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Wir müssen reden 

Warum wir eine neue Streitkultur brauchen von Susanne Schnabl
Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 21, 2018 9:27:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Laut, drastisch und unversöhnlich. Nicht nur im Netz, auch im öffentlichen, im politischen Diskurs geht es zunehmend um entweder – oder, gut oder böse. Zunehmend dreht sich alles um das schnelle Urteil bzw. Vorurteil dafür oder dagegen. Es ist eng geworden. „Sich binnen Sekunden zu allem eine Meinung zu bilden und diese vehement und unnachgiebig zu verteidigen“, so Susanne Schnabl, „ist legitim. Aber wo bleibt das Dazwischen?“
Ringen um Argumente, um Standpunkte? Dem anderen zuhören, sich austauschen? Wie steht es um unsere Streitkultur in einer temporeichen, unübersichtlichen Zeit, in der die Versuchung nach vermeintlich simplen Antworten so groß geworden ist? Kommt uns die Diskursfähigkeit in aufwühlenden Zeiten abhanden? Weshalb wir wieder mehr Sachlichkeit statt Drama brauchen, erklärt Susanne Schnabl, und fordert eine neue Kultur des Streitens. Die österreichische Journalistin und Fernsehmoderatorin Susanne Schnabl ist zutiefst überzeugt, dass genaues Fragen und noch genaueres Hinhören wichtiger denn je für unsere Debattenkultur und à la longue wichtig für den Erhalt unserer Demokratie ist. Sie steht für Qualitätsjournalismus und moderiert seit vielen Jahren den „Report“, das wöchentliche Fernsehmagazin für Innenpolitik des ORF.

Preis: € 22,50
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.03.2018

 

Rezension aus FALTER 12/2018

„Demokratie ohne Streit gibt es nicht“

ORF-Moderatorin Susanne Schnabl über den Lärm der Empörer und das Schweigen der Mitte

Die öffentliche Debatte ist gehetzt, schrill und gehässig geworden. Dabei werden die Lauten an den Rändern gehört, während die Mitte auseinanderdriftet oder sich in Schweigen einmauert. Die ORF-Journalistin und „Report“-Moderatorin Susanne Schnabl hat ein Buch mit dem Titel „Wir müssen reden“ geschrieben, in dem sie beklagt, dass das gesellschaftliche Gespräch, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, zunehmend von einer ritualisierenden Erregung dominiert wird, die mehr und mehr die Zwischentöne verliert. Dabei werde die einfachste Grundregel der Kommunikation ignoriert: Dem anderen zuhören und zuerst nachdenken, bevor man sich ein Urteil bildet.

Falter: Was war der Anstoß zu Ihrem Buch?
Susanne Schnabl: Ein Anstoß war die Polarisierung im Zuge der Flüchtlingskrise. Da war eine neue Unerbittlichkeit zu spüren. Es gab die Helfer und jene, die das ablehnten. Die wechselseitige Kritik der beiden Lager bestand aber nicht in Argumenten, sondern in Vorwürfen, die auch an uns Journalisten gerichtet waren. Da ging es nicht nur um die gegensätzlichen Meinungen selbst, sondern die Frage, warum wir dem jeweils anderen überhaupt ein Forum bieten, seine Meinung zu sagen. Zudem bestand eine Diskrepanz in der Kritik an uns Journalisten und dem seither steigenden Publikumszuspruch, der sich in einem Zehnjahreshoch befindet. Ich habe mich gefragt: Wo ist die schweigende Mitte?

Wie haben Sie das Gespräch gesucht?
Schnabl: Ich habe zunächst einmal versucht, mit einem jener Menschen zu sprechen, die mir so wütende Mails schrieben – interessanterweise viele mit Klarnamen –, aber ihrer Empörung auch in Foren Luft machten. Sie warfen uns Fake-News vor, teilten jedoch selbst Fake-News über Flüchtlinge. Es hat Monate gedauert, bis mir überhaupt jemand geantwortet hat. Frau T., die ein Nagelstudio im 21. Bezirk betreibt, hatte mir schon zweimal wieder abgesagt. Schließlich durfte ich sie doch besuchen. Und sie hat mir sogar ein Fernsehinterview gegeben. Über die Begegnung mit ihr schreibe ich auch in meinem Buch, weil sie mir exemplarisch erscheint.

Wie war das Gespräch?
Schnabl: Als ich ihr gegenübersaß, war sie erstaunlicherweise gar nicht mehr so zornig. Sie brachte durchaus auch berechtigte Kritikpunkte vor, aber in erster Linie ging es ihr um Resonanz. Das betrifft die Politik und uns Medien. Hinter all den früheren, zornigen Sätzen kam immer wieder die Aussage zutage, dass sie sich nicht wahrgenommen fühle in ihrer Lebensrealität. Und da ist tatsächlich was dran. Manchmal gehen wir Journalisten alle in eine Richtung, ein Thema beherrscht alles, und wir merken das nicht einmal. Wenn wir jetzt eine Glaubwürdigkeitskrise haben, dann hat es meiner Meinung nach neben anderen Ursachen auch damit zu tun.

Antworten Sie allen, die Ihnen schreiben?
Schnabl: Den meisten, aber nicht allen. Die Grenze liegt da, wo es gehässig und extremistisch bis hin zu rassistisch oder antisemitisch wird. Ich kann extreme Menschen nicht erreichen oder gar überzeugen. Deswegen schreibe ich diesen nicht zurück – wenn ich etwa merke, dass jemand in einer eigenen, konstruierten Welt lebt. Und natürlich hängt es von meiner Tagesverfassung ab. Man hat nicht jeden Tag die Zeit und Nerven, sich mit allen auseinanderzusetzen.

Welche Rollen spielen hier die neuen Medien?
Schnabl: Ich bekomme viele Nachrichten noch immer über Mail, aber vieles wird auch in Foren kommentiert. Da ist oft organisierte Kritik oder Hetze dabei, wie es etwa die Puls-4-Infochefin Corinna Milborn erleben musste, als sie den Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer in einem Interview hart anfasste. Nach Recherchen von mokant.at, einem Onlinemagazin für Datenjournalismus, und neuen Auswertungen sind die Lauten, Dominanten in den Debatten eigentlich in der Minderheit. Dass sie gehört werden, überrascht nicht, aber dass sie auch große Resonanz in traditionellen Medien finden, halte ich für eine Fehlentwicklung.

Was passiert derweil mit den Leisen?
Schnabl: Die hört man selten. Sogar Frau T. hat auf den Empörungsdiskurs und Kritik an ihren eigenen Postings mit Rückzug reagiert. Sie teilt auf Facebook nur noch Katzenfotos, Yin-Yang-Zeichen und Werbung für ihr Nagelstudio, aber keine politischen Kommentare oder Zeitungsartikel mehr. Aber was passiert, wenn sich immer mehr Menschen zurückziehen und sie sich nur noch in Minigruppen, in ihren geschützten Blasen und Gruppen austauschen?

Hat das auch mit einer überschießenden Political Correctness zu tun?
Schnabl: Nicht jeder hat die Zeit, sich Kritik zu stellen, und nicht jeder hat so eine dicke Haut, das auszuhalten. Und natürlich gibt es die Angst, von der falschen Seite Applaus zu erhalten. Timothy Garton Ash beschreibt das Problem sehr schön: Alles, was nicht auf meiner Seite ist, ist gegen mich. Widerspruch ist unerwünscht. Auf der rechten Seite gibt es eine Polarisierung in „wir“ und „die anderen“, kritischer Journalismus wird gleich als Fake-News diskreditiert. Und auf der anderen Seite beschneidet die Linke die Redefreiheit durch Forderung nach übertriebener politischer Korrektheit, indem alles, was nicht in ihr Weltbild passt, entweder ausgeladen oder übermalt wird – wie das Gedicht von Eugen Gomringer. Und das zum 50. Jubiläum der 68er-Revolution!

Kann man heute nicht mehr offen oder „ins Unreine“ denken?
Schnabl: Es gibt eine neue Unerbittlichkeit, die meiner Meinung nach auch etwas mit Denkbequemlichkeit zu tun hat. Ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen mit dem anderen. Ich muss nicht nachdenken und hinterfragen. Der Widerspruch wird immunisiert durch Moral. So kann kritisches Denken nicht funktionieren: Wenn ich am Anfang schon weiß, was am Ende rauskommt. Außerdem sollte man zu allem eine fixe Meinung haben, und zwar sofort.

Lassen wir uns zu wenig Zeit, uns eine Meinung zu bilden?
Schnabl: So pauschal kann ich das nicht beurteilen. Aber durch die Rasanz, in der Dinge verhandelt werden, wird der Druck immer größer, zu allem sofort eine Meinung haben zu müssen, ansonsten gilt man als meinungsschwach.

