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Das Ende des Kapitalismus 

Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden
Posted by Wilfried Allé Sunday, September 3, 2023 1:30:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Ulrike Herrmann

ISBN: 9783462002553
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Umfang: 352 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 08.09.2022
Format: Hardcover
Preis: € 24,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags

Demokratie und Wohlstand, ein längeres Leben, mehr Gleich­be­rech­ti­gung und Bil­dung: Der Kapi­ta­li­smus hat viel Posi­ti­ves be­wirkt. Zu­gleich rui­niert er je­doch Klima und Um­welt, sodass die Mensch­heit nun exis­ten­ziell ge­fähr­det ist.
»Grünes Wachstum« soll die Rettung sein, aber Wirt­schafts­ex­per­tin und Best­seller­au­torin Ulrike Herr­mann hält da­ge­gen: Ver­ständ­lich und mes­ser­scharf er­klärt sie in ihrem neuen Buch, wa­rum wir statt­dessen
»grünes Schrumpfen« brauchen.

FALTER-Rezension

Gerlinde Pölsler in FALTER 47/2022 vom 25.11.2022 (S. 51)

Sie regt an - und auf: Ulrike Herrmanns neues Buch "Das Ende des Kapi­ta­lis­mus" stürmte bei sei­nem Er­schei­nen so­fort auf Platz eins der Best­sel­ler­lis­ten, schon mit frü­he­ren Ti­teln wie "Hurra, wir dür­fen zah­len" über den "Selbst­be­trug der Mit­tel­schicht" lös­te die Ber­li­ner taz-Re­dak­teu­rin hef­tige Debat­ten aus. Auch dies­mal er­zür­nen ihre The­sen viele Men­schen: So ge­nügte ein nicht ein­mal ein­mi­nü­ti­ges Video auf der Face­book-Seite des deut­schen Sen­ders NDR, dass die­ser seine Kom­men­tar­funk­tion ein­schrän­ken musste. Der Aus­löser? Herr­mann hat­te ge­sagt: "Das Elek­tro­auto ist die to­ta­le Sack­gasse."
Nicht dass die Wirtschafts­re­dak­teu­rin ge­gen er­neuer­bare Ener­gie wäre. Sie ist nur über­zeugt, dass diese für un­se­ren der­zei­ti­gen Lebens­stan­dard nicht aus­rei­chen werde, und schon gar nicht für einen wei­ter wach­sen­den. Daher müss­ten wir un­sere Wirt­schaft kon­trol­liert schrump­fen, und das be­deu­te das Ende des Kapi­ta­lis­mus. Herr­mann selbst lebt in einer Zwei­zim­mer­woh­nung, hat kein Auto und "kann nicht mehr flie­gen". Diese Woche kommt die dis­putier­freu­dige Au­torin nach Wien.

Falter: Frau Herrmann, wie schlimm ist der Aus­gang der Welt­klima­kon­fe­renz, die nicht ein­mal den Aus­stieg aus Öl und Gas be­schlos­sen hat?

Ulrike Herrmann: Dieses Scheitern war zu er­warten. Es ist nicht mög­lich, Öl und Gas ein­fach mal schnell zu er­set­zen. Denn dann würde die ge­samte Welt­wirt­schaft so­fort still­ste­hen, weil die Ma­schi­nen nicht mehr lau­fen, Schif­fe nicht mehr fah­ren und Flug­zeu­ge nicht mehr flie­gen. Fridays for Future hat recht mit ihrem Slo­gan "System Change, Not Climate Change". Man muss sich vom Kapi­ta­lis­mus ver­ab­schie­den, wenn der Klima­schutz ge­lingen soll.

Immerhin haben es die ärmeren Länder erst­mals schrift­lich, dass ein Fonds zum Aus­gleich von Klima­schä­den in ihren Län­dern kom­men soll

Herrmann: Natürlich ist es richtig, die ärmeren Länder zu unter­stüt­zen. Was aber gern ver­ges­sen wird: Die Klima­krise ver­schärft sich un­auf­hör­lich. In vie­len Län­dern wird man schon 2070 gar nicht mehr le­ben kön­nen, wenn wir weiter­machen wie bis­her, weil es zu heiß ist. Da hel­fen Aus­gleichs­maß­nah­men dann auch nicht mehr.

Sie haben einen Lösungsvorschlag auf den Tisch gelegt. Aber warum muss da­bei gleich das ge­samte Wirt­schafts­sys­tem weg?

Herrmann: Erst einmal vorweg: Ich bin keine Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­kerin. Ganz im Gegen­teil, ich finde die­ses Sys­tem außer­ordent­lich fas­zi­nie­rend, weil es das ein­zige Sozial­system in der Men­schheits­ge­schichte war, das für Wachs­tum und Wohl­stand sorgte. Und da­von ha­ben wir auch alle pro­fi­tiert. Vor 250 Jahren lag die Lebens­er­war­tung in Öster­reich bei 35 Jah­ren, heute steht sie bei über 80. Das ein­zi­ge Prob­lem am Kapi­ta­lis­mus ist, dass er ste­tes Wachs­tum be­nö­tigt, um sta­bil zu sein und nicht in schwere Kri­sen zu ge­ra­ten. Jetzt ha­ben wir aber das Prob­lem, dass die grüne Ener­gie nicht rei­chen wird, um weiter­hin Wachs­tum zu be­feuern. Wir brau­chen also grünes Schrump­fen, und Schrump­fen geht im Kapi­ta­lis­mus nicht. Dann bricht er zu­sammen.

Aber warum soll denn die grüne Energie nicht reichen? Die wird doch über­all, be­schleu­nigt auch durch die Folgen von Putins Ukraine-Über­fall, ge­rade aus­ge­baut.

Herrmann: Ja, viele Leute haben das Ge­fühl, da stehe doch schon eine Men­ge rum, zu­mal in Deutsch­land sieht man ja be­reits viele Wind­rä­der. In Wahr­heit ste­hen wir noch ganz am An­fang. Es wird ja im­mer vor­ge­rech­net, dass fast die Hälfte der Strom­er­zeu­gung be­reits klima­neu­tral sei. Aber Strom macht nur ein Fünf­tel des End­ener­gie­ver­brauchs aus, und künf­tig müs­sen wir auch Ben­zin, Öl und Gas er­set­zen. Und beim End­ener­gie­ver­brauch hat die Wind­kraft erst ei­nen An­teil von 4,7 Pro­zent, die Solar­kraft einen von 2,2 Pro­zent.

Was ist mit der Wasser­kraft, zäh­len Sie die nicht mit?

Herrmann: Die deckt in Deutsch­land 0,8 Pro­zent des End­energie­ver­brauchs ab.

In Österreich, aber auch in großen Län­dern wie China ist sie durch­aus wichtig.

Herrmann: Aber China hat dem­nächst Dauer­dürre! Die Was­ser­kraft lebt von den Nieder­schlägen und den Glet­schern. Durch den Klima­wandel ver­schwin­den aber die Glet­scher, und die Trocken­heit nimmt zu. Da wer­den wir mit der Was­ser­kraft nicht mehr weit kommen.

Wäre noch die Biomasse.

Herrmann: Ja, die macht in Deutsch­land den größ­ten Teil der klima­neu­tra­len Ener­gie­pro­duk­tion aus. Aber das sind meist Mono­kul­turen aus Mais und Raps, die viel Was­ser, Dün­ger und Pes­ti­zi­de be­nö­ti­gen. Die haben ja über­haupt kei­ne Zu­kunft, die­se Ener­gie­pflan­zen muss man ja zu­rück­fahren, um das Arten­ster­ben zu brem­sen. Das Ein­zi­ge, was sich wirk­lich aus­bauen lässt, sind eben Solar­panels und Wind­räder.

Aber angenommen, es gibt eine globale Kraft­an­stren­gung, wir stel­len über­all Wind­räder auf, pflas­tern alle Dä­cher, Wä­nde und Park­plät­ze mit Solar­an­lagen zu: Reicht es dann nicht irgend­wann?

Herrmann: Erstens geht das nicht ohne eine rie­sige Mate­rial­schlacht. Zwei­tens gibt es im Win­ter prak­tisch keine Son­nen­ener­gie, zu­min­dest nicht bei uns im Nor­den, und dummer­wei­se kommt es auch beim Wind zu Flau­ten, die lange dau­ern kön­nen. Also müs­sen wir zwi­schen­spei­chern, und da wird es auf­wen­dig. Batte­rien und grü­ner Was­ser­stoff sind rich­tig teuer, bis 2045 muss da erst eine Riesen­infra­struk­tur auf­ge­baut werden.

Sie sprechen 2045 an, weil Deutsch­land bis da­hin klima­neu­tral sein will; Öster­reich hat das sogar bis 2040 vor.

Herrmann: Genau, so steht es im Klima­ge­setz. Aber so, wie wir jetzt wirt­schaf­ten, wird das nichts. Um kein Miss­ver­ständ­nis auf­kom­men zu las­sen: Ich bin sehr für den Aus­bau der Er­neuer­baren. Aber die Vor­stel­lung vom grü­nen Wachs­tum ist wie der Traum, man könne Ku­chen fut­tern, so viel man will, und nehme trotz­dem ab. Wir ver­brau­chen im Augen­blick drei Pla­ne­ten. Aber es gibt nur eine Erde. Also müs­sen wir wie­der in die Gren­zen der Na­tur zu­rück­finden.

Warum aber muss der Kapitalismus, wie Sie sagen, zwin­gend wach­sen? Was, wenn wir auf dem jetzi­gen Niveau blieben?

Herrmann: Auch bei einer Stagnation tauchen be­reits all die Pro­ble­me auf, die sich ein­stel­len, wenn Wachs­tum aus­bleibt oder gar ein Schrump­fen ein­setzt. Ein ers­ter Grund: Wachs­tum kann es nur ge­ben, wenn es mit Kre­di­ten fi­nan­ziert wird. Um­ge­kehrt kön­nen die­se Kre­dite aber auch nur zu­rück­ge­zahlt wer­den, wenn das er­hoffte Wachs­tum ein­tritt. Hin­zu kommt: Unter­neh­men in­ves­tie­ren nur, wenn sie zu­sätz­li­che Ge­winne er­war­ten. Volks­wirt­schaft­lich ge­se­hen sind die­se Ge­win­ne aber das Glei­che wie Wachs­tum. Ohne Wachs­tum gibt es keine Ge­win­ne und da­mit kei­ne In­ves­ti­tio­nen, die Wirt­schaft ge­rät ins Stru­deln.

Laut Ihnen muss die Wirt­schaft nicht nur ein biss­chen schrump­fen, son­dern so­gar bis zur Hälfte. Wie kom­men Sie auf diese Zahl?

Herrmann: Das ist eine Schätzung. Ich habe mir über­legt, was wohl das Worst-Case-Sze­na­rio wäre, wenn es mit der Öko­ener­gie rich­tig, rich­tig knapp würde

Es reicht also vielleicht auch ein Viertel? Oder ein Zehntel?

Herrmann: Das könnte sein. Nur ist das für den Kapi­ta­lis­mus egal. In dem Mo­ment, da das Sys­tem nicht mehr wächst, ist er vor­bei. Das Ende des Kapi­ta­lis­mus ist aller­dings nicht das Ende der Mensch­heit und auch nicht des Wohl­stands. Wir müs­sen nicht zu­rück in die Stein­zeit und auch nicht in Fellen herum­lau­fen. Ein Schrump­fen um die Hälfte be­deu­tet für Öster­reich oder Deutsch­land, dass man un­ge­fähr im Jahr 1978 lan­det. Wenn ich in mei­nen Le­sun­gen sage: Da­mals waren wir doch genau­so glück­lich, dann nicken im­mer alle. Man­che sagen so­gar: Wir waren glück­licher.

Weil es weniger stressig war?

Herrmann: Genau. Und manche Scherz­kekse rufen dann: Das ist aber nur, weil wir da­mals jün­ger waren. Die Er­inne­rung an 1978 ist außer­ordent­lich gol­den bei al­len, die da­bei waren. Es gab zwar keine Erd­beeren im Win­ter und keine ein­ge­flo­ge­nen Man­gos, und man ist auch nicht für zwei Tage nach Mal­lorca ge­jet­tet, aber dann eben drei Wo­chen mit dem Auto nach Ita­lien an den Strand ge­fahren. Für alle, die nicht da­bei waren: 1978 war das Jahr, in dem Ar­gen­ti­nien Fuß­ball­welt­meis­ter wurde und der erste Teil von "Star Wars" in die Ki­nos kam. Vieles war gut.

Aber seither hat sich die Welt sehr ver­ändert.

