kommt jetzt darauf an, es zu verstehen und sich zu behaupten. Theo Sommer, Journalist und Historiker, war 20 Jahre lang Chefredakteur der ZEIT und zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung. Asien ist eines seiner großen Lebensthemen. Er reist seit fast fünf Jahrzehnten immer wieder nach China, oft als Begleiter hochrangiger politischer Delegationen, und hat vielfach zur Rolle Chinas in Asien publiziert.

Posted by Wilfried Allé Monday, March 4, 2019 10:14:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Die Politische Ökonomie des Populismus 

Wer über Populismus redet, darf nicht länger über Kapitalismus schweigen

von Philip Manow

Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Politikwissenschaft/Politik, Wirtschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 12.11.2018
Preis: € 16,50

Rezension aus FALTER 48/2018

Der Aufstand der noch nicht Abgehängten

Der Politologe Philip Manow enthüllt in einer überraschenden Studie die ökonomischen Ursachen für den Erfolg der Populisten

Mit kühler Empirie schaltet sich der deutsche Politikwissenschaftler Philip Manow in die Kontroverse über das Wesen des politischen Populismus ein. Philosophinnen wie Chantal Mouffe sind in ihrem demokratietheoretischen Ansatz spekulativ, Jan-Werner Müllers These über den moralischen Alleinvertretungsanspruch der Populisten bleibt vage.

Manow lässt die vertrauten Argumente über den irrationalen Aufstand der Wutbürger gegen die Eliten beiseite und versucht anhand von Statistiken die ökonomischen Ursachen des Wahlverhaltens zu erklären. Explizit wendet sich der Autor gegen die Annahme, wonach der Populismus eine leere Form sei, die mit beliebigen Inhalten gefüllt werden kann, wenn nur der Zornpegel stimmt. Manow interpretiert den Populismus als verständlichen Protest gegen die Globalisierung, und zwar gegen zwei ihrer hauptsächlichen Erscheinungsformen: den internationalen Handel und die Migration, also der grenzüberschreitende Bewegung von Geld und Gütern einerseits und Personen anderseits.

Nichts zu gewinnen

Der Autor entwirft eine politische Geografie Europas, die im Süden den linkspopulistischen Widerstand gegen Austerität und Neoliberalismus, im Norden die Angst vor der Zuwanderung verzeichnet. Die Wähler der Populisten setzten sich nicht aus Modernisierungsverlierern zusammen, sondern aus jenen, die etwas zu verlieren haben. Die Alternative für Deutschland (AfD) ist gerade im prosperierenden Süddeutschland erfolgreich. Manow erklärt diesen vermeintlichen Widerspruch damit, dass in Deutschland der Wohlfahrtsstaat besonders zugänglich sei. Wer hier nach 20 Jahren die Arbeit verliert, steht am Arbeitsamt neben dem Flüchtling, der gerade ins Land gekommen ist und dieselbe staatliche Unterstützungen bekommt. Die Populisten stechen in diese Wunde.

In Süditalien hingegen sind Migranten kein Thema. Hier steht der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und damit zu sozialer Absicherung ohnehin nur Inländern offen. Die Zuwanderer schuften auf den Feldern wie Sklaven. In Süditalien wird daher nicht die offene Grenze, sondern die Sparpolitik als Bedrohung empfunden. Wenn der Staat Beamte entlässt und Pensionen kürzt, bricht die Nachfrage auf dem heimischen Markt ein. Der Protest der neuen Regierung Italiens gegen die Sparzwänge der EU wird so verständlicher. Manows Kriterien auf Österreich angewandt: Mit dem Ausschluss der Migranten von Sozialleistungen kompensieren die Türkis-Blauen jene Verluste, die sie mit einer wirtschaftsliberalen Agenda selbst produzieren.

Verluste der Europäisierung

Die Analyse endet mit einem düsteren Ausblick auf die nächsten EU-Wahlen. Der Urnengang wird gemeinhin als marginales Ereignis, als Nebeneffekt innenpolitischer Konflikte gewertet. Manow hingegen nimmt Brüssel ernst und wertet die Wahlen als Möglichkeit, gegen die Prinzipien der EU zu protestieren, die von vielen als Bedrohung empfunden werden. Der freie Verkehr von Gütern, Kapital, Dienstleitungen und Personen sei ein Diktat mit teilweise verheerenden Folgen. „Globalisierung findet als Europäisierung eine ihrer intensivsten Ausprägungen“, schreibt Manow.

In der EU spitzt sich das Drama des Populismus zu und strahlt in die Länder zurück. Während die Regierenden das Mantra der Integration predigen, füllen sich die unteren Ränge mit Europaskeptikern. Die Nachfrage nach populistischem Protest bleibt groß. Mit Manows politischer Ökonomie verliert er seinen moralischen Appeal. Wer über Populismus redet, darf nicht länger über Kapitalismus schweigen.

Matthias Dusini in FALTER 48/2018 vom 30.11.2018 (S. 22)

Posted by Wilfried Allé Saturday, December 8, 2018 1:21:00 PM Categories: Politikwissenschaft/Politik Wirtschaft
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Grenzen der Privatisierung 

Wann ist des Guten zu viel?

von El Hassan Bin Talad, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Oran R. Young, Matthias Finger, Marianne Beisheim, Harald G. Woeste

Ernst Ulrich von Weizsäcker über die Zukunft der Welt: Was wir angesichts Klimawandel, stetig wachsender Bevölkerung und knapper Ressourcen ändern müssen, wenn wir bleiben wollen.

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Naturwissenschaftler, Ex-Politiker und Co-Präsident des Club of Rome (2012 bis 2018), ist Optimist: Trotz der Probleme und Herausforderungen der Gegenwart wie dem Klimawandel, dem Artensterben und der Armut hält er eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Zukunft der Menschheit für möglich. Seine These ist, dass wir über genügend Wissen und Ressourcen verfügen, die erforderlichen Veränderungen für den Erhalt der Welt zu schaffen und den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte und nachhaltige Basis aufzubauen.

Verlag: Hirzel, S., Verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 376 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.08.2006
Preis: € 30,70


Auf dem Prüfstand
Seit über zwei Jahrzehnten ist die Privatisierung auf Siegeszug - mit dem erklärten Ziel, die Menschheit aus dem Elend zu befreien. Sie hat in der Tat etwas Befreiendes und wirkt manchmal segensreich, doch leider tut sich die Fachwelt schwer damit, auch die Schattenseiten wahrzunehmen.

Dieses Buch präsentiert sowohl positive als auch negative Beispiele, und es versucht, politische Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen zu ziehen. Dabei entzaubert es die weit verbreitete Vorstellung, Privatisierung sei generell Fortschritt und bringe Wachstum.

Posted by Wilfried Allé Friday, December 7, 2018 11:59:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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