Wie würde richtiges Streiten funktionieren?
Schnabl: Ich komme aus keinem sehr politischen Haushalt. Aber in meinem Elternhaus wurde am Esstisch um Positionen gerungen. Es war meinen Eltern wichtig, Fragen auszudiskutieren, nicht nur in der Pubertät. Wenn ich gegen etwas war oder etwas unbedingt tun wollte, dann musste ich es auch begründen, mit Argumenten. Beim konstruktiven Streiten geht es ums Nachfragen und ums Zuhören. Darum, auch einmal die Perspektive zu wechseln oder gegen den Strich zu denken. Ich bin in Kärnten aufgewachsen und in meiner Schulzeit war Jörg Haider Landeshauptmann. Da war man entweder voll und ganz dafür oder ganz dagegen. Und dazwischen gab es die schweigende Mitte.

Warum braucht Demokratie eine entwickelte Streitkultur?
Schnabl: Demokratie ohne Streit gibt es nicht. Das wäre ja eine Diktatur, wenn alle derselben Meinung zu sein hätten. Deswegen verstehe ich auch gar nicht, warum Streiten im Sinne eines Ringens um Argumente so einen schlechten Ruf hat. Aber den Streit durch die Empörung zu ersetzen, das, was der Medientheoretiker Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch die „große Gereiztheit“ nennt, ist nur allzu bequem. Warum soll es auf der anderen Seite nicht Argumente geben, die genauso stichhaltig sind? Ich muss sie ja nicht übernehmen. Aber ich muss mich mit ihnen auseinandersetzen.

Gibt es spezifisch österreichische Ursachen für die unzureichende Streitkultur?
Schnabl: Die sogenannte Konsensdemokratie ließ wenig Spielraum, dazu kommt das historisch gewachsene Lagerdenken. In Deutschland etwa wird in der Regel härter diskutiert. Eine Streitkultur braucht Auseinandersetzungen auf Augenhöhe und eine Fehlerkultur. Letzteres ist hoffentlich ein Generationenproblem. Damit meine ich, dass es für frühere Autoritäten schwerer war, Fehler zuzugeben, als für zukünftige. Auf Augenhöhe bedeutet, auf jemanden zuzugehen. Deswegen habe ich Frau T. bei sich zu Hause besucht und sie gefragt, ob sie mir erklären kann, was sie meint, was sie gesagt bzw. geschrieben hat.

Kann man rational streiten?
Schnabl: Man kann nicht immer nur trocken Sachargument gegen Sachargument abwägen. Streit hat immer auch mit Emotionen zu tun. Dazu gehört auch Leidenschaft. Das merke ich zu Hause in meiner Familie am Küchentisch, und da geht es ja nur um Banales, wohin man auf Urlaub fährt. Man muss damit umgehen lernen, und das geht offenbar nur auf der Grundlage von Emotionen. Deswegen kann man Fake-News so schwer widerlegen, denn die kommen emotional und spektakulär daher. Fakten hingegen sind unspektakulär nüchtern. Solange es nicht persönlich oder untergriffig wird, kann man auch hart in der Sache bleiben. Die Lösung kann jedenfalls nicht Rückzug und Biedermeier 4.0 lauten.

Bernhard Pörksen schlägt einen „dialogischen Journalismus“ vor. Wie könnte der aussehen?
Schnabl: Wir werden umdenken müssen, wenn wir auch Menschen wie Frau T. erreichen wollen, was ja nicht nur das Anliegen, sondern auch der Auftrag des ORF ist. Bestimmte Menschen erreicht man nur auf ­Facebook, manche schauen nur fern. Aber viele wissen nicht, wie Journalismus überhaupt funktioniert, wie das auch bei Frau T. der Fall war. Deswegen hat sie uns ­Fake-News vorgeworfen. Dialogischer Journalismus bedeutet für mich, sich diesen Schwierigkeiten zu stellen. Dafür gibt es schon zahlreiche Ansätze: Die BBC hat zum Beispiel „Question Time“, wo Politiker und Medienleute Publikumsfragen beantworten, oder Town-Hall-Meetings in den Regionen, die ähnlich funktionieren. Der Spiegel veranstaltet im Mai eine sogenannte Leserkonferenz. Die Zeit Online-Kollegen starten gerade die Fortsetzung von #D17, wo es darum geht, Menschen, die politisch denken, mit Andersdenkenden zusammenzubringen. Und in der TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix steigen der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild-Zeitung, Nikolaus Blome, und der Herausgeber des linksorientierten Freitag, Jakob Augstein, in den Ring. Pro-und-Contra-Formate bieten dem Zuschauer grundsätzlich die Gelegenheit zu entscheiden, welches Argument stichhaltiger ist – und sich dann selbst eine Meinung zu bilden.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 24)

 

Rezension aus FALTER 11/2018

Unterwegs zur Empörungsdemokratie

Debattenkultur: Zwei Bücher plädieren für eine neue Streitkultur und mehr Medienkompetenz für alle

Das Wichtigste ist nicht, was passiert, sondern wie darüber geredet ist. Das Wirkmächtigste ist nicht, was wahr ist, sondern die Interpretation davon. Und die entsteht immer öfter in der Hitze eines Gefechts als in Ruhe, immer mehr auf der Grundlage von Emotionen als von Argumenten. Die Debattenkultur, Grundlage des Vertrauens in einer Demokratie, verkommt – so lautet die Diagnose zweier Bücher, die sich diesem Thema auf unterschiedliche Weise nähern. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beleuchtet in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ die Entwicklung der Öffentlichkeit zur Emotionsindustrie und macht in der vernetzten Welt einen Brandbeschleuniger aus. Die ORF-Journalistin Susanne Schnabl kommt von der anderen Seite, jener der Medien, und fordert in ihrem Buch „Wir müssen reden“ eine neue Streitkultur ein.

Erregung statt Aufklärung
Eine Gesellschaft ist immer nur so klug wie der Diskurs, den sie gerade führt. Gemessen an dieser Weisheit, mit der Susanne ­Schnabl ihre Streitschrift für das Streiten beginnt, haben wir noch Luft nach oben. Denn die gesellschaftliche Debatte, geführt über die klassischen Medien und Onlinekanäle, ist laut, eng und gehässig geworden, lautet ihre Diagnose, dominiert von einer Dauerempörung. Die einfachste Grundregel der Kommunikation wird dabei ignoriert: „Das Argument des anderen zuerst einmal anhören, bevor man mit Meinung und Urteil schon zur Stelle ist.“ An die Stelle von Argumenten ist eine ritualisierte Erregung getreten. Das Gute dabei: Es wird wieder politisiert. Leider nicht miteinander, sondern in getrennten Räumen. Die ­Debatte trägt Scheuklappen, ist gefangen in ­Milieus, die neuerdings gerne Filterblasen genannt werden, und tendiert zur Selbstgerechtigkeit. Ein amerikanischer Präsident vom Kaliber Donald Trumps trägt zur ­Kontaminierung des Klimas mit Rüpelhaftigkeit und dem Primat von Ego-Agenden bei. Die ­Frage, um die es eigentlich geht – jene, wie wir leben wollen –, gerät dabei aus dem Blickfeld.
Da Schnabl als Moderatorin des Magazins „Report“ Teil des öffentlichen Diskurses ist, nimmt sie sich zuerst einmal selbst an der Nase und sucht das Gespräch mit einer Frau, die nicht nur andere Meinungen vertritt, sondern auch einem anderen ­Milieu angehört. Im 21. Wiener Gemeindebezirk wohnt Frau T., Inhaberin eines Nagelstudios. Ihr Facebook-Profil liest sich wie das einer typischen Wutbürgerin mit Hass auf „die“ Flüchtlinge und „die da oben“. Sie hat Schnabl mit dem Kampfbegriff „Lügenpresse“ bombardiert, deren Anfragen zu einem Gespräch aber nicht wie viele andere ignoriert. Auch weil sie erstaunt war, dass ihre Nachrichten überhaupt gelesen wurden.
Jetzt, einem realen Menschen gegenübersitzend, scheint sie schon weniger zornig. Und aus dem Vorwurf, man dürfe ja nicht mehr sagen, was man denke, wird die Anklage: „Aber mir, uns hier, hört ja niemand zu!“ Trotzdem postet Frau T. auf ihrem ­Facebook-Account mittlerweile nur noch Werbung für ihr Geschäft. Und antwortet auf die Erhitzung der gesellschaftlichen Debatte mit Rückzug. „Die Annahme, die Kommunikation werde durch die sozialen Medien offener, hat sich als Illusion herausgestellt“, folgert Schnabl.