Herrmann: Natürlich, es haben sich auch außer­ordent­lich posi­tive Dinge ent­wickelt. In den 1970ern sind zum Bei­spiel elf Pro­zent aller deut­schen Frauen an Brust­krebs er­krankt, und das en­dete oft töd­lich. Heute gibt es viel wirk­samere Krebs­thera­pien, auf die wir nicht zu ver­zich­ten bräuch­ten. Eine gute Nach­richt für die Ju­gendl­ichen: Wir könn­ten auch das Smart­phone be­halten.

Nun gibt es die Wachstumskritiker ja schon länger. Was ist bei Ihrem Ansatz anders?

Herrmann: Derzeit gibt es zwei Lager: Das eine sind die vie­len Leute, die das grüne Wachs­tum pro­pa­gie­ren. Das an­dere sind die Wachs­tums­kri­ti­ker, die liebe­voll die Idee einer Kreis­lauf­wirt­schaft aus­ge­stal­ten, in der wir nicht mehr ver­brau­chen, als wir re­cyceln kön­nen. Das finde ich auch wich­tig, nur ma­chen sie den Feh­ler, ihre Vi­sion gleich­zei­tig für den Weg zu hal­ten. Sie fra­gen sich nie, wie wir aus einem dy­na­mi­sch wach­sen­den Kapi­ta­lis­mus in eine Kreis­lauf­wirt­schaft kom­men, ohne dass es zum to­ta­len Chaos und Mil­lion­en von Arbeits­lo­sen kommt. Da­bei wis­sen Deut­sche und Öster­rei­cher ja per­fekt, was dann pas­siert: dann kommt ein rechts­radi­ka­ler Dik­ta­tor an die Macht, so wie Hitler 1933.

Und Sie haben den Weg gefunden?

Herrmann: Als Historikerin ist es nahe­lie­gend zu gucken, wo eine kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schaft be­reits ein­mal ge­schrumpft wur­de, ohne dass das Chaos aus­ge­bro­chen ist. Und da fällt die bri­ti­sche Kriegs­wirt­schaft ab 1939 ins Auge. Davon kann man viel lernen.

Und was?

Herrmann: Die Briten hatten den Zwei­ten Welt­krieg nicht wirk­lich kom­men se­hen. Als er aus­brach und klar war, dass Hit­ler Groß­bri­tan­nien an­grei­fen wür­de, blieb den Bri­ten nichts an­de­res üb­rig, als ihre zi­vi­le Wirt­schaft zu schrump­fen: da­mit sie in ihren Fa­bri­ken statt­des­sen Waf­fen, Radar­ge­räte und U-Boote bauen konnten. Da­bei wurde nichts ver­staat­licht, alles blieb pri­vat. Die Eigen­tümer und Mana­ger konnten in den Fa­bri­ken wei­ter agie­ren, wie sie das für rich­tig hiel­ten. Der Staat gab Pro­duk­tions­ziele vor; wie die er­reicht wur­den, blieb den Mana­gern über­lassen.

Nun wurden aber weniger Nahrung, Kleidung, Möbel her­ge­stellt

Herrmann: Genau. Die Briten haben nicht ge­hungert, aber es wurde eben alles knapp. Und diese nun knap­pen Güter wur­den ratio­niert. Jeder hat das Gleiche be­kom­men, es wur­de ab­so­lut ge­recht ver­teilt. Den Armen ging es plötz­lich bes­ser als vor­her, weil sie jetzt auch ihren ge­rech­ten An­teil an Milch, Fleisch, But­ter und so weiter be­kamen. Des­wegen war die Ratio­nie­rung auch wahn­sin­nig po­pu­lär. Was man ganz drin­gend be­to­nen muss: Wenn wir nun so eine Art Kriegs­wirt­schaft ein­füh­ren wür­den, dann wären wir nicht so arm wie die Briten 1939, son­dern wir wären wie anno 1978.

Aber wie soll das konkret funktionieren? Soll es wieder Lebens­mittel­karten geben?

Herrmann: Klar wäre jedenfalls, dass man das Fleisch ratio­niert. Nie­mand braucht Vege­ta­rier zu wer­den, weil es ja Flä­chen gibt, wo nur Gras wächst, das der Mensch nicht ver­dauen kann. Hier müs­sen wir also den Um­weg über das Tier neh­men. Aber ja, es muss weni­ger wer­den, und das müsste man dann wahr­schein­lich über Lebens­mittel­kar­ten machen. Auch Wohn­raum müsste ratio­niert wer­den. In Deutsch­land leben wir der­zeit im Schnitt auf 47 Qua­drat­me­tern pro Kopf. Das reicht. Auf Neu­bau müs­sen wir künf­tig ver­zich­ten, wir kön­nen nicht mehr alles ver­sie­geln.

Klingt kompliziert und schwer administrierbar.

Herrmann: Ja. Ich verspreche ja nicht das Para­dies. Aber immer wenn ein exis­ten­ziel­les Gut knapp wird, inter­es­siert sich kein Mensch mehr für Markt und Prei­se, son­dern alle ste­hen direkt beim Staat und wol­len, dass der das re­gelt. Beim Was­ser wird das ganz von selbst kom­men, denn die Trocken­heit wird zu­neh­men und das Was­ser knapp wer­den. Aus ganz an­de­ren Gründ­en, durch den Ukra­ine-Krieg, könn­ten wir Ratio­nie­rung schon in die­sem Win­ter er­leben: Wenn es noch sehr kalt wird, dann wird in Deutsch­land und Öster­reich der Staat ent­schei­den müs­sen, wo das Gas hin­fließt.

Wie würden Sie das Autofahren regeln?

Herrmann: Autos werden nur noch für jene sein, die krank sind und nicht in den Bus stei­gen kön­nen. So viel Öko­ener­gie wird es nicht ge­ben, um unse­re rie­si­ge Pkw-Flot­te noch zu be­feuern.

E-Autos bilden keine Ausnahme?

Herrmann: Der Tunnelblick auf die Antriebs­arten über­sieht, dass das Auto an und für sich eine ex­tre­me Ver­schwen­dung ist. Auch ein E-Auto wiegt bis zu zwei Ton­nen, und im Durch­schnitt sit­zen nur 1,3 Men­schen drin. Außer­dem ver­schlingt die rie­sige Bat­te­rie schon bei der Her­stel­lung viele Res­sour­cen. Auch Zug­fahren müsste ratio­niert wer­den, vor allem die Schnell­züge ver­brau­chen zu viel Ener­gie. Eigent­lich dürf­ten alle Züge nur noch maxi­mal 100 km/h fahren.

Die meisten Menschen werden das alles sehr extrem finden.

Herrmann: Wenn jemand einen besseren Vor­schlag hat, wie wir das Schrumpfen or­ga­ni­sie­ren kön­nen: Ich bin da ganz offen.

Fliegen sei sowieso nicht mehr drin, sagen Sie. Sie selbst fliegen auch gar nicht mehr.

Herrmann: Stimmt. In dem Moment, da man sich mit dem Thema ernst­haft be­fasst, kann man nicht mehr flie­gen. Das ist to­tal un­prak­tisch: Mein bes­ter Freund lebt seit einem Jahr in Washing­ton, lädt mich im­mer ein, und ich kann nicht hin. Aber es ist nicht wich­tig, ob ich flie­ge oder nicht, wich­tig ist: Wir brau­chen eine makro­öko­no­mi­sche Lö­sung, denn allein in Deutsch­land sind di­rekt und in­di­rekt 850.000 Men­schen in der Flug­zeug­in­dus­trie be­schäf­tigt: all die Leute bei Air­bus, die Stewar­des­sen, Pi­lo­ten und Reise­büro­mit­ar­beiter. Sie alle brau­chen dann ja an­dere Jobs, ge­nau­so wie die Be­schäf­tig­ten der Auto­mobil­in­dus­trie und vie­ler an­derer Branchen.

Und was sollen die dann alle machen?

Herrmann: Die Arbeit wird nicht ausgehen, denn der Klima­schutz ist sehr auf­wen­dig. Es müs­sen Häu­ser ge­dämmt, Wärme­pum­pen ein­ge­baut, Solar­an­la­gen in­stal­liert und Wind­kraft­räder er­rich­tet wer­den. Das Pro­b­lem ist: Vie­les fin­det nicht dort statt, wo die Leute jetzt le­ben. Das er­for­dert also ex­tre­me Um­orien­tie­rungen und funk­tio­niert nur, wenn die Ge­sell­schaft das will. Auf gar kei­nen Fall will ich eine Dik­ta­tur, son­dern je­der muss ein­sehen, dass das lei­der un­aus­weich­lich ist. Und der Ver­zicht muss ko­or­di­niert pas­sie­ren, sonst bricht das Sys­tem zu­sam­men. Mit einer wich­ti­gen Aus­nahme: Jeder sollte so­fort wenig Fleisch es­sen und Öko­pro­dukte kaufen. Da­mit würde nichts zu­sam­men­bre­chen, die Land­wirt­schaft müsste sich nur um­stellen.

Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Euro­pä­ische Wirt­schafts­for­schung, ver­tritt in sei­nem neuen Buch "Klima muss sich loh­nen" The­sen, die teils kon­trär zu den Ihren sind: Ohne Wirt­schafts­wachs­tum be­kämen wir die Klima­wende nicht hin. Und wenn Län­der wie In­dien und Chi­na schrump­fen, wäre so­wie­so alles vorbei.

Herrmann: In vielen Ländern kann die Wirt­schaft so­wie­so noch wach­sen, zum Bei­spiel in Ma­la­wi. Des­sen Ein­wohner emit­tie­ren im Augen­blick nur 100 Kilo CO2 pro Kopf und Jahr, laut Welt­klima­rat ist aber eine Ton­ne er­laubt. In­dien emit­tiert ak­tu­ell 1,8 Ton­nen pro Kopf und Jahr. In­dien müsste also erst 2090 klima­neu­tral sein, weil es das Klima pro Be­woh­ner nur ein Vier­tel so stark be­las­tet wie etwa Deutsch­land oder Öster­reich. Das Prob­lem an der Klima­krise sind die rei­chen kapi­ta­lis­ti­schen Län­der und sonst nie­mand: USA, Kana­da, Euro­pa, Russ­land, Aus­tra­lien und auch China. Die müs­sen bei den Emis­sio­nen runter.

In letzter Zeit ist viel davon die Rede, eine Ent­koppe­lung von Wirt­schafts­wachs­tum und Emis­sio­nen sei durch­aus mög­lich, das zeig­ten so­wohl Euro­pa als auch die USA und Kana­da be­reits. Was sagen Sie dazu?

Herrmann: Die USA emittieren immer noch mehr als 14 Ton­nen CO2 pro Kopf und Jahr - das ist dop­pelt so viel wie Deutsch­land oder Öster­reich. Es ist ein Witz, aus­ge­rech­net die USA als Vor­bild an­zu­prei­sen. Zu­dem wird da­bei über­sehen, dass kleine Fort­schrit­te nicht weiter­hel­fen. Wir müs­sen 2045 abso­lut klima­neu­tral sein. Und die­ses Ziel wird nir­gend­wo er­reicht.

Warum unterstützen nicht einmal die Grünen Ihre Ideen? Die Grü­nen-Poli­ti­kerin Steffi Lemke sagt, sie kön­ne mit Ihrem Buch wenig an­fan­gen: Es sei ein Lu­xus, dass "die Gene­ra­tion, die es ver­bockt hat, nun den jun­gen Leu­ten sagt: Das geht nicht mehr."

Herrmann: Dass die grüne Führung weiter­hin so tut, als wäre grü­nes Wachs­tum mög­lich, ver­stehe ich. Die Mehr­heit der Wäh­ler will das hören, und in einer Demo­kra­tie füh­ren Par­teien nicht, son­dern fol­gen ihren Wäh­lern. Da­her muss erst ein­mal die Mehr­heit der Bür­ger ver­ste­hen, dass es tat­säch­lich um ihr Über­leben geht. Die heute 20-Jäh­rigen ha­ben genau eine Wahl: in einer Welt zu le­ben, die weit­ge­hend zer­stört ist, oder aus dem Kapi­ta­lis­mus aus­stei­gen. Die Option, es könne al­les blei­ben, wie es ist, exis­tiert nicht.

Warum sind Sie so sicher, dass Sie recht haben?

Herrmann: Weil wir in 22 Jahren klimaneutral sein müssen. Das ist ver­dammt we­nig Zeit. Da hilft nur noch "grü­nes Schrump­fen". Der Ti­tel meines Buches ist auch keine For­de­rung nach dem Mot­to "Schafft den Kapi­ta­lis­mus ab!", son­dern eine Be­schrei­bung. Der Kapi­ta­lis­mus wird en­den, ob wir das wol­len oder nicht.

Gekippt 

Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten
Posted by Wilfried Allé Thursday, August 24, 2023 3:20:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Nils Goldschmidt, Stephan Wolf

ISBN: 9783451387432
Verlag: Verlag Herder
Umfang: 272 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 12.10.2021
Format: Hardcover
Preis: € 24,70

Kurzbeschreibung des Verlags

Wir leben in einer Zeit, in der vieles be­droht ist, was lange als selbst­ver­ständ­lich galt: öffent­li­che Ge­sund­heit, Demo­kra­tie und Friede, so­zia­le Sicher­heit, wirt­schaft­li­cher Wohl­stand und eine in­tak­te Um­welt. So­ge­nannte Kipp­mo­mente be­zeich­nen sol­cher­lei Si­tua­tio­nen, in de­nen sich ein Sys­tem (öko­lo­gisch, poli­tisch oder so­zial) plötz­lich und un­um­kehr­bar än­dert. Das Wis­sen um sie ist für das Ver­ständ­nis un­se­rer kom­ple­xen Ge­gen­wart essen­ziell.

Nils Goldschmidt und Stephan Wolf machen deut­lich, dass Kipp­mo­men­te keine un­ab­änder­baren Schick­sale sind, son­dern be­ein­flusst und ab­ge­wen­det wer­den kön­nen. Ein Buch, das zeigt, wie wir un­sere Zu­kunft in einer sich im­mer schnel­ler wan­delnden Welt ge­stal­ten kön­nen, an­statt uns vor der nächs­ten Krise zu fürchten.

Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben 

Der Bestseller zum Klimawandel jetzt im Taschenbuch
Posted by Wilfried Allé Sunday, August 6, 2023 9:51:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Eckart von Hirschhausen

Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Umfang: 528 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft,
Wirtschaft
Erscheinungsdatum: 20.07.2022
Format, ISBN, Preis: Taschenbuch 9783423351904     € 15,50
  Hardcover 9783423282765     € 24,70
  Audio-CD | Der Hörverlag, 2021 9783844534481     € 16,82

 

Kurzbeschreibung des Verlags

»Wir müssen nicht die Welt retten, sondern uns.«

Was bedeutet der Klima­wandel für unsere Ge­sund­heit? Wir le­ben im­mer ge­sün­der und län­ger, zu­gleich ist nur noch we­nig Zeit, die­se Erde für uns be­wohn­bar zu hal­ten. Seit der Flut­katas­trophe 2021 ist klar: Wir müs­sen uns mit der Erd­er­hit­zung aus­ein­an­der­set­zen. Die Klima­krise be­trifft nicht nur künf­ti­ge Gene­ra­tio­nen, son­dern je­den von uns schon heute. Eckart von Hirsch­hausen macht sich auf die Su­che nach Ideen für eine bes­sere Welt: Ver­brau­chen wir so viel, weil wir nicht wis­sen, was wir wirk­lich brau­chen? Bringt uns aus­ge­rech­net der Wunsch nach in­di­vi­duel­ler Un­sterb­lich­keit kol­lek­tiv um? Und kann man über all die­se mensch­lichen Wider­sprü­che nicht auch la­chen? In Heraus­for­de­run­gen Lö­sun­gen zu fin­den, kann nie­mand so gut wie Eckart von Hirsch­hausen.

»Und wir müssen end­lich auf­hören, über Eis­bären zu sprechen.«

mehr dazu hier: https://www.derstandard.at/story/3000000180749/kabarettist-hirschhausen-hitze-ist-gift-fuer-unser-hirn-podcast

Systemsturz 

Der Sieg der Natur über den Kapitalismus | Der internationale Bestseller aus Japan
Posted by Wilfried Allé Friday, August 4, 2023 10:31:00 AM Categories: Sachbücher/Politik
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von Kohei Saito

ISBN 9783423283694
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Umfang: 320 Seiten
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Übersetzung: Gregor Wakounig
Erscheinungsdatum: 17.08.2023
Preis: € 25,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags

Mit Marx in die Zukunft

Wenn wir glauben, die Welt durch nach­hal­ti­gen Kon­sum vor der Klima­ka­tas­trophe zu ret­ten, be­trü­gen wir uns selbst, sagt der ja­pa­ni­sche Philo­soph Kohei Saito. Denn der Ka­pi­ta­lis­mus ist nicht zu­kunfts­fä­hig. Klar und über­zeu­gend ver­tritt Saito die These: Nichts, was die Welt jetzt braucht, lässt sich in­ner­halb eines kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tems rea­li­sie­ren. Grü­nes Wachs­tum ist un­mög­lich. Was wir statt­des­sen brau­chen? Ei­nen neu­en Kom­mu­nis­mus. Ge­nau­er ge­sagt: ei­nen Öko­sozia­lis­mus, der nicht auf Wachs­tum aus­ge­rich­tet ist, der das Pro­duk­tions­tem­po he­run­ter­fährt und Wohl­stand um­ver­teilt. Schon Marx plä­dier­te für eine nach­hal­ti­ge Wirt­schafts­ord­nung. Und nur da­mit wird es uns ge­lin­gen, die Na­tur – un­se­re Le­bens­grund­lage – zu er­halten.

FALTER-Rezension

Das Manifest für den "Degrowth-Kommunismus"

Ulrich Brand in FALTER 37/2023 vom 15.09.2023 (S. 19)

Dass der Kapitalismus sich in einer Viel­fach­krise be­findet und ins­be­son­dere die Klima­krise kaum lös­bar scheint, hat sich herum­ge­spro­chen. Und doch blei­ben die poli­ti­schen Ini­tia­tiven, der exis­ten­ziel­len Be­dro­hung der Mensch­heit bei­zu­kom­men, meist zag­haft. Der ja­pa­ni­sche Wis­sen­schaft­ler Kohei Saito, Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Tokio, greift mit ei­nem ori­gi­nel­len Buch in die De­bat­te um die Reich­weite von Klima­poli­tik ein. In sei­nem Heimat­land hat sich der Band schon 500.000 Mal ver­kauft und ist auf dem Weg, ein glo­ba­ler Best­sel­ler zu werden.
"Systemsturz" ist der provokante Titel der gerade er­schie­ne­nen deut­schen Über­set­zung. Der Autor for­dert nichts an­deres als einen "Degrowth-Kom­mu­nis­mus" und macht da­für kon­kre­te Vor­schläge.

Saito startet mit einer scharfen Kritik an jenen Stra­te­gien ge­gen die Klima­krise, wel­che die ex­pan­si­ven Dy­na­mi­ken unse­res Wirt­schafts­sys­tems nicht in­frage stel­len: "grü­nes" Wachs­tum, grü­ner Keynesia­nis­mus oder öko­lo­gi­scher Kon­sum. Er räumt mit dem My­thos der "Ent­kopplung" von Wirt­schafts­wachs­tum und Res­sour­cen­ver­brauch auf und nimmt - das kommt nicht oft vor in die­ser Art von Bü­chern - immer wie­der die kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen der öko­lo­gi­schen Ra­serei der In­dus­trie­län­der auf den glo­ba­len Süden in den Blick.

Degrowth, übersetzt als "Post-Wachstum", heißt vor allem: raus aus dem Wachs­tums­wahn und Um­bau einer Ge­sell­schaft - So­zial­sys­teme, Ar­beits­plätze, In­ves­ti­tionen -, die vom im­mer­wäh­ren­den Wachs­tum ab­häng­ig ist.

Brillant ist das Kapitel "Marx im Anthropozän". Saito zeigte vor eini­gen Jah­ren in sei­ner viel be­ach­teten Dis­ser­ta­tion, dass Karl Marx sich in sei­nen letz­ten 15 Lebens­jah­ren in­ten­siv mit der öko­lo­gi­schen Krise be­fasste. Er publi­zierte seine Über­le­gungen kaum, hat aber um­fang­rei­che Notiz­hefte an­ge­legt, ins­be­son­dere zur Krise der Land­wirt­schaft.

Saito argumentiert überzeugend, dass der "späte" Marx sich der Pro­bleme des in­dus­tri­el­len Pro­duk­ti­vis­mus sehr be­wusst war. Die Alter­na­tive zum Kapi­ta­lis­mus sah er im­mer we­ni­ger in der Revo­lu­tion des In­dus­trie­pro­le­ta­riats, son­dern in den Dorf­ge­mein­schaften, in denen ge­mein­schaft­liche und nach­hal­tige Lebens­formen vor­herrsch­ten. Hier wur­den Lebens­mit­tel ge­mein­schaft­lich pro­du­ziert und Saito gibt unter dem Be­griff "commons" - Ge­mein­schafts­güter - viele ak­tu­elle Bei­spiel dafür.

Bei den "fünf Säulen des Degrowth-Kommunismus" unter­streicht der Au­tor die Not­wendig­keit, mehr Ge­brauchs­werte her­zu­stel­len und nicht die am Pro­fit orien­tier­ten Waren. Er möchte die sys­tem­rele­van­ten Be­rufe wie Pflege und Bil­dung auf­ge­wer­tet se­hen - und die für das Wohl­er­gehen der Ge­sell­schaft nutz­losen Jobs im Marke­ting und Finanz­sek­tor we­ni­ger pres­tige­reich und gut be­zahlt. In der Ar­beits­zeit­ver­kür­zung sieht er einen Schlüs­sel für eine bes­sere Ge­sellschaft.

So weit, so von vielen vertreten. Doch Saito geht weiter und for­dert eine Ver­än­de­rung der be­ste­hen­den Ar­beits­tei­lung, dass also nicht ei­nige Men­schen die "bullshit jobs" machen und an­dere die inter­essanten. Schließ­lich, so seine fünfte "Säule", müssten Pro­duk­tions­pro­zes­se demo­kra­ti­siert wer­den - damit wür­den sie auch ver­langsamt.

Im Kapitalismus schaffen die privaten Unter­nehmen vor al­lem Knapp­heit und pro­du­zie­ren das, was sich gut ver­kauft. Das geht not­wen­diger­weise mit der Aus­beu­tung von Mensch und Na­tur bis hin zur Zer­stö­rung einher.

Ein spannendes Argument Saitos lautet, dass wir neue For­men des Über­flus­ses be­nö­tigen: nicht den Über­fluss von Fast Fashion, schlech­tem indus­triel­lem Es­sen und sinn­lo­sem Enter­tain­ment, son­dern Über­fluss in einer ent­schleu­nig­ten Ge­sell­schaft, in der Ver­trauen, ge­gen­sei­ti­ge Hilfe, aber auch lang­le­bige Ge­brauchs­gü­ter ein siche­res und sinner­fülltes Le­ben er­mög­lichen.

Der Staat spielt dabei eine wichtige Rolle, sollte aber nicht über­schätzt wer­den die Men­schen müs­sen selbst aktiv wer­den. Der hier ver­tre­tene "Kom­mu­nis­mus" hat gar nichts mit den auto­ri­tär-büro­kra­ti­schen Sys­temen des realen So­zia­lis­mus zu tun.

Saito hat ein lesenswertes Buch vor­gelegt, das wich­tige Im­pul­se gibt. An man­chen Stel­len ar­gu­men­tiert er et­was schema­tisch, wenn "das Kapital" als Gegen­über "der Men­schen" dar­ge­stellt wird. Als ge­schul­ter Marxist weiß er na­tür­lich, dass das Kapi­tal selbst die Men­schen ein­bin­det und vie­len ein ma­teriell aus­kömm­liches Le­ben er­mög­licht. Die Fra­ge, wie an­dere und nicht­zer­stö­re­rische Be­dürf­nis­se ent­stehen kön­nen, lässt er außen vor. Auch die Tat­sache, dass "der" glo­ba­le Sü­den nicht nur ein Ort der Aus­beu­tung ist, son­dern dass dort höchst un­gleich ge­lebt wird, spielt keine Rolle.

Ein einziges Buch kann nicht alles bieten. Aber Saito hat schon viele An­regungen im Angebot.
 

Autorenportrait

Kohei Saito, geboren 1987, ist Associate Profes­sor für Phi­lo­­so­­phie an der Uni­­ver­­si­tät von To­kio. Er pro­­mo­vier­­te 2016 an der Hum­boldt-Uni­­ver­­si­­tät zu Ber­lin, ist Mit­­heraus­­ge­ber der Marx-Engels-Ge­­samt­­aus­­ga­be und wurde 2018 mit dem Isaac-Deut­­scher-Preis aus­­ge­­zeich­­net. Saitos »Systemsturz­« wurde in Ja­pan ein großer Er­folg, das Buch ver­kaufte sich dort mehr als 500.000 Mal.

In diesem Buch analy­siert der ja­pa­ni­sche Philo­soph Kohei Saito die Ver­flech­tung von Kapi­tal, Natur und Ge­sell­schaft im Anthro­po­zän. Ent­ge­gen der her­kömm­li­chen Les­art ent­deckt er die Ge­dan­ken von Karl Marx neu und ent­wickelt mit ihrer Hil­fe das Mo­dell ei­nes de­growth-Kom­mu­nis­mus. Er kri­ti­siert den in­ne­ren Wachs­tums­zwang des Kapi­ta­lis­mus als eine Grund­pro­ble­ma­tik der heu­ti­gen men­schen­ge­mach­ten und kapi­tal­ge­trie­be­nen Klima­krise.