Für eine neue Streitkultur
Wie konnte es passieren, dass eine der Säulen der Gesellschaft, der unabhängige Journalismus, derart in Verruf geriet? Und eine Debattenkultur zur Skandalmaschine verkam? Schnabl sieht die Ursachen nicht nur in der Zweiten Republik, die als „Konsensdemokratie“ konzipiert war, in der wichtige Themen in Hinterzimmern verhandelt wurden und die deswegen keine Streitkultur entwickeln konnte, sondern auch in einer zunehmenden Polarisierung sowie einem neuen Tugendterror, in dem fast alle Lebenslagen mit Moral aufgeladen werden und zwischen Weiß und Schwarz, Gut und Böse kein Platz mehr ist, sowie einer neuen Überempfindlichkeit, die zu einer Infantilisierung des Diskurses führt.
Eine Gesellschaft, in der die Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen aus Angst vor der Reaktion nicht mehr miteinander reden, könne nicht die Lösung sein, meint Schnabl und plädiert für eine neue Streitkultur. Denn die „Kulturtechnik des Streitens“ könne und müsse man ebenso erlernen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Demokratie bedeutet institutionalisierter Streit. Wie kann man den Streit rehabilitieren, wie funktioniert echter Streit? Leidenschaftlich, aber höflich, fair, aber hart in der Sache, meint Schnabl. Dabei gelte es, Dampf aus dem Druckkessel des „Sofortismus“ abzulassen. Manchmal kommt die Wahrheit erst später zutage, und die drängenden Themen der Jetztzeit – Globalisierung, Klimawandel und Zuwanderung – erlauben per se keine schnellen und einfachen Antworten. Schnabl erwähnt als Vorbilder Debattierklubs im angloamerikanischen Raum oder die TV-Sendung „Augstein und Blome“ auf Phoenix, in der der konservative stellvertretende Chefredakteur der Bild Nikolaus Blome und der Herausgeber der linken Zeitung Freitag Jakob Augstein ihre argumentativen Messer wetzen. „Am Ende ist man meistens klüger, hat neue Begründungen gehört, bestenfalls eine andere, zusätzliche Perspektive und wurde dabei auch noch gut unterhalten.“ Ein Buch als Appell, flott geschrieben, manchmal flapsig, immer wieder redundant, aber ein Auftakt, den man nicht unbeantwortet verhallen lassen sollte.

Mediengeschichtliche Zäsur
Der Medientheoretiker Bernhard Pörksen kommt zu einem ähnlichen Befund: Das „große gesellschaftliche Gespräch“ drohe in sinnlosen Attacken und bösartigem Gerede zu versinken, und eine zunehmende Diskursanarchie durch den Verlust zivilisierter Filter erzeuge Angst. Die Ursache der immer schnelleren Eskalation von Konflikten und Skandalen und der daraus folgenden Beunruhigung macht Pörksen in den neuen Medien aus. Smartphone, Facebook und Twitter haben eine mediengeschichtliche Zäsur eingeläutet, meint Pörksen, die nicht nur das Kommunikationsklima der Gesellschaft elementar verändert hat, sondern auch den Charakter der Öffentlichkeit beeinflusst, denn sie schließen privates und öffentliches Bewusstsein kurz. Dadurch entsteht eine nie gekannte Dynamik und Dramatik der Enthüllungen, eine rauschhafte Nervosität, die nicht nur Unsicherheit generiert, sondern immer öfter auch in Gewalt endet, obwohl die Erregung oft auf Gerüchten oder Falschmeldungen basiert.
Pörksen exemplifiziert seine Thesen von Anfang an mit anschaulichen Beispielen. Etwa jenem der 13-jährigen Lisa, die am 12. Januar 2016 nachts nicht nach Hause kam und ihre Mutter am nächsten Tag anlog, von südländisch aussehenden Männern vergewaltigt worden zu sein. Bereits einen Tag später tauchten wütende Russen vor einem Flüchtlingsheim auf, Fenster splitterten und ein Sicherheitsmann wurde verletzt. Einer der beliebtesten russischen Fernsehsender berichtete, dass es in Deutschland eine neue Ordnung gebe, und auf einer Veranstaltung der NPD wurde die Todesstrafe für Kinderschänder gefordert. Am 26. Januar, 14 Tage später, warf der russische Außenminister Sergej Lawrow den deutschen Behörden vor, das Verbrechen aus Gründen politischer Korrektheit nicht angemessen zu verfolgen. „Die große Gereiztheit hat nun das Parkett der internationalen Diplomatie erreicht.“ In anderen Fällen, wie jenem des jungen Mannes, der im Juli 2010 in einer Mini-Gemeinde in Florida einen Pastor dabei filmte, wie er dafür eintrat, einen Koran zu verbrennen, führte eine wenig bedeutende Nachricht, die durch soziale Medien globale Verbreitung fand, auch schon zu Dutzenden Toten.

Fünf Krisendiagnosen
Die öffentliche Debatte ist in der Krise. Pörksen macht das an fünf Diagnosen fest. Erstens der Wahrheitskrise: In Zeiten von Fake News und gekonnten Bild- und Videomanipulationen können Realität und Propaganda immer schwerer auseinandergehalten werden. Denn vom Twitter-Poster über den Wikipedia-Mitarbeiter bis zu den Geheimdiensten wird die „große Schlacht um die richtige Auffassung“ oft mit ­falschen Informationen betrieben. Und die neue ­Schnelligkeit der Urteile verbessert ­zumeist nicht ihre Richtigkeit, sondern führt zu einer neuen Ungeduld, zu einer „Unaushaltbarkeit der Ungewissheit“ und „Tabuisierung der Ratlosigkeit“.
Die Diskurskrise bedeutet zweitens eine Gesellschaft auf dem Weg von der Medien- zur Empörungsdemokratie, der ungebremsten Herrschaft der „fünften Gewalt der vernetzten Vielen“: der Verschwörungstheoretiker, rechtsradikalen Agitatoren, aber auch der Hypermoralisierten, die Protestgemeinschaften bilden. Sie verändern als „Publikative eigenen Rechts“ die neben Exekutive, Judikative und Legislative vierte Gewalt des traditionellen Journalismus, können aber selbst kaum zur Rechenschaft gezogen werden. In der Autoritätskrise werden drittens Vorbilder und Mächtige via Skandalen abmontiert und reagieren darauf zumeist mit ängstlicher Anpassung oder – wie im Falle von Donald Trump – mit höhnischer Ignoranz. In der Behaglichkeitskrise geht viertens die Sehnsucht nach Ruhe verloren: Noch nie waren die Schrecken der Welt so unmittelbar und pausenlos sichtbar. Ihre Dauerpräsenz via Fernseher und Smartphone erzeugt Empörung und das Gefühl von Ohnmacht. Vor ihnen gibt es keine Flucht mehr. Und der Begriff der Reputationskrise beleuchtet zuletzt die Tatsache, dass Ansehen im digitalen Zeitalter per se zum gefährdeten Gut geworden ist, unabhängig von Macht und Prominenz.

Die redaktionelle Gesellschaft
Das Problem besteht darin, dass die ­neuen Herausforderungen zugleich technischer und sozialer Natur sind, bestehend aus Geräten – Smartphones mit ­Videofunktion –, dem Aufstieg von Plattform-Monopolisten und einem Vertrauensverlust in Journalisten. „Wir leben in einer Phase der ­mentalen Pubertät im Umgang mit neuen Möglichkeiten, erschüttert von Wachstumsschmerzen der Medienrevolution“, ­konstatiert Pörksen. Da sich diese Entwicklungen schwerlich rückgängig machen ließen, bleibe uns nichts anderes übrig, als mit den neuen Gegebenheiten besser umgehen zu lernen.
Sein Konzept dafür, das er mit diesem Buch vorlegt, sieht für die klassischen Medien einen stärker dialogisch ausgerichteten Journalismus vor, der vom Prediger und Pädagogen zum Zuhörer, Moderator und Diskurspartner wird – einen Weg, den Susanne Schnabl bereits zu gehen versucht. Sowie das Beharren auf der Relevanz von Informationen entgegen dem neuen Primat der Interessantheit von Plattformen wie ­Buzzfeed.com oder heftig.de.
Aber heute ist via Smartphone, Facebook und Twitter jeder Journalist – und trägt deswegen Mitverantwortung für die Qualität der öffentlichen Debatte. Daraus folgt, dass jeder Einzelne das Rüstzeug zu verantwortungsvollen und reflektierten Publikationsentscheidungen braucht. Diesem „Ideal der Medienmündigkeit“, einer „Utopie der redaktionellen Gesellschaft“, komme man nur durch ein konsequentes Bildungsangebot näher, insistiert Pörksen, dadurch, dass journalistische Fähigkeiten „zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos“ werden.
Mediengeschichte und -praxis, Machtanalyse und angewandte Irrtumswissenschaften, die ein „Wertegerüst des öffentlichen Sprechens“ bilden, bestehend aus den Prinzipien Wahrheitsorientierung, Skepsis, Proportionalität, Ethik und Transparenz, gehören für Pörksen dazu, am besten unterrichtet in einem eigenen Schulfach. Das klingt plausibel. Und Pörksen wäre mit seiner Fähigkeit zur anschaulichen Darstellung und Synthese bestens geeignet, dafür das Unterrichtsmaterial vorzulegen. Damit bekäme ein Journalismus neuer Prägung die Chance, zu einer allgemeinen Kulturtechnik oder gar zu einem Bewusstseinszustand zu werden.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 30)

Politik der Emotion 

von Olga Flor
Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 21, 2018 9:01:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Ein engagiertes Plädoyer für eine Politik, die Fakten diskutiert und nicht Stimmungen instrumentalisiert
Aus der Reihe „Unruhe bewahren“ in Kooperation mit der Akademie Graz, dem Literaturhaus Graz und DIE PRESSE.
Mit intellektueller Präzision und Radikalität bezieht Olga Flor Position gegen jene populistische Stimmungsmache, die sich derzeit so gerne als Vertretung der gefühlten Mehrheitsmeinung eines schwammig definierten Volkskörpers ausgibt. Diese „Politik der Emotion“ benutzt berechtigte Ängste, anstatt ihre realen Ursachen zu analysieren. Die zunehmende Unüberschaubarkeit der Ökonomie und die wachsende Informationsdichte dienen ihr als Nährboden, vereinfachte Schuldzuweisungen und „Bauchgefühle“ sind ihr ideologisches Kapital. Dagegen setzt Olga Flor die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses, der Widerspruch zulässt und vor der Komplexität der Fakten nicht zurückschreckt, der Aufklärung will und nicht Vernebelung von Tatsachen.

Preis:
€ 18,00
Verlag: Residenz
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 88 Seiten
Erscheinungsdatum: 23.01.2018

 

Rezension aus FALTER 12/2018

„Der ,freie‘ Markt erledigt das nicht!“

Die Schriftstellerin Olga Flor findet, dass der Neoliberalismus genug zerstört hat. Weniger privat, mehr Staat!

Der Falter vom 22. Februar 2017 wird als Symptomquelle herangezogen. Olga Flor scannt die „Kleinanzeigen eines österreichischen Wochenblatts, das sich durchaus schmückt mit den Insignien der Urbanität, Aufklärung, Recherchequalität, Ironie“ und findet dort AstroCoaching, Selbstliebe-Training, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Holomantische Energie- und Gedankenarbeit oder Intime Körperarbeit für Genießerinnen und Menschen auf dem Weg dorthin – „also Menschen auf dem Weg zu den Genießerinnen, wie man annehmen darf?“
Gegen dergleichen esoterische Rückzugsbestrebungen und den „Wunsch nach Wohlgefühl, Wärme, Weichheit“ wäre, so die Schriftstellerin, „ja auch nichts weiter einzuwenden, solange die Beschäftigung mit dem eigenen, naturgemäß etwas begrenzten Selbst nicht alle Ressourcen frisst, solange sie die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ergänzt und nicht an deren Stelle tritt“.
Flor hat das nun in einem in der sehr ansprechend gestalteten Reihe „Unruhe Bewahren“ bei Residenz erschienenen Essay (zunächst in der unter dem nämlichen Titel laufenden Vorlesungsreihe an der Akademie Graz) formuliert. Es ist ein knapp gehaltener, kurzweiliger und auf zahlreiche interessante Details zoomender Panoramaschwenk über die Verwerfungen in der politischen Landschaft der Gegenwart: Trumps „Twittergewitter“ werden ebenso bedacht wie die Politik mit Angst und Neid oder die Krise der Rationalität, sprich: des argumentbasierten Diskurses im Zeitalter der permanenten Gekränktheitsbereitschaft.
„Freiheiten können auch unter formal demokratischen Bedingungen (…) sehr schnell verschwinden, wenn der Glaube an ihren Wert in größeren Teilen der Bevölkerung erst dahin ist“, schreibt Flor zu Beginn des Kapitels „Market Demands“, das sich mit der „Marktnachfrage“ als Letztbegründung für alles und jedes beschäftigt. Als Beispiel führt sie die Türkei nach dem Putschversuch im Jahr 2016 an. Angesichts der politischen Vorgänge in Österreich, zuletzt der Hausdurchsuchung im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), kann man das Augenmerk aber ruhig aufs eigene Land richten.
Im Abspann dankt Olga Flor Josef Haslinger für die Erlaubnis, den Titel verwenden zu dürfen. Sie hätte nicht nachfragen müssen, aber Haslingers Österreich-Essay „Politik der Gefühle“, der seinerzeit in Reaktion auf die Wahl von Kurt „Ich habe nur meine Pflicht getan“ Waldheim zum Bundespräsidenten erschien, ist natürlich nicht weit entfernt. Haslinger bemerkt darin unter anderem, dass „die klassische Agitation“, mit der die Politik die Emotionen ihrer Adressatinnen und Adressaten für deklarierte Ziele und Zwecke mobilisiert, in Misskredit geraten sei. Die von ihm beschriebene „Politik der Gefühle“ hingegen funktioniere genau andersrum: „Es ist die Strategie einer prinzipiellen Standpunktlosigkeit. Der Werber bewegt sich selbst, umschmeichelt den Umworbenen, hält ihn in gegebenen Gefühlswelten fest und bestätigt diese. Deren Abkunft interessiert ihn nicht, nur deren Ausdruck.“
1987, als der Essay erschien, war Sebastian Kurz ein Jahr alt. Er scheint die „Politik der Gefühle“ mit der Muttermilch aufgesogen zu haben.

Falter: Können wir vielleicht gleich zu Beginn ein Missverständnis ausräumen?
Olga Flor: Wenn es geht. Welches?

Dass Emotionen böse sind und in der Politik nichts verloren haben.
Flor: Natürlich muss man Emotionen sehr ernst nehmen, es ist aber auch Aufgabe der Politik, sich mit den Lebensumständen und Tatsachen zu befassen, die ihnen zugrunde liegen.

Apropos Tatsachen: Sie schreiben einmal vom „nostalgischen Begriff der Faktizität“.
Flor: Genau, in einem Stoßseufzer: „Ach, was waren das noch für faktische Zeiten damals!“

Wobei in der „postfaktischen“ Epoche … 
Flor: … die Emotionen als solche schon Argument genug sind. Das „Wir fühlen uns gekränkt“ oder „Wir sind wütend“ gilt schon als Begründung und Rechtfertigung. Hier wird ein Wir-Gefühl als Abgrenzung von „den anderen“ erzeugt. Und das Andere schlechthin sind derzeit die Asylsuchenden. Wenn es die nicht gäbe, würde sich aber schon wer anderer finden.

Basiert letztendlich nicht jedes „Wir“ auf einer Abgrenzung?!
Flor: Tut es das? Ich denke, jeder Wir-Begriff ist fluide und kann entsprechend offen sein. Nur aus aktuellem Anlass: Ich kann – gemeinsam mit Gleichgesinnten, die sich dann als ein „Wir“ definieren – für oder gegen das Rauchverbot sein, ohne „die anderen“ aggressiv als „böse“ zu markieren. Die haben eben andere Interessen. Problematisch wird es, wenn man auf einer diffusen Wir-Identität eine Politik gründet.

Aber gibt’s dazu überhaupt eine Alternative? Die Krise etwa der europäischen Sozialdemokratie hat doch damit zu tun, dass sie ein glaubhaftes „Wir“ nicht anzubieten hat?
Flor: Das Problem besteht hier aber weniger in einem mangelnden Wir-Begriff, sondern darin, dass sich die Sozialdemokratie schon mit Tony Blair ganz dem neoliberalen Konzept verschrieben hat.

Ob die Besinnung auf „alte Werte“ und traditionelle Wählerschichten reicht, ist allerdings sehr die Frage.
Flor: Die Sozialdemokratie hat den Fundamentalfehler gemacht, zu übersehen, dass sich die Arbeitswelt ändert. Ich zum Beispiel war am Anfang meiner Berufskarriere in den 90er-Jahren eine klassische neue Selbstständige, nicht sozial- und mit Ach und Krach krankenversichert, von Mutterschutz keine Rede. Leute wie ich sind von den Gewerkschaften behandelt worden, als wären sie der Inbegriff des Klassenfeinds, und die Sozialdemokratie hat so getan, als wäre der vollzeitbeschäftigte Metallarbeiter noch immer ihr Hauptadressat. Damit hat sie aber nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen den Zug der Zeit verpasst: Unlängst stand in der Süddeutschen Zeitung, dass Beschäftigte in der Pflegebranche nach dreijähriger Ausbildung in Deutschland 2600 Euro verdienen, wohingegen das Einkommen eines Arbeiters oder einer Arbeiterin in der Metallindustrie deutlich mehr als das Doppelte beträgt. Man hing da viel zu lange einem nostalgischen Bild an. Das ist sicher keine unterprivilegierte Gruppe mehr, was auch damit zusammenhängt, dass die Angestellten der Metallbranche gewerkschaftlich organisiert sind.