Saito entdeckt alter­na­tive Pfade der Dis­kus­sion bei Marx und plä­diert für eine De­kar­bo­ni­sie­rung un­ter an­de­rem durch kür­ze­re Ar­beits­zei­ten und Pri­ori­sie­rung auf lebens­wich­tige Pro­duk­tion. Er be­nennt die Nach­hal­tig­keits­zie­le der Ver­ein­ten Nati­onen als neues «Opium des Volkes» und for­dert die Ver­ge­sell­schaf­tung der großen Öl­kon­zerne, Groß­banken und der di­gi­ta­len In­fra­struk­tur.

Das Buch machte in Japan mit über 500.000 ver­kauf­ten Exem­pla­ren Furore und wurde nun von Gregor Wakounig für den dtv Verlag über­setzt.

Teuer! 

Die Wahrheit über Inflation, ihre Profiteure und das Versagen der Politik
Posted by Wilfried Allé Wednesday, July 26, 2023 8:51:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Maurice Höfgen

ISBN 9783423283274
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Umfang: 240 Seiten
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Sammlung: Inflation
Erscheinungsdatum: 16.03.2023
Preis: € 20,60

 

Kurzbeschreibung des Verlags

Die große Angst vor der Geldentwertung – und was die Politik tun muss

Tanken, Heizen, Einkaufen – alles ist teurer geworden, die Inflationsrate ist auf Rekordhoch. Müssen wir uns in Zukunft noch mehr Sorgen um unser Geld machen? Wird das Leben unbezahlbar? Wirtschaftsanalyst Maurice Höfgen beschäftigt sich tagein tagaus mit der Lage und warnt vor Panik, denn die aktuellen Mondpreise sind eine Folge des Krieges in der Ukraine und der Corona-Pandemie. Die Ampel muss aber dennoch handeln, damit der Alltag wieder bezahlbar wird. Trifft sie die falschen Entscheidungen, kann auf den Preisschock eine Wirtschaftskrise folgen.

»Teuer!« ist eine scharfe Analyse, die zeigt, wie man die aktuelle Nachrichtenlage richtig deutet – und Missverständnisse über Inflation aufklärt.
 

FALTER-Rezension

Zentralbanken, senkt die Zinsen!

Robert Misik in FALTER 30/2023 vom 28.07.2023 (S. 17)

Wir alle ächzen unter der Teuerung, be­kla­gen die In­fla­tion. Aber was ist das ei­gent­lich - "Inflation" - und was hilft da­ge­gen? Die­sen Fra­gen geht Mau­rice Höf­gen in sei­nem neuen Buch nach.
Höfgen, Ökonom, Betriebs­wirt, Autor, wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter des Bun­des­tags, ist ein biss­chen so et­was wie das neue Wun­der­kind der pro­gres­si­ven Öko­no­mie. Mit sei­nen ge­rade ein­mal 27 Jah­ren ist er "Deutsch­lands span­nend­ster Nach­wuchs-Öko­nom", wie ihn die Ber­li­ner Zei­tung nennt.

Inflation kann viele Ursachen haben. Preis­ver­ände­rungen gibt es auch in völ­lig nor­ma­len Zei­ten. Dann gibt es die klas­si­sche In­fla­tion: Wenn die Wirt­schaft brummt, die Kon­sum­nach­fra­ge an­zieht, wenn die Unter­neh­men an ihren Kapa­zi­täts­gren­zen pro­du­zie­ren, wenn Voll­be­schäf­ti­gung herrscht und die Be­schäf­tig­ten kräf­tige Lohn­er­hö­hun­gen durch­set­zen kön­nen. Ger­ne spricht man dann da­von, dass die Wirt­schaft "über­hitze".

"In dieser Situation waren und sind wir nicht", so Höfgen. Die ge­gen­wär­tige In­fla­tion habe haupt­säch­lich zwei Ur­sa­chen: die Lie­fer­ket­ten­eng­päs­se in­fol­ge der Pan­de­mie; und dann kam der ex­ter­ne Schock durch Putins Ukra­ine-In­va­sion da­zu - die bi­zarr stei­gen­den Ener­gie­preise, die sich durch die ge­samte Wirt­schaft durch­fraßen.

Verschärft wurde das durch einige Preis­bil­dungs­re­geln, die nor­ma­ler­weise kein Pro­blem sind, aber in die­ser Aus­nahme­si­tua­tion ka­tas­tro­phale Wir­kun­gen hat­ten, wie etwa das Merit-Order-Prin­zip, das dazu führte, dass die Strom­prei­se den Gas­prei­sen folg­ten, oder auch die Re­gel, dass die Mie­ten ein­fach fi­xiert an die In­fla­tions­rate mit­steigen.

Letztere Form der Inflation bekommt man am ehes­ten in den Griff, wenn man den Preis­auf­trieb selbst bremst, durch Preis­deckel, oder in­dem man die Re­geln der Preis­bil­dung selbst ver­ändert.

Doch sehr häufig ist zu hören, dass die Re­gie­rung nichts tun kön­ne, Ein­griffe in die Märkte ein Übel seien und dass der Kampf ge­gen die In­fla­tion Sache der Zen­tral­ban­ken sei. Auch Öster­reichs Fi­nanz­mi­nis­ter sagt das oft und gerne.

Aber gegen Preisschocks und "im­por­tier­te In­fla­tion" hilft der be­rühmte "Zins­ham­mer" der Zen­tral­ban­ken wenig. Bei klas­si­scher In­fla­tion be­deu­ten hö­he­re Zin­sen ein Ab­wür­gen der Kon­junk­tur, die Nach­fra­ge sinkt, es wird weni­ger in­ves­tiert, es steigt die Ar­beits­lo­sig­keit - und da­mit sin­ken dann auch die Prei­se. Höfgen kri­ti­siert die Zins­po­li­tik der Zen­tral­ban­ken scharf. Sie sei rei­ne Sym­bol­poli­tik, die sig­na­li­sie­ren sol­le, dass "irgend­was" ge­tan wird. Sie füh­re nur zu noch mehr Ver­ar­mung, ohne ir­gend­wel­che nütz­li­chen Fol­gen zu zei­ti­gen.

Klar, schreibt Höfgen, eine Pleitewelle bei klei­nen Lä­den wür­de viel­leicht ge­wis­se Effek­te ha­ben, weil dann dort "immer­hin kein Was­ser, kein Strom und keine sons­ti­ge Ener­gie ver­braucht wird". Und weil die Ar­beits­lo­sen viel­leicht noch we­ni­ger hei­zen wür­den. Aber der Nut­zen wäre ge­ring.

Die Zinserhöhungen haben sogar negative Wir­kung: Sie ver­teuern In­ves­ti­tio­nen in Wind­kraft, Solar­ener­gie, ther­mi­sche Sa­nie­rung usw. Sie er­schwe­ren den Aus­stieg aus teu­rer fos­si­ler Ener­gie und den Um­stieg in bil­li­gere nach­hal­tige Ener­gie. Höfgen: "Ge­gen den Ener­gie­preis­schock wür­de es so­gar hel­fen, wenn der Staat mehr Geld aus­gäbe" - etwa, um wie ver­rückt in Ener­gie­ef­fi­zienz und neue Techno­lo­gien zu in­ves­tieren.

Aber wenn Investitionen verteuert werden, wird von der Er­rich­tung von Wind­parks bis zur ther­mi­schen Sa­nie­rung al­les teu­rer, was es ge­rade jetzt bräuch­te. Bei im­por­tier­ter In­fla­tion ha­ben Zins­er­hö­hun­gen we­nig Wir­kung, das wis­sen auch die Zen­tral­ban­ker, wes­halb sie mit dem "psy­cho­lo­gi­schen Ef­fekt" der Zins­er­hö­hungen ar­gu­men­tieren.

Soll heißen: Weil die Leute den Ein­druck haben, dass die Zen­tral­ban­ken han­deln, ha­ben sie die Er­war­tung ei­ner sin­ken­den In­fla­tion. Und das hät­te auch eine Wir­kung, so die Hoff­nung. Ein biss­chen ist das Voodoo.

Wenn die Regierungen jetzt auch noch Spar­bud­gets auf­le­gen, wird es rich­tig düs­ter. Schon ist Deutsch­land in einer Re­zes­sion. Das hat Aus­wir­kun­gen auf die ge­samte Euro­zone. Die Bau­wirt­schaft er­lebt ei­nen Schock und leere Auf­trags­bü­cher. Wenn die In­fla­tion mit den fal­schen Maß­nah­men be­kämpft wird, be­kommt man zum Preis­auf­trieb auch noch eine aus­ge­wach­sene Wirt­schafts­krise dazu.

Der Sozialismus der Zukunft 

Interventionen
Posted by Wilfried Allé Saturday, July 1, 2023 10:24:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Thomas Piketty

ISBN: 9783406777349
Übersetzung: André Hansen
Verlag: C.H.Beck
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 232 Seiten
Erscheinungsdatum: 31.01.2023
Preis: € 17,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

"THOMAS PIKETTY IST DABEI, DER KARL MARX DES 21. JAHRHUNDERTS ZU WERDEN." - FRANK­FURTER ALL­GE­MEINE ZEI­TUNG

Im Herbst 1989 vernimmt der erst 18-jährige Thomas Piket­ty wie der Rest der west­li­chen Welt ge­bannt die Nach­richt vom Zu­sam­men­bruch der kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­turen und des "real exis­tie­ren­den So­zia­lis­mus". Alle Ge­gen­ent­wür­fe zum Ka­pi­ta­lis­mus schei­nen kra­chend ge­schei­tert. Doch 30 Jahre und eine Fi­nanz­kri­se spä­ter hat sich der Wind ge­dreht. Ob der Ka­pi­ta­lis­mus in der Lage ist, Ant­wor­ten auf den Kli­ma­wan­del und die zu­neh­me­nde so­zia­le Un­gleich­heit zu fin­den, scheint frag­lich wie lange nicht. Es ist wie­der Zeit, über Al­ter­na­ti­ven nach­zu­denken.

Bei einem Besuch ehemals sozia­lis­ti­scher Län­der An­fang der 1990er Jahre prä­gen sich dem jungen Tho­mas Piket­ty vor allem leere Re­ga­le und tris­te Straßen ein. Eine Zu­kunft scheint ihm der So­zia­lis­mus nicht mehr zu ha­ben. Doch gut drei Jahr­zehn­te spä­ter hat sich auch der Ka­pi­ta­lis­mus ent­zau­bert. Tho­mas Piket­ty plä­diert da­für, den gegen­wär­ti­gen Hyper­ka­pi­ta­lis­mus hin­ter sich zu las­sen und über eine neue Form des So­zia­lis­mus nach­zu­den­ken. Ein So­zia­lis­mus, der par­ti­zi­pa­tiv, demo­kra­tisch, öko­lo­gisch und femi­nis­tisch ist. Be­glei­tet von ei­nem bis­lang un­ver­öf­fent­lich­ten Vor­wort, er­gänzt durch Gra­fi­ken, Ta­bel­len und zu­sätz­liche Tex­te, ent­hält der vor­lie­gen­de Band die be­deu­tend­sten von Tho­mas Piket­ty in "Le Monde" von Sep­tem­ber 2016 bis Juli 2020 ver­öf­fent­lich­ten Ko­lum­nen, die ver­deut­li­chen, wie die­ser So­zia­lis­mus der Zu­kunft aus­se­hen könnte und was diese Al­ter­na­tive zum kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem für uns alle leis­ten würde.