Wogegen sich ja nichts sagen lässt.
Flor: Natürlich nicht, im Gegenteil. Die Gewerkschaften hatte Margaret Thatcher nicht grundlos als Feindbild identifiziert, das es zu zerschlagen galt. Und deswegen ist es ja auch ein Hauptanliegen des Neoliberalismus, so etwas wie gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern und die Idee in die Köpfe zu pflanzen, dass jeder und jede ganz alleine für sich und das eigene Scheitern verantwortlich sei.

Ist die Wut des vielzitierten Arbeiters aus dem „Rust Belt“ nicht auch verständlich oder zumindest nachvollziehbar?
Flor: Da geht es, wie der Wahlkampf von Trump auch gezeigt hat, doch auch darum, dass die privilegierte Stellung des weißen, heterosexuellen Mannes nicht mehr so selbsterklärend selbstverständlich ist wie in den 50er- und 60er-Jahren.

Apropos Trump: Ist es nicht die entscheidende Frage, warum Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen?
Flor: Sie können mich jetzt eine Bildungsnostalgikerin schimpfen, aber ich bin schon der Auffassung, dass es unterlassen wurde, Menschen in ausreichendem Maß in die Lage zu versetzen, die politischen Gegebenheiten zu analysieren. In der Hinsicht scheint mir auch die Aufrechterhaltung des sogenannten „differenzierten“ Schulsystems in Österreich mit einer frühzeitigen Trennung der Kinder als absolut kontraproduktiv. Ich glaube allerdings, dass diese Sortierung nach sozialer Herkunft durchaus gewollt ist. Man sollte die Bildung aber nicht dem Privatfernsehen überlassen. Ich hatte in letzter Zeit während mehrerer Krankenhausaufenthalte die Gelegenheit, das diesbezügliche Angebot genauer zu studieren. In den permanent laufenden Verkaufs-, Hochzeits-, Dating- und Beautyshows wird vor allem Frauen das Gefühl vermittelt, nicht zu genügen, und als „Trost“ wird die Einsicht angeboten, dass es anderen noch schlechter geht. Da geht es um eine vermeintliche Aufwertung des eigenen Ichs auf Kosten anderer, wie man sie überall beobachten kann. Den ohnehin schon Benachteiligten wird dann das Zuckerbrot der Herabwürdigung anderer angeboten. Statt Verteilungsgerechtigkeit gibt es eine „Nivellierungsgerechtigkeit nach unten“.

Auch das fügt sich in das Muster der „Privatisierung“ dessen, was früher einmal mehr oder weniger selbstverständlich öffentliche Angelegenheit und Sache des Staates war.
Flor: Ja, wobei hier in Österreich geradezu nach Lehrbuch vorgegangen wird: Zuerst die Desavouierung der freien Presse, dann ein „Sicherheitspaket“, dann der Versuch, den Verfassungsgerichtshof umzufärben. Dass ein Staat mit Steuergeldern ein Bildungs- oder Gesundheitssystem für alle zu gewährleisten hat, ist eine Idee, die immer stärker in Misskredit gerät. Es sei denn, es geht um die Erhaltung der Straßen – die wurde noch von keinem Rechtspopulisten infrage gestellt.

Wäre es nicht notwendig, Standards des Wohlstands zu definieren? Dinge, die wirklich jedem zustehen. Es ist doch absurd, dass in einer Gesellschaft, die moderne Computertechnologie als selbstverständlich betrachtet, Empörung darüber herrscht, dass Geflüchtete über Smartphones verfügen?
Flor: Ja. Das ist wieder genau dieses auf Neid und Ausgrenzung basierende Wir-Gefühl, das ich kritisiere. Deswegen bin ich auch der Auffassung, dass es Aufgabe der Politik ist, Plattformen einzurichten und anzubieten, wo sich Menschen real begegnen und miteinander diskutieren. Das wäre auch ein probates Mittel, um der von den sozialen Medien beförderten „Blasenbildung“ entgegenzuwirken, die dafür sorgt, dass man nur noch Menschen begegnet, die die eigene Meinung teilen. Wenn sich die Stadt Graz für die Olympischen Winterspiele bewerben möchte – was ich für eine Schnapsidee halte, weil sich damit noch jede Stadt ruiniert hat –, wäre es doch sinnvoll und nötig, das vor der Bewerbung mit und in der Bevölkerung breit zu diskutieren.

Was also sollte die Politik Ihrer Meinung nach tun?
Flor: Man muss in der Tat versuchen, mithilfe der guten alten Umverteilung, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen – und das auch vermitteln. Und man muss versuchen, das Konzept der Exklusion durch Angebote der Teilhabe zu ersetzen. Der „freie“ Markt erledigt das nicht. Die Pflege von alten oder kranken Menschen etwa ist auf Basis eines durchschnittlichen Einkommens auf legalem Wege einfach nicht zu gewährleisten. Also kann man sich nicht mit der typischen hingeschummelten österreichischen Lösung begnügen, sondern muss das Problem einmal ganz klar benennen und eine realistische staatlich finanzierte Lösung finden. Es kann ja nicht sein, dass man für die Heimpflege mehr zuschießt als für eine, die zu Hause stattfindet. Es darf auch nicht sein, dass die pflegenden Angehörigen unter der Last zusammenbrechen.

Die türkis-blaue Regierung hat demnächst die ersten hundert Tage hinter sich, wie fällt Ihre Einschätzung aus?
Flor: Sebastian Kurz wird die ständigen Ausflüge einiger FPÖ-Politiker in Richtung des ultrarechten Spektrums nicht ewig beschweigen können, ohne sich lächerlich zu machen. Als Bundeskanzler trägt er die Verantwortung dafür, dass solche Personen Schlüsselstellen in Politik und Verwaltung übernommen haben. Ist die martialisch inszenierte Hausdurchsuchung und Beschlagnahmung von behördliche Unterlagen im BVT als Einschüchterung gedacht oder sind das schon die heftigen Vorwehen von etwas, worüber man sich „noch wundern“ wird? Oder vielleicht wundert man sich gar nicht, vielleicht ist es genau das, was zu erwarten war.

Klaus Nüchtern in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 34)

Wurzeln 

Die trügerischen Mythen der Identität
Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:12:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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von Maurizio Bettini

Ein heilsames Vademecum gegen die Leitkultur- Debatte, eine kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Missbrauch von Tradition und Geschichte.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von unseren »Wurzeln« sprechen? In unsicheren Zeiten beschwören wir (statt der Zukunft) gern Geschichte und Tradition, unser kulturelles Erbe, die gemeinsame Identität. Doch Bilder und Metaphern sind keineswegs unschuldig. Mit dem der »Wurzeln« – so Bettini – drücken wir aus, dass unsere Welt so bleiben soll, wie sie ist. Wir wehren uns gegen Wandel und grenzen uns von anderen ab, deren eigenen kulturellen Wurzeln wir keineswegs dieselbe Wertschätzung entgegenbringen.
Die Metapher suggeriert etwas Naturgegebenes, im wahrsten Sinne »Fundamentales«, eine quasi automatische Zugehörigkeit. Dabei wissen wir eigentlich, dass auch unsere Kultur wie alle anderen durch Aneignung, Wandel und Vermischung mit fremden Einflüssen entstanden ist; dass die vielzitierte kollektive Erinnerung oft nicht mehr ist als persönliche Nostalgie.
Mit funkelnder Ironie umkreist Bettini die vielen Spielarten unserer neuen identitären Obsession: von wiederentdeckten, wenn nicht gar erfundenen Traditionen bis zur Inflation von Gedenktagen, vom Kult der Authentizität und Ursprünglichkeit bis zur Idealisierung von Großmutters Küche. Maurizio Bettini, geb. 1947, lehrt als Professor für klassische Philologie an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Mythologie und Anthropologie und schreibt regelmäßig für »La Repubblica«.
Wurzeln
 
Preis: € 16,50
Übersetzung: Rita Seuß
Verlag: Kunstmann, A
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.02.2018


Rezension aus FALTER 11/2018

Verabsolutierung des Eigenen und Provinzialismus

Wurzeln: Maurizio Bettini legt ein Plädoyer gegen identitäre Bewegungen und für die freie Gesellschaft vor

Die Figur auf dem Buchumschlag macht schon klar: Wurzeln sind dem Autor nicht geheuer. Sie wachsen dem Menschen auf dem Cover aus den Füßen beziehungsweise ist er durch sie mit dem Boden verwurzelt und muss wie ein Baum an Ort und Stelle stehen. Wurzeln beengen – lautet die These von Maurizio Bettini. Sie schmälern unseren Blick auf die Gegenwart, auf die kulturelle Vielfalt, auf unsere Freiheit, Ungebundenheit und unsere Möglichkeiten. Er sieht die pluralistische Gesellschaft in Gefahr, wenn neue Bewegungen Begriffe wie „Identität“ oder „Wurzeln“ von Rechtsaußen okkupieren und über Nationalstaatliches stülpen.
In Deutschland wurde der Begriff „Heimatministerium“ salonfähig, und die FPÖ forderte ein „Heimatschutzministerium“. US-Präsident Trump rief protektionistisch „America first!“ und es ging um die christlichen Wurzeln, die wieder heraufbeschworen wurden. Italien, Polen und Irland wollten sie in der Präambel einer europäischen Verfassung verankern, die allerdings nicht zustande kam. Gleichzeitig leben wir in einer mobilen globalen Gesellschaft. Nie zuvor gab es so viel Anknüpfung und Bezugspunkte zu anderen Kulturen. Ganz ohne Verlust der persönlichen Identität bereichern uns diese Erfahrungen und schärfen den Blick sowohl auf Gewohntes als auch auf Neuartiges.

Dass Identität schwer zu definieren ist, verleiht der Metapher der Wurzel ihre Popularität, mag sie auch noch so abgedroschen sein. Wurzeln sind ein sprachliches Bild, das eine Tradition und die daraus abgeleitete Identität als biologisches Schicksal oder unvermeidliches Erbe beschreibt. Aber Tradition ist keine genetische Anlage, die sich mechanisch von einer Generation zur nächsten überträgt, meint Bettini, sondern wird Schritt für Schritt aufgebaut.
Geht es nach ihm, so sind Muster rekonstruiert und erlernt: mit der Schrift verbreitet, mit Sprache und Tracht zur Schau gestellt und besonders im Bereich der Kulinarik verklärt.
Dabei ist der Apfel quasi ein Integrationswunder aus Kasachstan, und die Marille kam aus Armenien zu uns. Der gebürtige Toskaner bringt aber natürlich das Beispiel Polenta. Er schont sich selbst nicht und relativiert an seinem eigenen Beispiel den nostalgischen Schleier, der ihm den Blick zurück trübt, wenn er sich an seine Jugend in Livorno erinnert.
Im italienischen Original, unter dem Titel „Radici. Tradizioni, identità, memoria“, ist sein Büchlein 2016 übrigens als eine Weiterentwicklung des Essays „Contro le radici“ (Gegen die Wurzeln, 2012) erschienen. Der kleine, feine Kunstmann-Verlag war auf der Suche nach interessanten Stoffen zum Thema Identität. Er hatte dazu zuletzt 2013 den Titel „Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“ des Belgiers Paul Verhaeghe im Programm. Bettinis Buch kam da gerade recht.

Der Professor für klassische Philologie lehrt an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Dementsprechend liefert er zuerst eine Begriffsklärung und warnt dann mit historischem Unterfutter vor dem Phänomen der sozialen Ausgrenzung. Den 19 knappen Kapiteln schließt sich ein übersichtliches, umfangreiches Quellenverzeichnis an.
Künstliche ethnische Zuschreibung und erfundene Tradition polarisieren und spalten die Gesellschaft. Das zeigt er nicht nur anhand von Beispielen aus der Antike. Besonders erhellend und erschreckend ist die Schilderung der Hintergründe des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi. Die imperialistischen Europäer projizierten Wurzeln und Unterschiede, wo vorher keine waren, und spalteten Ruandas Bevölkerung in zwei Gruppen – eine tragische und paradoxe Situation, die in Krieg mündete.
Bettini beruft sich auf den Schriftsteller Fernando Pessoa, wenn er Folgendes verdeutlicht: Wenn man das Eigene verabsolutiert, führt das immer zu Provinzialismus. Einerseits sind wir so geschichtsvergessen, dass wir, wie der Zeit-Kolumnist Harald Martenstein sagt, die Vergangenheit mit ihren Fehlbildungen ausradieren möchten. Andererseits verklären wir Vergangenes und gehen davon aus, dass wir ausgerechnet heute wissen, was die einzige Wahrheit ist.

Doch Kultur ist kein monolithischer Block. Sie verändert sich. Es geht nicht darum, etwas zu verleugnen, sondern mit ungetrübtem Blick zu sehen und für sich selbst zu definieren, wer man ist und welche Werte für einen gelten. Wer das plumpe Argument der Wurzeln vorschiebt, läuft Gefahr, sich mit reaktionärer Sicht zu erinnern, Vergangenes aufzuwärmen und zu überhöhen, was längst nicht mehr zeitgemäß ist, aber auch früher nicht die heute fantasierte Kraft besaß. Selbst Griechenland sei als einzige Wiege der Demokratie erst im Nachhinein in einer Art Heilsgeschichte (v)erklärt worden.
Als Basis für eine Leitkulturdebatte, die nicht an der Oberfläche bleibt, bietet sich Bettinis kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung im Schlepptau von reaktionärer Idealisierung an. Er zerlegt abgedroschene Metaphern unter Berücksichtigung der Erkenntnisse von Etymologie, Biologie, Kulturgeschichte und Rhetorik. Und er betont, dass die gerne bemühte „Tabula rasa“ auch keine Option darstellt. Als Wappnung gegen populistische Vereinnahmung propagiert er das Grundgerüst der Werte der Aufklärung.
Eine zukunftsfähige Tradition beinhaltet für den Autor Menschlichkeit, Toleranz und Offenheit. Diese europäischen Werte kann man besser verteidigen, wenn der Blick nicht engstirnig und der Standpunkt nicht festgenagelt ist. Statt den Wurzeln schlägt er die Metapher des fließenden Stroms mit vielen Einflüssen aus Nebenflüssen vor, die die Identität im wahrsten Sinne „beeinflussen“.

Juliane Fischer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 35

Liebe in Zeiten des Kapitalismus 

Unsere Gesellschaft in zehn Thesen
Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 28, 2018 12:56:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Wie funktioniert die Liebe in Zeiten des Kapitalismus? Warum sehnen wir uns nach Sicherheit? Was wird uns die Zukunft bringen? An welchen Gott wollen wir noch glauben? Warum finden wir Geiz geil? Was bedeutet uns Freiheit? Welche Konsequenzen hat Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung?
Robert Misik, der renommierte Sachbuchautor, macht sich Gedanken zu unserer Gegenwart. Anhand zehn exemplarischer Begriffe, die Zeitgeist und Verfasstheit unserer Gesellschaft treffend skizzieren, geht er der Frage nach, welchen Paradigmen wir unsere Leben unterwerfen. Robert Misik, arbeitet regelmäßig für die in Deutschland erscheinende taz sowie für die in Österreich erscheinenden Zeitschriften profil und Falter, des Weiteren betreibt er auf der Homepage der Tageszeitung Der Standard einen Videoblog. Er ist Sachbuchautor, etwa des Theoriebestsellers Genial dagegen, publizierte bisher bei Aufbau und Picus. Jüngste Publikation: Was Linke denken, 2015.

Preis: € 19,90
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

Rezension aus FALTER 9/2018

Misiks Stichworte zur geistigen Situation der Zeit

Publizist Robert Misik hat ein unterhaltsames wie kluges Handbuch für kritische Zeitgenossen geschrieben

Denken ist das größte Abenteuer. Es gibt kein entschiedenes Handeln, das mit zahmem Denken einhergeht: Stay Strong, Stay Brave, Stay Rebel!“, schreibt Robert Misik im Vorwort seines neuen Buches „Liebe in Zeiten des Kapitalismus“.
Es wäre zu gefällig zu schreiben, dass das Denken eine Renaissance erlebt. Gedacht wurde immer, neu (oder besser gegenwärtig) ist, dass sich wieder mehr Menschen für Theorien und Erklärungsmuster und damit auch für Handlungsanweisungen interessieren.
In Zeiten der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, nach bald zehn Jahren der Wirtschafts- und Politikkrise, die Trumpismus, Orbánismus und Kurzismus an die Macht gebracht hat, im Angesicht neuer Religionen wie Apple und neuer sozialer Gesellschaftsformen wie Facebook, sucht man nach Antworten. Was ist los mit uns? Was sind unsere Werte? Ist das noch meine Welt? Und wenn nein, wo ist hier der Ausgang?