Rezensionen:

"Beim Lesen wird man immer wieder begeistert nicken und dann wieder zweifelnd den Kopf schütteln. Gedankengymnastik kann versprochen werden." - Neues Deutschland, Irmtraud Gutschke
"Piketty, der Robin Hood aus dem Süden von Paris." - DIE ZEIT, Uwe Jean Heuser
"Thomas Piketty ist dabei, der Karl Marx des 21. Jahrhunderts zu werden." - Frankfurter Allgemeine Zeitung
„ein reiches Kompendium wertvoller, manchmal brillanter Gedanken zu zentralen wirtschafts-, aber auch gesellschaftspolitischen Komplexen unserer Zeit.“ - SWR2, Konstantin Sakkas
„Dieses Buch liefert … konkrete Handlungsempfehlungen für zentrale gesellschaftliche Herausforderungen“ - Wirtschaft und Gesellschaft, Georg Hubmann
„Für viele dürften diese Texte ein leichterer Einstieg in das utopische Denksystem Pikettys sein als seine Hauptwerke.“ - Buchkultur, Alexander Kluy
Eine audielle Rezension des Südwestrundfunks findet ihr hier ->
Eine Leseprobe des Verlages C.H.Beck findet ihr hier ->

Vom Ende des Gemeinwohls 

Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt
Posted by Wilfried Allé Friday, June 9, 2023 11:29:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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von Michael J. Sandel

Verlag: S. FISCHER
ISBN: 9783103900002
Umfang: 448 Seiten
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Erscheinungsdatum: 23.09.2020
Format Hardcover
Ausgabe: 4. Auflage
Übersetzung: Helmut Reuter
Preis: € 30,90

 

Kurzbeschreibung des Verlags

Weltweit sind die Populisten auf dem Vormarsch – Michael J. Sandel erklärt, warum.
Gerade in Zeiten des Corona-Virus wird er­schreck­end deut­lich, dass das Ge­mein­wohl in un­se­ren Ge­sell­schaf­ten in den letz­ten Jah­ren an Be­deut­sam­keit ver­lo­ren hat. Die Demo­kra­tien ste­hen auf dem Prüf­stand, wir sind Zeu­gen ei­ner po­pu­lis­ti­schen Re­vol­te. Die Wahl Trumps, der Bre­xit, der Er­folg der AfD – das sind die wü­ten­den Ant­wor­ten auf die wach­sen­de Un­gleich­heit in der Ge­sell­schaft. Der Moral­phi­lo­soph Mi­cha­el J. San­del sieht die Ur­sache da­für in der Ty­ran­nei der Leis­tungs­ge­sell­schaft.
Wer hat in unserer Gesell­schaft Er­folg – und wa­rum? Unter dem ge­sell­schaft­lich un­um­strit­ten­en Man­tra »Wer hart ar­bei­tet, kann al­les er­rei­chen« ha­ben wir ge­lernt zu glau­ben, dass je­der ge­nau das hat, was er verd­ient. Die Pro­fi­teure und Nutz­nießer die­ses Sys­tems, das Er­folg auf Leis­tung und Ta­lent zu­rück­führt, ge­hen da­rum da­von aus, dass sie ih­ren Er­folg ver­die­nen, dass er ihnen zu­steht, eben weil sie sich an­ge­strengt ha­ben. Im Um­kehr­schluss be­deu­tet das, dass die­je­ni­gen, die am Sys­tem schei­tern, selbst Schuld sind.
Die Hybris der Gewinner eben­so wie die De­mü­ti­gung der Ver­lie­rer be­feu­ern den po­pu­lis­ti­schen Pro­test, des­sen Zeu­gen wir ak­tu­ell welt­weit sind. Im Kern zielt der Un­mut ge­gen­über den Eli­ten auf eine Kri­tik an der Ty­ran­nei der Leis­tungs­ge­sell­schaft, und diese Kri­tik ist be­rech­tigt. Seit Jahr­zehn­ten nimmt die Un­gleich­heit in den demo­kra­ti­schen Ge­sell­schaf­ten zu, Ver­lie­rer und Ge­win­ner des Sys­tems ent­fer­nen sich so­wohl auf so­zia­ler als auch auf fi­nan­ziel­ler Ebene im­mer wei­ter von­ei­nan­der.
Statt an einer trennenden Ethik des Er­folgs fest­zu­hal­ten, müs­sen wir an ei­ner Po­li­tik des Ge­mein­wohls und der Ge­rech­tig­keit ar­bei­ten, die al­len Mit­glie­dern der Ge­sell­schaft zu­gute­kommt.

»Michael Sandel: Der Meister für die großen Fra­gen des Le­bens« Andrew Anthony, »The Guardian«
»Wir sollten die Würde der Arbeit er­neu­ern und sie in den Mit­tel­punkt un­se­rer Poli­tik stel­len. Wir soll­ten uns da­ran er­in­nern, dass es bei der Ar­beit nicht nur da­rum geht, sei­nen Le­bens­unter­halt zu ver­die­nen, son­dern dass es auch da­rum geht, zum Ge­mein­wohl bei­zu­tra­gen und da­für An­er­ken­nung zu be­kom­men.« Michael J. Sandel im TED-Talk zu »Vom Ende des Ge­mein­wohls«

FALTER-Rezension

Von der Würde der Arbeit

Nina Brnada in FALTER 23/2023 vom 09.06.2023 (S. 19)

Michael Sandel ist einer der be­kann­tes­ten Phi­lo­so­phen un­se­rer Zeit. Der Har­vard-Pro­fes­sor ist nicht nur ein fes­seln­der Vor­tra­gen­der, der mit sei­nen Vor­le­sun­gen über Ge­rech­tig­keit welt­weit ein Mil­lio­nen­pub­li­kum er­reicht. Sandel ist auch ein mit­reißen­der Au­tor, der es ver­steht, auf ein­dring­li­che Wei­se die Ver­fasst­heit der po­li­ti­schen Ge­gen­wart zu be­schrei­ben, zu ana­ly­sie­ren und Vor­schlä­ge für Neu­es zu ma­chen. Etwa in sei­nem Buch "Vom Ende des Gemein­wohls".

Es erschien 2020, am Höhe­punkt der Covid-Pan­de­mie. Zu ei­ner Zeit, in der plötz­lich Super­markt­mit­ar­bei­ter­innen, Es­sens­lie­fe­ran­ten und Bus­fahrer welt­weit zu den be­klatsch­ten Hel­di­nnen und Hel­den des All­tag avan­ciert wa­ren. Erst die Not der Seu­che hatte er­ken­nen las­sen, dass die­se Men­schen, auch wenn sie schlecht be­zahlt sind, immens wich­ti­ge ge­sell­schaft­li­che Auf­gaben über­nehmen.

Genau darum geht es Michael Sandel - um die Wür­de der Ar­beit. Die­se gel­te es zu reha­bi­li­tie­ren; eben­so wie den My­thos der Leis­tungs­ge­sell­schaft fun­da­men­tal in­frage zu stel­len, der den Wert der ver­meint­lich ein­fa­chen Tä­tig­kei­ten hinter­treibt. Denn der Glau­be da­ran, so Sandel, dass jeder al­les er­rei­chen könnte, wenn er nur hart ge­nug ar­bei­te, sei ein ver­locken­der, aber trü­ge­ri­scher Glau­bens­satz, den auch die Linke kri­tik­los über­nom­men habe.

Eine toxische Illu­sion, der sich we­der die Pri­vi­le­gier­ten noch die Ab­ge­häng­ten be­wusst sind und die bei­den scha­det. Die einen ver­lei­tet sie zur Selbst­ge­fällig­keit, weil sie fälsch­li­cher­weise glau­ben ein­zig und al­lein selbst für ih­ren Erf­olg, also ih­ren fi­nan­ziel­len Wohl­stand ver­ant­wort­lich zu sein. Und die an­de­ren lässt es in Er­nied­ri­gung ver­har­ren. Das al­les hat un­mittel­bare po­li­tis­che Kon­se­quen­zen und führte, so Sandel, zum rech­ten Back­lash in den USA und der Wahl Donald Trumps zum Prä­si­denten.

Michael Sandel plädiert für eine mora­li­sche, ja gar spiri­tuel­le Über­prü­fung die­ses meri­to­kra­ti­schen Glau­bens­satzes.

Materialfluss 

Eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstands
Posted by Wilfried Allé Sunday, May 14, 2023 2:56:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Sonstiges
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von Monika Dommann

ISBN: 9783103971507
Ausgabe: 1. Auflage
Verlag: S. FISCHER
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Sonstiges
Format: Hardcover
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 24.05.2023
Preis: € 28,80
Kurzbeschreibung des Verlags

Ohne Logistik ist unser täg­liches Le­ben un­mög­lich ge­wor­den, ohne Lo­gis­tik gäbe es keine Glo­ba­li­sie­rung. Doch wie ist sie zu die­ser Ma­te­rial­fluss­ma­schi­ne ge­wor­den? In ihrer weg­wei­sen­den Stu­die unter­sucht Monika Dommann den Wa­ren­fluss aus über­ra­schen­der, aus um­ge­kehr­ter Per­spek­tive. Von Si­tua­tio­nen aus­ge­hend, wo nichts mehr fließt, nimmt sie die Be­din­gun­gen des Flie­ßens in den Blick: Vom An­schluss der Ge­trei­de­si­los an die Ei­sen­bahn im 19. Jahr­hun­dert bis zu den Just-in-Time-Lie­fer­ket­ten der Ge­gen­wart, von Stan­dards wie Fracht­brie­fen oder Pa­let­ten zum De­sign von Hoch­re­gal­la­gern oder Ver­packun­gen, von der Pla­nung mit Flow­charts bis zur EDV schreibt sie die be­son­dere, im­mer auch po­li­ti­sche Ge­schich­te der Lo­gis­tik – denn de­ren wah­res Ge­sicht zeigt sich dort, wo der Fluss ins Stocken ge­rät.
Fragen, die beantwortet werden, lau­ten unter an­de­rem: Was fließt in der Lo­gis­tik ei­gent­lich und wa­rum? Wie ist die Lo­gis­tik zu je­ner Ma­te­rial­fluss­ma­schi­ne ge­wor­den, der ge­rade auch dann ver­traut wird, wenn al­les an­ders wird, als es ein­mal war? Wel­ches Wis­sen steckt in die­sen Ma­schi­nen? Und in wel­chen Kul­tur­tech­ni­ken sind sie ver­an­kert? Ist die Lo­gis­tik nicht auch in­hä­rent po­li­tisch? Wa­rum kön­nen Waren fließen, auch wenn Men­schen still­ste­hen müs­sen? Und was ge­schieht an je­nen Or­ten, wo al­les still­steht?

Anstandslos 

Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege
Posted by Wilfried Allé Monday, April 10, 2023 10:32:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Armin Thurnher

ISBN: 9783552072787
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 128 Seiten
Erscheinungsdatum: 20.03.2023
Sammlung: Armin Thurnhers Bücher
Preis: € 19,60
Kurzbeschreibung des Verlags:

Armin Thurnher, „einer der scharfsinnigsten Analy­ti­ker öster­reichi­scher Poli­tik“ (NZZ) über die Poli­tik Öster­reichs, von Sebastian Kurz über Kor­rup­tion zum Welt­unter­gang

„Die Welt steht auf kan Fall mehr lang“, heißt es in Nestroys be­rühm­tem „Kometen­lied“. Vieles von dem, was einst zum fes­ten Be­stand demo­kra­ti­scher Selbst­ver­ständ­lich­keiten zähl­te, scheint ab­ge­schafft zu wer­den. Wir wis­sen nicht mehr, was wir für wahr hal­ten sol­len. Ganz schnell löste sich etwa der fal­sche Glanz des kon­ser­va­ti­ven Hoff­nungs­trä­gers Sebastian Kurz auf in einer Wolke von Skan­da­len, Kor­rup­tion und dubi­osem Ge­fol­ge. Wäh­rend die mul­tip­len Kri­sen das Publi­kum aber voll­ends ver­un­si­chern, fin­det Kurz mühe­los An­schluss an jene Kreise um Donald Trump, die unser poli­ti­sches Sys­tem lie­ber heute als mor­gen über Bord wer­fen möch­ten.
In seinem neuen Buch son­diert Armin Thurnher die Lage und zeigt, dass der große Welt­unter­gang wie immer in Öster­reich seine kleine Ge­ne­ral­probe hält.

FALTER-Rezension:

Der Nuntius der Lüge

Armin Thurnher in FALTER 11/2023 vom 17.03.2023 (S. 16)

Lassen Sie sich nicht täuschen! Wenn hier von Sebastian Kurz die Rede ist und von An­stand, dann im­mer von der öffent­li­chen Per­son, vom poli­ti­schen Dar­stel­ler, vom Staats­schau­spie­ler Kurz. Er ist kör­per­sprach­lich und eris­tisch (recht­habe­risch, nicht zu ver­wech­seln mit rhe­to­risch) per­fekt ge­schult. Das ist hin­rei­chend unter­sucht, so­dass nie­mand in die Il­lu­si­on ver­fal­len muss, es handle sich um natür­liche Gaben der Selbst­dar­stel­lung oder der Be­red­sam­keit. Hier ist al­les Kunst, viel­mehr künst­lich, bis hin zum Sche­mel, den ihm bei Wahl­kam­pag­nen ein Be­glei­ter ans Redner­pult stellt, damit er größer wirkt, und an­schlie­ßend gleich wie­der weg­zieht und bis zu den Vor­gaben seines Kabi­netts, aus wel­chem Blick­winkel er zu foto­gra­fie­ren ist ("Blick­winkel leich­tes Pro­fil / nicht fron­tal / auf Augen­höhe"), wir ken­nen die Ver­trauen stif­ten­den Kör­per­hal­tungen und die seg­nen­den Ges­ten, die je­den Kar­di­nal vor Neid er­blas­sen las­sen.
Aber in dieser politischen Persona wurde von An­fang an ein poli­ti­sches Pro­gramm sicht­bar. Kurz machte nie ein Ge­heim­nis da­raus. Das Neue da­ran war die Ent­schlos­sen­heit, so ein Kon­zept durch­zu­zie­hen, voll­kom­men gleich­gül­tig ge­gen­über per­sön­li­chen Rück­sich­ten oder Um­stän­den oder gar Er­for­der­nis­sen des An­stands. Diese Ent­schlos­sen­heit ge­hört zur krie­ge­ri­schen Hal­tung einer Kaste, die Sieg will. Sie wird im Sport vorexerziert und eingeübt und hat nur ein Ziel: die Niederlage des Gegners, nein, des Feindes. Nicht von ungefähr cha­rak­te­ri­sier­te die Kurz-Trup­pe in­tern ihr kri­tisch ge­sinnte Me­dien als "Feind­medien". Man kennt die Rede auch aus dem Sprach­ge­brauch von Kon­zer­nen, die sich stets "im Krieg" mit an­deren be­finden, und aus dem Sport, wo "Mon­ster­men­ta­li­tät" mas­sen­wirk­sam ein­ge­übt und ge­for­dert wird.

Wer ist der Feind? Da ist ein­mal die re­prä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie, am ver­achtens­wer­tes­ten in Ge­stalt des Sozi­al­staats. Da ist die Sozi­al­demo­kra­tie. Und das ist, was man im All­ge­mei­nen als den mo­der­nen Libe­ra­lis­mus be­trach­tet, das auf­ge­klärte Den­ken der Mo­derne, die plu­ra­lis­tische Ge­sell­schaft. Wa­rum nen­ne ich eine höchst ak­tu­el­le Figur wie Kurz anti­mo­dern? Weil man jene wirt­schaft­liche Mo­derne, auf deren Seite er sich ge­schla­gen hat, den neo­libe­ra­len Finanz­kapi­ta­lis­mus, nicht mehr zur Mo­derne, son­dern zu deren Fein­den rech­nen muss.

Die Interessen der Mächtigen laufen denen der Demo­kra­tie zu­wider. Der Real­kapi­ta­lis­mus ist vom Fi­nanz­kapi­ta­lis­mus ab­ge­löst wor­den. Das bringt ein neues Set von Ein­stel­lun­gen mit sich. Die lange Wel­le der neo­li­be­ra­len Pro­pa­gan­da hat die­se Ein­stel­lun­gen mit viel Geld und stra­te­gi­scher Aus­dauer in der Welt ver­brei­tet; der Sieg des Neo­libe­ra­lis­mus hat die ein­schlä­gige Men­ta­li­tät von Busi­ness-Schools und Wirt­schafts­eli­ten aus­ge­hend so tief ins all­ge­meine Be­wusst­sein ver­ankert, dass sich die meis­ten nicht ein­mal des­sen be­wusst sind, im Neo­li­be­ra­lis­mus zu leben. Das wäre, als hät­ten Ein­woh­ner der Sowjet­union nicht ge­ahnt, dass sie im Kom­mu­nis­mus leben.

Trotz dieser beinahe allgemeinen Ver­blendung sind in Euro­pa, vor al­lem in ei­nem Staat wie Öster­reich, die Be­har­rungs­kräfte des So­zial­staats noch längst nicht über­wun­den. Neue zi­vil­ge­sell­schaft­liche Or­ga­ni­sa­tio­nen stel­len sich aber nicht an die Sei­te des So­zi­al­staats, viel­mehr defi­nie­ren sie ihre ethi­schen Vor­stel­lun­gen iden­ti­täts­poli­tisch oder vor dem Hori­zont des Über­lebens der Gat­tung. Teile des­sen, was man einst so­zi­ale Be­we­gungen nannte, sind mit den Grünen un­ver­sehens in eine Koa­li­tion mit Kräf­ten ge­raten, die ihren Prin­zi­pi­en zu­wider­lau­fen.

Die sozialdemokratische Opposition wiederum tut sich immer schwerer, die Glaub­wür­dig­keit ihres En­gage­ments für Zivil­ge­sell­schaft und die unte­ren Klas­sen der Ge­sell­schaft dar­zu­tun, weil ihre Ex­po­nen­ten selbst in die Finanz­wirt­schaft stre­ben, als In­ves­to­ren oder ins Manage­ment bör­sen­no­tier­ter Ge­sell­schaf­ten. So fin­den wir eins­ti­ge Ar­beiter­führer als Freun­de der Oli­gar­chen wie­der, er­staunt da­rüber, dass die Mas­sen nicht mehr ihnen glau­ben, son­dern rechts­ex­tremen Agi­ta­toren, die ihnen ihre al­ten Pa­ro­len ge­stoh­len haben.

Den Gewerkschaften wiederum macht ihr Miss­trauen ge­gen neo­li­be­rale Prin­zi­pien eine Un­ter­stüt­zung echt li­be­ra­ler Ini­tia­tiven schwer, und sie unter­schät­zen das Flexi­bili­täts-und Frei­heits­be­dürf­nis der meis­ten Men­schen. Ihre Schutz­funk­tion sieht im Neo­li­be­ra­lis­mus aus wie rei­ne De­fen­si­ve und wird erst in der Krise at­trak­tiver; poli­tisch of­fen­siv wurde sie nicht.

Keine Angst, wir sind noch bei Sebastian Kurz. Was den Libe­ra­lis­mus der Angst be­trifft, genüge die kleine Er­in­ne­rung, mit wel­cher Lust er in der ers­ten Co­ro­na-Phase die da­mals ge­wiss not­wen­dige Rolle des schar­fen Mah­ners über­nahm und sie im Seiten­blick auf die Zu­stim­mung auto­ri­täts­gläu­bi­ger Kli­en­tel über­trieb.

Wir befinden uns in einer großen Aus­einan­der­set­zung, in der die pre­kä­ren Er­run­gen­schaf­ten der Demo­kra­tie, des Rechts und Sozi­al­staats, eine Öf­fent­lich­keit mit frei­er Mei­nungs­äuße­rung fun­da­men­tal an­ge­grif­fen wer­den, sicht­bar von außen durch Auto­kra­tien in­ner­halb und außer­halb der EU, am be­ein­dru­ckendsten von China und am grau­samsten von Russ­land. Weni­ger sicht­bar ist der An­griff von in­nen, von rechts, denn diese Aus­ein­ander­set­zung fin­det gleich­sam hin­ter ei­ner Nebel­wand statt. Die einen ver­mö­gen die Wand nicht zu öff­nen, die ande­ren kämp­fen da­rum, sie mög­lichst dicht zu ge­stal­ten.

Nur im Nebel wählen Menschen gegen ihre Interessen. Als Bei­spiel für die­sen Nebel kann die Aus­einan­der­set­zung von free speech die­nen. Das Pro­b­lem wurde in der di­gi­ta­len Welt des­wegen groß, weil die di­gi­ta­len Me­dien von An­fang an ge­setz­lich als Platt­for­men be­han­delt wur­den, das heißt: als Me­dien in einer rechts­frei­en Zone. Die 1996 unter dem fa­ta­len Libe­ra­li­sie­rer Bill Clinton be­schlos­sene Section 230 des Communi­cations Decency Act, eines US-Ge­set­zes ge­gen Porno­gra­fie im Netz, ent­las­tete die digi­ta­len Ver­breiter von der Ver­ant­wor­tung für die von ihnen ver­brei­te­ten In­halte. Dies ge­schah ex­pli­zit, um den Tech-Kon­zer­nen der USA einen glo­ba­len Wett­be­werbs­vor­teil ge­gen­über ana­lo­gen Me­dien zu ver­schaf­fen. Eine ver­blen­dete Linke sah die Ge­fah­ren zu­erst nicht und be­trach­te­te den Cyber­space als herr­schafts­freien Raum, in dem sie technik­ge­stützt ihre neue kosmo­po­li­ti­sche, egali­täre Ge­sell­schaft aus­brü­ten würde. Die Des­illu­sio­nie­rung war be­trächt­lich, als sich der herr­schafts­freie Raum doch als von Kapi­tal­inter­es­sen domi­niert heraus­stellte und die Sili­con-Valley-Ideo­lo­gie nicht welt­weite Be­freiung, son­dern bloß radi­ka­le Kom­mer­ziali­sie­rung der glo­ba­len Kom­mu­ni­ka­tion im Sinn hat­te und sich als der tech­ni­sche Aus­druck des­sen heraus­stellte, was öko­no­misch Neo­li­bera­lis­mus, philo­so­phisch Nar­ziss­mus heißt, in der zu­tref­fen­den Inter­pre­ta­tion von Isolde Charim die Fähig­keit, ohne Zwang zu zwin­gen.

Der Staat hatte die Frage, was in einem Rechts­staat ge­sagt wer­den darf und was nicht, durch seine Regu­lie­rung pri­va­ti­siert. Da­mit schwäch­te er sich und über­ließ die Aus­ein­ander­set­zung ge­sell­schaft­lichen Grup­pen, die auf der Lin­ken zur cancel culture ten­dier­ten und zur Rech­ten zu einem miss­bräuch­li­chen Free-Speech-Radi­ka­lis­mus. (Es gibt auch ernst­ge­mein­ten Free-Speech-Radi­ka­lis­mus, wie ihn etwa der Lin­guist Noam Chomsky vertritt.)

So kommt es, um zum Nebel zurück­zu­kehren, dass Leute wie Donald Trump oder Elon Musk sich als Hel­den der Rede­frei­heit dar­stel­len kön­nen, der schöns­ten der bür­ger­li­chen Frei­heiten, ob­wohl ihnen der Sinn nach nichts an­derem steht, als den Rechts­staat zu­rück­zu­drän­gen, den Ga­ran­ten die­ser Frei­heiten. Er soll ihnen ihre Steuer­pri­vi­legien und ihre fet­ten Auf­trä­ge garan­tie­ren, sich aber nicht mit Ge­set­zen wich­tig­machen, die ihr Busi­ness be­hin­dern. Selbst­be­stim­mungs­recht für "die Wirt­schaft" - eine Art Wirt­schafts­demo­kra­tie, in der die (Medien-)kapital­be­sitzen­den über die an­deren be­stim­men. Auto­ri­tärer Kapi­ta­lis­mus, il­libe­rale Demo­kratie -wie immer man es nen­nen mag.

Meinungsfreiheit auf Europäisch und Rechts­staat­lich be­deu­tet, die Gren­zen die­ser Rede­frei­heit frei und mühe­los ein­kla­gen zu kön­nen. Diese Gren­ze ist das Ge­setz; durch die auch von Pro­gres­si­ven ver­tei­digte Nicht-Auf­find­bar­keit von Sprechen­den im Netz, die Ano­ny­mi­tät, lässt sich die­ses Ge­setz nur unter Mü­hen durch­setzen, die nicht alle auf sich nehmen kön­nen. Es ist also nicht mehr all­ge­mein gül­tig. Pro­tes­te ge­gen die­sen Zu­stand ha­ben da­zu ge­führt, dass das Regime der Selbst­kon­trol­le, für die Pres­se nach ähn­li­chen Pro­tes­ten in den USA der 1940er-Jahre ein­ge­führt, von den Social-Media-Kon­zer­nen wenigs­tens an­deu­tungs­weise an­ge­wen­det wird. Dies bleibt frag­wür­dig, weil Selbst­kon­trol­le der Will­kür der Kon­zerne über­las­sen wird.

Es ist Willkür, einem Lügner die Öffent­lich­keit zu ent­zie­hen, wenn er nichts Ge­setz­wid­ri­ges tut, eben­so wie es Will­kür ist, einen Lüg­ner vor dem Zu­griff des Ge­set­zes zu schüt­zen, wenn er an­deren Nach­teile zu­fügt. Die Will­kür der Tech-Kon­zerne führt zur Domi­nanz der poli­ti­schen Lüge. Oder führte die Lüge zur Will­kür?

Die Lüge wurde zum Mittel rechts­extremer Pro­pa­gan­da. Die von Mil­liar­dären fi­nan­zier­ten Me­dien der Alt-Right, wie das vom noto­ri­schen Steve Bannon ("Flood the zone with shit") ge­lei­tete Portal Breit­bart, ver­un­si­cher­ten die Öffent­lich­keit mit Des­in­for­mation. Dass ihre poli­ti­schen Ge­gen­spie­ler dies­be­züg­lich nicht un­schul­dig sind, ver­steht sich; aber die Wucht der Lü­gen der Rech­ten, an­ge­führt von Donald Trump, den Me­dien des Tycoons Rupert Mur­doch und der digi­ta­len Alt-Right-Publi­zis­tik, war nicht nur über­wäl­ti­gend, son­dern sys­te­ma­tisch. Das Auf­fäl­ligste und Neue an Trump war, dass er im Unter­schied zur Kon­kur­renz und sei­nen Vor­gän­gern un­be­küm­mert log. Von sei­ner größ­ten Lüge, die Wahl sei ihm ge­stoh­len wor­den, rückt er nach wie vor nicht ab.