Misiks Antworten und Wegweiser sind zeitgemäß mit Hashtags versehen und in 33 kurze Kapitel verpackt. Jürgen Habermas’ „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“, erschienen 1979, waren ihm dabei Vorbild. Der Vielschreiber griff dabei auch auf Vorlesungen, Vorträge und Essays zurück, die er in den letzten 17 Jahren für die taz, den Falter, das Profil und den Standard geschrieben hat. Das macht das Buch – im Unterschied zu vielen klugen, aber langweiligen wissenschaftlichen Publikationen – erfreulich gut lesbar und zugänglich.
Wer gerade frisch verliebt ist, blättert beispielsweise zum Kapitel #Liebe, das Misik klugerweise mit den Schlagworten #Kapitalismus und #Tinderisierung zusammenfasst und in dem er uns eine Tour d’Horizon über den Einbruch der Konsumkultur und der Selbstoptimierung in unser Beziehungsleben gibt. Es geht um „sexuelle Performance“, also Sex als Leistung, um unsere Vorstellungen von romantischer Liebe, die im Grunde ein Klischee westlichen Upperclass-Kapitalismus sind – Kerzenlichtdinner, Schampus und Erdbeeren, ein Trip nach Venedig.
Sein ganzes Können als philosophischer Feuilletonist und feuilletonistischer Philosoph spielt Misik bei Begriffen wie #Spiessigkeit oder #Ironie aus, die er mit Witz, Leichtigkeit und sehr viel Selbstironie seziert. Wir erfahren nicht nur Autobiografisch-Anekdotisches, etwa wie Misik – bekanntermaßen selbst dem Gestus des Intellektuellen gehorchend mit wildem Haar, Lederjacke und im Sommer auch schon einmal bloß im Ruderleiberl – einmal verzweifelt die Polizei rief, weil das Männermodel unter ihm unentwegt Party feierte und er nicht mehr schlafen konnte. Zudem liefert uns Misik natürlich auch klassische Zugänge der kritischen Soziologie. Weil Waren heute „Kultur-Waren“ sind, imitieren Firmen den „Gestus der Avantgarde – immer neu, immer hip, immer am Puls der Zeit. So wurde auch die Schrägheit, wie die Spießigkeit, zu einem Lifestyle unter vielen“, schreibt Misik.

Kritisch geht Misik auch mit der #Ironie ins Gericht, die ihre „große Zeit hinter sich“ habe, wenn sie „sich selbst zur stets gegenwärtigen Dauerironie verallgemeinert“. Zwar sei „die totale Ironieunfähigkeit“ immer noch „unerträglicher als die Totalironie“, aber trotzdem habe die Ironie uns in eine Sackgasse manövriert.
In der Süddeutschen Zeitung würdigte Heribert Prantl die Geschwister Scholl, die vor 75 Jahren von einem Unrechtsrichter zum Tode verurteilt wurden, als Heldinnen des Widerstands gegen Adolf Hitler. Das Deutsche Grundgesetz kennt Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und – anders als das österreichische – auch Artikel 20 Absatz 4. Gegen jeden, der es unternimmt, die Grundrechte zu beseitigen, haben „alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Deutsche Juristen nennen das „kleiner Widerstand“. Widerspruch, Zivilcourage, Whistleblowerei, Gutmenschentum.
Misik hat ein kleines, feines Handbuch für jene geschrieben, die an den kleinen Widerstand glauben.

Barbaba Tóth in FALTER 9/2018 vom 02.03.2018 (S. 20)

Puszta-Populismus 

Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?
Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 7, 2018 12:51:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Sonstiges
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Als Viktor Orbán 2010 die Wahl in Ungarn gewann, sprach er von einer „Revolution an der Wahlurne“. Seitdem hat der Rechtspopulist die Institutionen in Ungarn auf seine Machtbedürfnisse maßgeschneidert und will nun auch die EU umkrempeln.
In der Wählergunst ist der Ungar nach wie vor unumstritten – trotz Korruptionsskandalen rund um die Regierungspartei Fidesz. Was macht Orbán so erfolgreich ? Seine populistische Rhetorik ist ein Schlüssel seines Erfolges, meint Autor Stephan Ozsváth.
Er zeigt auf, wie meisterhaft der ungarische Ministerpräsident mit Ängsten spielt und daraus politisches Kapital schlägt. Er bedient sich dabei nationaler Mythen und Rollenbilder. Orbán setzt auf Symbole wie den Mythenvogel Turul, er okkupiert den Aufstand von 1956 und inszeniert sich als Anführer einer Nation von Freiheitskämpfern, die sich gegen ausländische Mächte zur Wehr setzt: Der David-Goliath-Mythos im magyarischen Gewand. In seinem Rhetorik-Baukasten hat Orbán Globalisierungskritik, Anti-Establishment-Parolen und sogar antisemitische Verschwörungstheorien.
Während der Flüchtlingskrise stellte sich Orbán als Verteidiger des Christentums dar - und Ungarn als Bollwerk gegen den Ansturm der Muselmanen. Eine Rhetorik, die sein Publikum in das Jahr 1526 versetzt, als die Türken die Ungarn bei Mohács überrannten. Diese populistischen Assoziationsfelder machen Angst und sie kommen an. Nicht nur in Ungarn, sondern zunehmend auch im Rest Europas. Fast unwidersprochen kann sich Viktor Orbán als Verteidiger Mitteleuropas gegen eine „Völkerwanderung“ inszenieren – ein Anti-Merkel.
Aus dem liberalen Revoluzzer von einst ist ein Politiker geworden, der einen illiberalen Staat errichtet. Im Herzen der EU ist er der Spaltpilz, der die Union von innen angreift. Kämpfernatur Orbán wettert heute gegen die Macht der „Brüsseler Bürokraten". Er sieht sich als Vorkämpfer einer anti-liberalen Gegenbewegung, die mehr Nation und weniger Europa will.
Als Populist braucht Orbán Sündenböcke. Er trat eine perfide Kampagne los, die Flüchtlinge pauschal mit Terroristen gleich setzte, er hält die ungarische Gesellschaft in einem ständigen Erregungszustand, einem künstlichen Krieg mit Worten und Symbolen: Ein Heerführer ohne Soldaten. Seine Waffe sind Trugbilder, Halbwahrheiten, Lügen.
All das dient letztlich nur einem Ziel: Dem eigenen Machterhalt. Der Kollateralschaden ist enorm. Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten, Hass statt Zusammenhalt ist die Devise, Hunderttausende kehren ihrer Heimat den Rücken. Doch Orbán wird zum Vorbild für Europas Populisten, sein illiberaler Staat ist die Blaupause.

Vorwort: Paul Lendvai
Preis: € 16,50
Verlag: danube books Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Sonstiges
Umfang: 200 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.10.2017

Rezension aus FALTER 6/2018

Der kann ja gar kein Ungarisch!

Der Journalist Stephan Ozsváth erklärt, warum Viktor Orbán ausgerechnet in Ungarn reüssiert

Der kann ja gar kein Ungarisch“: Wenn die Ausländer Ungarn nach allem Erklären immer noch nicht verstanden haben, handelt es sich um einen Fall von mangelnder Bereitschaft, sich auf die komplizierte Psyche dieser verkannten Nation einzulassen. Manchmal funktioniert das Argument­ nicht, wie im Falle des früheren Wiener ARD-Korrespondenten Stephan Ozs­váth, Sohn eines ungarischen Vaters. Er kann Ungarisch. Gegen ihn hilft nur der unverblümt ideologische Angriff auf den „Verräter“. Ausländische­ Kritik „an Ungarn“ beruht entweder­ auf schierer Unkenntnis, oder sie kommt in Wirklichkeit von innen, so die Propaganda: Die illoyale Opposition bedient sich ihrer Kontakte zum Ausland.
Ozsváth, der selbst schon Opfer eines nationalen Shitstorms war, beschreibt nachvollziehbar, wie das funktioniert. Der „Werkzeugkasten des Populisten“, so Ozsváths erstes Kapitel, umfasst eher grobe Instrumente: viel Angst, eine Portion Starker-Mann-Getue, Pomp, etwas Ideologie, aber von Letzterem nicht zu viel.

Die Macht Viktor Orbáns, der Ungarn seit siebeneinhalb Jahren ungefährdet regiert, beruht wesentlich auf dessen Bereitschaft, die Minderwertigkeitskomplexe, die Mythisierung der Geschichte, ein diffuses Bedrohungsgefühl, gerechtfertigte Abstiegs- und irrationale Entgrenzungsängste sowie Fremdelei gegenüber der großen, weiten Welt zusammenzusetzen.
Mit der so gewonnenen Popularität zieht man auch die Elite der Nation in seinen Bann, die vielleicht nicht so leicht zu elektrisieren ist, die sich aber von Orbáns Macht gern ein Stück ausleiht. Wer nicht mitmachen will, kann ja gehen. Viktor Orbán, der „Puszta-Populist“, wie Ozsváth seinen negativen Helden im Buch nicht weniger als 16 Mal nennt, war in seinen Zwanzigern nach Ozsváths Befund ein Linksliberaler; im Buch finden sich dafür schöne Belege. Gerade die Konversion macht sein Charisma aus: Hier regiert einer, der auch die andere Seite gut kennt.