Dieses unverschämte Lügenprinzip in Öster­reich hei­misch zu ma­chen, das war die größte Tat des Sebastian Kurz. Es be­gann mit der Fa­bri­ka­tion sei­ner Un­wider­steh­lich­keit mit ge­fälsch­ten Um­fra­gen und setzte sich fort bis zur from­men Lüge, er sei ab­ge­tre­ten, weil er sich seiner Fa­mi­lie wid­men wol­le. Durch­gehend zeigte er die ge­for­derte Monster­men­ta­li­tät. Diese Men­ta­li­tät stellt die Er­lan­gung und den Er­halt der Macht über die Gel­tung all­ge­meiner Regeln.

Demokratie beruht auf der Annahme, dass Dinge im öffent­lichen Dis­kurs so er­ör­tert wer­den, dass alle eine Chance haben, sich un­vor­ein­ge­nom­men ihre Mei­nung zu bil­den. Eine Fik­tion, ge­wiss, doch ist die Demo­kra­tie ins­ge­samt eine Fik­tion, die auf sol­chen An­nah­men be­ruht. Ein ge­wis­ses Maß an Selbst­kon­trol­le, Selbst­be­gren­zung, ja An­stand ist not­wendig, sol­len die demo­kra­tische Are­na und ihre Ins­ti­tu­tionen funk­tio­nieren. Wer­den die Spiel­re­geln miss­ach­tet, führt das zum Dik­tat der Stär­keren.

Man mag die österreichische Version des "disrupter", des "puer robustus", des star­ken Man­nes nicht als die er­kannt ha­ben, die sie war, weil sie in Maria­zell im Trach­ten­janker po­sier­te, sich mit ak­kurat be­ach­te­ter Tiefen­schär­fe und Farb­ge­bung im Alters­heim oder im trau­lichen Alpi­nisten­ge­wand beim Durch­strei­fen des Ge­birgs foto­gra­fie­ren ließ. Aber sie funk­tio­nier­te nach dem Prin­zip, un­sere Wer­te ste­hen hö­her als die der ande­ren. Wir er­rin­gen die Hege­mo­nie nicht mit bes­se­ren Ar­gu­men­ten, son­dern mit Ge­walt, mit dem Bre­chen von Re­geln, mit Lü­gen, mit Schwin­del.

Das sind etwas härtere Worte für das, was eupho­risch mit Mes­sage-Con­trol be­schrie­ben wird. Die­se kämpfte nicht nur an der Front der Bot­schaf­ten, sie zer­stör­te auch die Medien­land­schaft nach­haltig. Näm­lich da­durch, dass sie den kor­rup­tes­ten Boule­vard aus­gie­big fi­nan­zier­te; da­durch, dass sie den öf­fent­lich-recht­li­chen Rund­funk zu rui­nie­ren ver­suchte (nur Ibiza hatte dabei einen ver­zö­gern­den Ef­fekt); da­durch, dass sie das Privat­fern­sehen reich ali­men­tier­te (zu­fällig ist Anto­nella Mei-Pochtler Auf­sichts­rä­tin bei der ProSiebenSat.1-Grup­pe); da­durch, dass sie Feind­medien aus­trock­nete.

Die Gleichschaltung der Medien war das Ziel des Kurz-Regimes, er­klär­te sein Par­tei­ge­nos­se und Vor­gän­ger Rein­hold Mitter­lehner im Unter­suchungs­aus­schuss. Mit dem Mann, der in einem Chat mit dem ORF-Feind Heinz-Christian Strache von lauter "roten Zecken" im ORF re­dete, dem Inves­tor Alexan­der Schütz, ist Kurz nun ge­schäft­lich ver­partnert. Wie ein Satyr­spiel muten die gegen­sei­ti­gen Be­zich­ti­gungen von Sebastian Kurz und Thomas Schmid an, die sich in einem von Kurz auf­ge­zeich­neten und zum Zweck sei­ner Ent­las­tung von den Inse­raten­kor­ruptions­vor­wür­fen ge­führ­ten Tele­fo­nat mit Schmid zu einem Vor­text ge­gen­sei­ti­gen Schwin­delns auf­bauten, denn Schmid hatte die Ab­sicht des An­ru­fers er­fasst, so­dass das Pub­li­kum, dem die­ser denk­wür­dige Lügner­dia­log so­gleich über­mit­telt wurde, vor der alten Fra­ge stand, ob es dem Kreter glauben soll, der be­hauptet, dass alle Kreter lügen. Was man be­kannt­lich da­mit be­ant­wor­tet, dass man sich auf die Meta­ebene zu­rück­zieht und die bei­den Kreter von außen be­trach­tet. Aus dieser Per­spek­tive ver­steht man, dass Lügen einer­seits da­zu dient, das be­ste­hende Sys­tem zu kip­pen, und anderer­seits nur eine Form ist, die Auf­merk­sam­keit zu stei­gern.

Beides trifft idealtypisch bei dem neuen Twitter-Besitzer Elon Musk zu­sam­men. Er strebt mit der Wieder­zu­las­sung des von der Selbst­kon­trol­le aus­ge­schlos­senen Trump und sei­nem osten­ta­tiv dis­rup­ti­ven Ge­baren drei Dinge an: ers­tens als kom­mu­ni­ka­ti­ve Kraft zu mäch­tig zu wer­den, um re­gu­liert wer­den zu kön­nen; zwei­tens den bis­her, bei al­ler sys­te­misch an­ge­leg­ten Toxi­zi­tät, doch auch dis­kur­siv orien­tier­ten Mikro­blog­ging­dienst Twitter zu einer kom­plet­ten Cloud-App zu machen, digi­ta­le Kon­trol­le, Daten­an­häu­fung und Steue­rung des Publi­kums zwecks Er­hö­hung von Pro­fit und Macht in­klu­sive; und drit­tens das Ziel aller Nebel-und Lügen­poli­tik, bei al­lem gegen­tei­ligen Ge­rede über unter­neh­me­ri­sche Tu­gen­den und Risi­ko­freu­de vom Staat mas­sive Auf­träge und Sub­ven­tio­nen zu lu­krie­ren und gleich­zei­tig Ver­mögens­steuern zu ver­mei­den oder zu mini­mie­ren. Das Busi­ness heißt Über­wachungs­kapi­ta­lis­mus oder Cloud-Kapi­ta­lis­mus. Das klingt et­was wol­kig-un­ver­bind­lich, aber man kann schön be­schrei­ben, was Kurz mit ihm ver­bindet.

Es wurde oft bemerkt, dass der Cloud-Kapitalismus einige Wunder voll­bringt. Zum einen ver­an­lasst er uns da­zu, kos­ten­los zu ar­bei­ten, zum an­deren, dass er in uns Be­gier­den nach Din­gen er­weckt, die wir drit­tens dort, in der Cloud, gleich haben und kau­fen und auch be­zah­len wol­len, wo­für wir nicht nur mit Geld, son­dern auch mit un­seren Da­ten be­zah­len. Das vier­te Wun­der aber be­steht da­rin, all das nicht zu se­hen und die Vor­gän­ge auf der in­di­vi­dual­psycho­lo­gi­schen Ebe­ne zu be­las­sen. So ist das Inter­essante an der po­li­ti­schen Persona Kurz weni­ger die Tat­sache, dass sein Er­folg auch auf ge­konntem digi­ta­lem Mar­ke­ting be­ruhte; viel inter­es­san­ter sind die Wur­zeln sei­nes radi­kal dis­rup­tiven Han­delns.

Er rückte es nie in den Vordergrund, und auch seine Kri­ti­ker brachten sel­ten die Fäden zu­sam­men. Man­che wur­den erst nach dem Ende sei­ner po­li­ti­schen Lauf­bahn sicht­bar. Aber die Kon­tak­te zum neo­libe­ralen und cloud­orien­tier­ten Kapi­tal ent­stan­den von An­fang an durch seine Chef­be­ra­terin Mei-Pochtler. Sie war nicht nur im welt­wei­ten Execu­tive Commit­tee der Boston Con­sul­ting Group, sie lei­tete auch die Stab­stel­le für Stra­te­gie, Ana­ly­se und Pla­nung im Kanzler­amt, ver­ant­wort­lich für Öster­reichs "Digi­ta­li­sierungs­strate­gie" (im Bei­rat neben an­deren: Wire­card-Chef Markus Braun), sie ver­han­del­te in der ers­ten Koa­li­tion "Wirt­schaft und Ent­büro­kra­ti­sie­rung", und sie ver­mit­telte ge­mein­sam mit ihrem Mann, dem Indus­triel­len Christian Pochtler (seit 2020 eben­falls Auf­sichts­rat in einem ÖBAG-Unter­nehmen), für Kurz Kon­tak­te zu mäch­ti­gen Män­nern der Cloud-Indus­trie wie dem ehe­ma­li­gen Google-Chef Eric Schmidt, auf deren Ein­la­dung Kurz in den USA Ver­an­stal­tun­gen und Semi­nare be­suchte.

Dass Kurz sofort nach Ende seiner Tätigkeit im Kanzler­amt einen Job bei Peter Thiel er­hielt, darf man wohl eben­falls mit sol­chen Kon­tak­ten er­klä­ren. Thiel war der erste of­fen mit dem rech­ten Flü­gel der Repu­bli­ka­ner sym­pa­thi­sie­rende Sili­con-Valley-Tycoon, er be­riet auch Donald Trump und prä­sen­tiert sich als Intel­lek­tu­eller der Neuen Rechten. Er ist nicht nur vom fran­zö­si­schen Kultur­kri­tiker René Girard und des­sen Mimesis-Theorie be­ein­flusst, er ist viel­mehr ein be­ken­nen­der Straussianer. Auf den Philo­sophen Leo Strauss (1899-1973) be­ru­fen sich Gene­ra­tionen der den­ken­den US-ameri­ka­ni­schen Rechten, Neo­cons und Kriegs­trei­ber. Rechts­plato­ni­ker und in der Nach­fol­ge von Carl Schmitt ste­hend, ver­tritt Strauss eine radi­kal anti­auf­kläre­rische Hal­tung. Einer von Thiels be­rühm­tes­ten und am sel­tens­ten ge­le­senen Essays trägt den Titel "The Straussian Moment". Auch wenn Thiel darin, unmittelbar nach 9/11, gegen die Anwendung von Gewalt plädiert, nennt er das Ziel der postmodernen Welt un­miss­ver­ständl­ich: "The peace of the king­dom of God." Der Weg dort­hin ist klar: "Es kann kein wirk­li­ches Über­ein­kom­men mit der Auf­klä­rung ge­ben, denn zu viele ihrer Binsen­weis­heiten haben sich in unserer Zeit als töd­liche Lü­gen er­wiesen."

Neben seiner Tätigkeit bei Thiel Capital agiert Kurz auch als Inves­tor. Eine sei­ner ers­ten Akti­vi­täten war die Grün­dung einer Firma namens "Dream Secu­rity" ge­mein­sam mit dem ehe­ma­li­gen Lei­ter der israe­li­schen Firma NSO, be­rüch­tigt für die Spion­age­soft­ware Pegasus. Ge­schäfts­zweck des Kurz-Unter­nehmens ist "Cyber-Security". Das passt recht gut zu den Akti­vi­tä­ten Thiels, dessen Big-Data-Firma Palantir Techno­lo­gies nicht nur für Hedge-Fonds und Ban­ken ar­bei­tet, son­dern vor allem für das US-Ver­teidi­gungs­minis­terium.

Bei einem Teil der US-amerikanischen Rechten ist das Ver­hältnis zu den Evan­geli­kalen anders als bei Donald Trump nicht nur instru­men­telles Zweck­bünd­nis. Funda­men­ta­lis­mus und Neo­libe­ralis­mus gehen sehr gut zu­sam­men, und Peter Thiel ist da­für ein promi­nen­tes Bei­spiel. Auf funda­men­ta­lere Art wird hier die plat­te öko­no­mi­sche Maxi­me des Fried­rich August von Hayek über­höht, die Wolf­gang Schüs­sel, Kurz' Vor­läufer und Be­rater im Hinter­grund, mit dem Slogan "Mehr privat, weniger Staat" un­über­trof­fen tri­via­li­siert hatte.

Im österreichischen Sandkistenformat erstaunt es nun weniger, dass ein Funda­men­ta­lis­mus-Sympa­thi­sant wie Bern­hard Bonelli, aus­ge­bil­det im Reich Mei-Pochtlers bei Boston Con­sul­ting, das Kabi­nett von Kurz lei­tete. Es nimmt nun weni­ger wunder, dass Natio­nal­rats­prä­si­dent Wolf­gang Sobotka Gebets­stun­den im Par­la­ment ab­hal­ten lässt. Und das evan­geli­ka­le Weihe­spiel von Sebastian Kurz in der Stadt­halle be­kommt einen Sinn.

Das antiaufklärerische Revirement fundamentalistischer Religion ist in Öster­reich mit dem Rück­tritt ver­schie­de­ner von Papst Johannes Paul II. er­nannter Kardi­näle und Bi­schöfe einer moder­neren Kir­che ge­wichen. Aber in Euro­pa kamen zur glei­chen Zeit Re­gimes mit reak­tio­när-kleri­ka­len An­lie­gen auf: Polen und Un­garn mach­ten die "illi­berale Demo­kratie" zum Schlag­wort. Vor allem die Freund­schaft von Kurz zum Orbán-Regime war von An­fang an nicht zu über­sehen.

Die Persona Kurz ist eine Nebelfigur erster Klasse, ein höf­li­cher Rüpel, ver­siert in der Kunst, al­les per­fekt aus­zu­spre­chen und da­hin­ter ganz an­deres zu ver­ber­gen. Nie­mals die Con­te­nance zu ver­lieren und auf schein­bar un­er­schüt­ter­lich net­te Wei­se die Geg­ner gna­den­los mit al­len Mit­teln nieder­zu­machen. Er war nicht nur ein Fabri­kant schö­nen Scheins. Er hat ein Land be­schis­sen, seine ei­gene Par­tei be­schis­sen, die Me­dien, die er mit Staats­knete zu­schiss, die Kir­che, die ihm para­evan­geli­kal hul­digte, das Par­la­ment, das er dis­kre­di­tierte, die Jus­tiz, die er ins­tru­men­ta­li­sierte, die Staats­an­walt­schaft, die er at­ta­ckierte -sie alle sehen den Sauber­mann nun als einen da­stehen, der an­patzte: sich selbst und ein ganzes Land mit ihm

Über den Author:

Armin Thurnher, geboren 1949 in Bregenz, ist Mitbegründer, Chef­redak­teur und Heraus­geber der Wiener Wochen­zeitung FALTER. Er er­hielt zahl­reiche Preise und Aus­zeich­nungen, unter an­derem den Ehren­preis des Öster­rei­chi­schen Buch­handels für Tole­ranz, als erster Nicht-Deut­scher den Otto-Brenner-Preis für seinen Ein­satz für ein so­zia­les Eu­ro­pa und den Bruno-Kreisky-Preis für das poli­ti­sche Buch für sein Lebens­werk. Thurnher ist Autor einer Viel­zahl an Büchern. Im Falter Verlag er­schienen seine poli­ti­schen Kom­men­tare „Seinesgleichen“ und das mit Irena Rosc ver­fasste Koch­buch „Thurnher auf Rezept“. Seine Kolumne „Seines­gleichen ge­schieht“ er­scheint seit 1983 jede Woche im FALTER.

Revanche 

Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat
Posted by Wilfried Allé Thursday, March 30, 2023 9:53:00 PM Categories: Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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von Michael Thumann

ISBN: 9783406799358
Verlag: C.H.Beck
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.03.2023
Preis: € 25,70
Kurzbeschreibung des Verlags:

ARCHIPEL PUTIN - INNENANSICHTEN AUS DEM BEDROHLICHSTEN REGIME DER WELT

Kaum einer kennt Russland besser als Michael Thumann, der seit über 25 Jahren aus Osteuropa für die ZEIT berichtet. Er legt nun ein atemberaubend geschriebenes Buch vor, das Russlands Absturz in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nach­zeich­net. Das Motiv des Dik­ta­tors und sei­ner Ge­treuen: Re­van­che zu neh­men für die demo­kra­ti­sche Öff­nung nach 1991 und die ver­meint­liche Demü­ti­gung durch den Wes­ten. Putins Herr­schaft radi­kali­siert sich wei­ter. Es ist das be­droh­li­chste Re­gime der Welt.

"Unter Wladimir Putin verabschiedet sich ­, das ei­gent­lich größte euro­pä­ische Land, aus Eu­ro­pa. Er­neut senkt sich ein Eiser­ner Vor­hang quer durch den Kon­ti­nent. Reise ich in die­ses Land, werde ich am Flug­ha­fen in al­ler Re­gel auf­ge­halten. Der Grenz­beamte hält mei­nen Pass fest und tele­fo­niert lange mit sei­nen Vor­ge­setz­ten. Ein Men­sch im dunk­len An­zug, wahr­schein­lich Ge­heim­dienst, holt mich ab und führt mich in einen Kel­ler­raum. Da­rin ein Schreib­tisch, eine alte Ma­trat­ze mit Sprung­fe­dern, ka­put­te Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fra­gen be­ant­wor­ten: Wo wohnen sie? Was den­ken sie über die Mili­tär­ope­ra­tion? Was haben sie vor in Russ­land? Ich ant­worte knapp und frage mich selbst: Kom­me ich über­­haupt noch in das Land? Und kom­me ich wie­der he­raus?"
Michael Thumann

Russlands Absturz in die Diktatur und der Weg in Putins im­peria­­li­s­ti­­schen Krieg – in ei­nem fes­­seln­­den Mix aus jour­­na­­lis­ti­scher Re­por­­tage und poli­­ti­sch-his­­to­ri­­scher Ana­­ly­­se
Michael Thumann ist einer der letz­ten deut­schen Kor­­respondenten, die noch in Moskau leben
Das Buch basiert auf zahl­reichen Be­geg­nun­gen und ex­klu­si­ven Ge­sprä­chen mit Pro­ta­go­nis­ten der rus­si­schen Poli­tik und Ge­sell­schaft

FALTER-Rezension

Reisebericht für echte Russlandversteher

Sebastian Kiefer in FALTER 13/2023 vom 31.03.2023 (S. 17)

Westeuropa wiegte sich lange in der süßen Illu­sion, die Welt werde, wenn man nur freund­lich ge­nug bliebe, bald wie Europa wer­den - Krieg würde dann kein Mit­tel der Poli­tik mehr sein, Kon­flik­te über­all per Di­plo­ma­tie und Ver­trag ge­re­gelt, der Se­gen des Freihandels die Men­sch­heit ver­söh­nen. Dass nur der ato­mare Schutz­schild der USA die im­peria­lis­tische Aggres­si­vi­tät der ­begrenzte, unterschlug man gern.
Michael Thumann, langjähriger Moskaukorrespondent der Zeit, ahnte früh, dass Wladimir Putin die europäischen Illusionen zerstören werde. Er traf Putin das erste Mal 1999, als der Krieg in Tschetschenien Putin die Präsidentschaft gesichert hatte. Heute sieht Thumann das tschetschenische Schreckensregime als "Versuchslabor", in dem die Umwandlung Russlands in einen revanchistischen, schrankenlos korrupten Terrorstaat erprobt wurde. .

Seit je bewunderte Putin wie so viele Rus­sen star­ke, ge­walt­be­rei­te Füh­rer, die nach Re­van­che für mehr ge­fühl­te denn reale Krän­kungen der ei­ge­nen Größe dür­sten. In den 2000er-Jah­ren gab sich Putin zu­nächst mit ei­ner "hy­bri­den" Ord­nung aus auto­kra­ti­schen Ele­men­ten, so­zia­len Wohl­ta­ten und re­prä­sen­ta­ti­ven Bau­pro­jek­ten zu­frie­den - die hohen Roh­stoff­pre­ise er­mög­lich­ten pater­na­lis­ti­sche Wohl­stands­illu­sio­nen, wäh­rend die öko­no­mi­sche und zi­vi­le Mo­derni­sie­rung aus­blieb.

Den Umschwung brachte für Thumann der Winter 2011/12: Landes­­weit pro­­tes­­tier­­ten hun­­dert­­tau­­sen­de Rus­­sen ge­­gen die dreist ge­­fälsch­­ten Wah­­len. Putin war fas­­sungs­los. Jetzt erst ent­­deck­te er das Ins­­tru­­ment des von Para­­noia und Krän­­kung dik­­tier­­ten, eth­­nisch ge­­grün­­de­­ten Natio­­na­­lis­mus, um den Zorn des Vol­­kes um­zu­­len­­ken auf ei­­nen Feind, dem man - wie­der ein­­mal - alle Schuld am rus­­si­schen De­­sas­ter zu­­schrieb: dem "Wes­ten", wahl­­weise als Libe­­ra­­li­s­mus, Säku­­lar­is­­mus, Par­la­­men­tarismus, als EU, USA oder Nato zu ver­stehen.
Zu Beginn seiner Amtszeit gab Putin zumindest im Westen vor, Russ­land so umzuwandeln, dass es einmal Teil der westlichen Bündnisse werden könne. Putin hatte nichts dagegen, als unter seinem Freund Kanzler Gerhard Schröder (der sich, zuvor Atheist, Putin zuliebe eigens in der Erlöserkathedrale bekehren ließ) sieben osteuropäische Länder der Nato beitraten, doch seit den Massenprotesten lancierte Putin die Mär von der Bedrohung Russlands durch die Nato -eine propagandistische Bedrohungshalluzination, die Kollektive zusammenschweißt und künftige Angriffskriege als Verteidigungsmaßnahmen rechtfertigen lässt.

Putin setzte bei der Lancierung dieser Legende auf Bündnisse mit Rechts-und Linkspopulisten Europas und allemal auf die Deutschen und ihr gebrochenes Verhältnis zur angelsächsischen Liberalität. Thumann erinnert daran, wie überraschend stark hier alte geostrategische und kulturelle Identitätskonstruktionen Deutschlands reproduziert wurden: Im Vertrag von Rapallo 1922 ging die junge Weimarer Republik, verführt vom hyperkonservativen Diplomaten Adolf Georg Otto "Ago" von Maltzan, ein antiwestliches Bündnis mit den Bolschewiki ein.

So durchbrachen sie ihre internationale Isolation. Das Ergebnis: "Deutsche Technik ging nach Russland, zurück floss russisches Öl": "deutsche Linke und Konservative [feierten] Rapallo als Triumph über den liberal-kapitalistischen Westen".

Putins nationalistische Wende ist für Thumann Teil des globalen Phänomens des "Neuen Nationalismus", dem er 2020 ein eigenes, lesenswertes Buch widmete: Viktor Orbán, Erdoğan, sogar Donald Trump waren ursprünglich liberale Geister und wurden nicht aus gewachsener Überzeugung, sondern aus zynischem Machtkalkül zu Nationalisten. Sie bedienen sich alter, antiliberaler Rhetoriken, um kollektive Energien zur Verteidigung verlorener nationaler Größe zu mobilisieren und zu kanalisieren - doch letztlich glauben sie nur an eine einzige Sache: an ihr zwischen Größenwahn, Kränkung und Aggressivität schwankendes Ego. Über die Kontrolle der Massenmedien implantieren sie ihre hoch emotionalisierten, von rohem Freund-Feind-Denken strukturierten Ersatzrealitäten in die Gehirne ihrer Anhänger.

In eingestreuten Reportageminiaturen führt Thumann vor, wie bestürzend distanzlos sogar gebildete Russen die propagandistisch erzeugten, massenmedial verbreiteten Ersatzrealitäten internalisierten. Thumann führt uns auch ins Jelzin-Museum in Jekaterinenburg. Jelzin ist für Thumann der tragische Antiheld und als solcher ein Symbol Russlands schlechthin: Groß an Mut und Herz, schwach in Organisation und Zukunftsgestaltung stieß er das Tor zur Freiheit und Moderne auf, dann kollabierte er, in Korruption und Alkohol versinkend, und gab Russland erschöpft in die Hände des (Ex-)Geheimdienstlers und Autokratenanbeters.

Thumann lehrt, was es für einen rationalen Weltbürger heißt, ein wahrer "Russlandversteher" zu sein: Ein solcher verfällt weder in Opfer-Täter-Ideologien noch in pauschale Dämonisierungen. Er macht im Wechsel von einfühlender Teilnahme und historisch reflektierender Außensicht verständlich, was so schwer zu begreifen ist: weshalb alle unter Jelzin gehegten Hoffnungen auf eine friedliche Demokratisierung und Modernisierung Russlands implodierten und aus Russland neuerlich ein imperialistischer Führer-und Terrorstaat werden konnte.

Es wäre nicht möglich gewesen, wenn die Westeuropäer nicht im Wachtraum von einer globalen Handels-und Friedensordnung ohne Despoten und Revanchisten gefangen gewesen wären.

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