Mit Orbáns Psychologie hält Ozsváth sich nicht weiter auf, wie es überhaupt zu den Stärken seines Buches gehört, dass es nichts überhöht, nichts mystifiziert. Etwas mehr hätte man allerdings gern über das nationale Nervengeflecht erfahren, das Orbán so erfolgreich nutzt. Sind die vielzitierten nationalen Traumata alle wirklich so spezifisch ungarisch? Ist das Selbstbild als Glacis Europas nicht auch in allen benachbarten Nationen verbreitet?
„Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?“, fragt schüchtern der Untertitel. Dabei legt Ozsváth überzeugend dar, dass sein „Puszta-Populist“ sich von den Konstruktionsfehlern der Union prächtig nährt. Für einen Regierungschef in der Pose des Volkstribuns und des Rächers der Enterbten ist die Gemeinschaft wie gemacht. Funktionieren kann die Projektion nur in Staaten von mittlerer Größe, deren es in der Union allerdings eine Menge gibt: Sie müssen nur groß genug sein, im Baltikum oder in Luxemburg hätte ein Orbán keine Chance.
In Deutschland oder Frankreich dagegen würden die Wähler ihre Anführer nicht aus der Verantwortung für Europa entlassen.
Im Vorwort zu Ozsváths Buch lobt der alte Ungarn-Kenner Paul Lendvai, dass der Autor „keine abstrakten oder romantischen Zukunftsszenarien skizziert“. Schlussfolgerungen darf der Leser selbst ziehen. Dass Orbán etwa für Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ein schönes Role-Model abgibt, muss man ja nicht unbedingt aussprechen.

Norbert Mappes-Niediek in FALTER 6/2018 vom 09.02.2018 (S. 21)

Gelebt, erlebt, überlebt 

Eine berührende Biographie
Posted by Wilfried Allé Saturday, February 3, 2018 1:38:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Gertrude PressburgerMarlene Groihofer, Oliver Rathkolb

Gertrude Pressburger war zehn, als Hitler in Österreich einmarschierte. Obwohl die jüdische Familie katholisch getauft worden war, musste sie fliehen. Fast sechs Jahre dauerte die Flucht, die 1944 in Auschwitz endete. Gertrude überlebte den Holocaust – ihre Eltern und die zwei jüngeren Brüder wurden von den Nationalsozialisten umgebracht. Jahrzehntelang hat Gertrude Pressburger geschwiegen. Dass ein maßgeblicher Politiker in Österreich 2016 von einem drohenden Bürgerkrieg spricht, hat sie bestürzt. Per Videobotschaft warnte sie vor einer Rhetorik der Extreme. Dass ihre wahrhaftigen Worte Gehör finden, hat sie bestärkt, mit einer jungen Journalistin ihre Autobiographie zu schreiben: „Ich bin nicht zurückgekommen, um dasselbe noch einmal zu erleben.“

Preis: € 19,60
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 29.01.2018

Rezension aus FALTER 5/2018

Frau Gertrude erzählt ihre ganze Geschichte

Eine berührende Biografie schildert, wer die Frau ist, die die Präsident­schaftswahl für Alexander Van der Bellen im Finale mitentschied

Im Präsidentschaftswahlkampf kannte man nur ihren Vornamen. „Frau Gertrude“ war die Holocaust-Überlebende, die in einem Video klar und eindringlich vor einem Blauen in der Hofburg warnte. Über 3,9 Millionen Mal wurde ihre Botschaft gesehen, die 89-jährige Dame machte Schlagzeilen bis zur New York Times. 
Jetzt ist Gertrude Pressburgers Biografie erschienen, aufgezeichnet von der Journalistin Marlene Groihofer. Und endlich kennt man nicht nur ihren Nachnamen, sondern ihre ganze Geschichte. Sie ist besonders. Nicht nur, weil sie so klar, lakonisch und eindrücklich erzählt wird, sondern weil Pressburger die ganze Geschichte erzählt. Die Schrecken des Holocausts und die Schrecken der Verdrängung der Nachkriegszeit.
Groihofer überlässt Gertrude Pressburger die Erzählregie. Viele ihrer Gedanken beginnen in der Gegenwart und tragen sie zurück in die Vergangenheit. Sie handeln von Wiener Orten, die sie nicht aufsuchen kann, Nächte, in denen die schrecklichen Erinnerungen sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Jede Zeile ihrer Biografie ist eine Gegenrede zum Mythos der „Stunde null“, des großen Schnitts, den es im Jahr 1945 nach offizieller Darstellung ja gegeben haben soll. Doch diesen Neuanfang gab es nur für wenige. Vor allem für jene, die sich von ihrer Schuld abnabeln wollten.

Gertrude Pressburger wächst mit ihren beiden jüngeren Brüdern in Meidling in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familie ist jüdisch, die Kinder werden aber katholisch getauft – auf Wunsch des Vaters. Mit kindlich-naivem Blick erleben wir die Machtergreifung der Nazis und den Alltagsrassismus. Die Geschichte von der Pfanne, die jemand aus dem Gemeindebau auf die Mutter wirft und sie fast erschlägt. Das jüdische Zuckerlgeschäft nebenan, das von den Nazis geschändet wird. Die Sonderklassen, die sie als Schulkind plötzlich besuchen muss. Der Vater, der mit verschwollenem Gesicht aus der Gestapo-Zentrale am Morzinplatz zurückkommt und den sie zuerst gar nicht erkennt, weil er wie ein alter Mann ausschaut, obwohl er erst 34 Jahre alt ist. 
Im September 1938 flüchtet die Familie über Jugoslawien ins faschistische Italien, immer von der Angst begleitet, nach Deutschland deportiert zu werden. Im Frühling 1944 werden sie schließlich ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Gertrude, inzwischen 16 Jahre alt, wird als arbeitsfähig eingestuft, von ihrer Familie getrennt und überlebt als Einzige den Krieg mit Glück und viel Mut. Pressburger erzählt von der Frauensolidarität in den Baracken und dem grauenvollen Alltag so distanziert, dass es wehtut. Im November 1944 schwindelt sie sich in eine Arbeitskolonne für eine Philips-Fabrik ­hinein und entkommt dem KZ. Das Kriegsende erlebt sie in Padborg in Dänemark, danach verschlägt es sie nach Schweden, wo sie den späteren Kanzler Bruno Kreisky kennenlernt, der dort im Exil lebt. 

Kreisky besorgt der „Gerti“, wie er sie nennt, einen Pass und organisiert die Rückkehr nach Wien. Schweden? Israel? Gertrude Pressburger entscheidet sich für das „zerstörte Wien“ und ein Leben im „Feindesland“. Ein Arzt operiert ihr die KZ-Nummer weg, sie macht Karriere als Handelsangestellte und mit 35 bekommt sie von ihrem Mann Erich eine Tochter, ihr größtes Glück. „Das Leben mit meiner Tochter ist die beste Therapie, die ich bekommen konnte“, heißt es im Buch. 
Therapie ist auch das Buch selbst. Denn über ihre Erlebnisse reden konnte Gertrude Pressburger in all den Jahren nie. Gut für sie und Österreich, dass sie ihre Geschichte aufschreiben hat lassen.

Barbaba Tóth in FALTER 5/2018 vom 02.02.2018 (S. 19)

Polens Rolle rückwärts 

Der Aufstieg der Nationalikonservativen und die Perspektiven der Linken
Posted by Wilfried Allé Friday, January 19, 2018 12:36:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Der politische Rechtstrend in Polen ist unübersehbar. Jarosław Kaczyński, der starke Mann hinter der im November 2015 vereidigten Präsidentin Beata Szydło, verkündet, dass das Jahr 2015 in der jüngsten Geschichte des Landes genauso wichtig sei wie das Jahr 1989.
Verhasst ist ihm die politische Ordnung, die sich nach 1989 zwischen der damaligen »Solidarność«-Opposition und der Regierungsseite in Polen herausgebildet hatte. Er hält die seinerzeit am Runden Tisch gefundene Weichenstellung für Verrat, weil sie einer endgültigen Abrechnung mit dem Staatssozialismus den Weg verbaut habe. Nun greift er die liberale Verfassung von 1997 an, da sie Polens erfolgreichen Weg in die Zukunft verhindere.
Diese auch vor dem Hintergrund der Rechtsverschiebungen in anderen europäischen Ländern beunruhigenden Entwicklungen können nicht ohne den Niedergang der Linkskräfte in Polen verstanden werden. Nach spektakulären politischen Erfolgen wurde ein hoher Preis bezahlt für die unkritische Bereitschaft, das Land für den ersehnten Beitritt zur Europäischen Union fit zu machen.
Nunmehr ist es die Kaczyński-Partei, die mit ihren nationalkonservativen Argumenten den neoliberal geprägten Weg eines möglichst schnellen Wirtschaftswachstums auf den Prüfstein stellt – doch um welchen Preis für die Demokratie in Polen und Europa?

Portrait
Krzysztof Pilawski, polnischer Publizist, nach 1990 Korrespondent der linksgerichteten ­Tageszeitung »Trybuna« in Moskau; Veröffentlichungen zur polnischen Linken und zu geschichts­politischen Strategien der Nationalkonservativen.

Einband Kunststoff-Einband
Seitenzahl 176
Erscheinungsdatum 01.04.2016
Sprache Deutsch
ISBN 978-3-89965-702-9
Verlag VSA Verlag
Preis € 15,30
Maße (L/B/H) 211/139/15 mm
Gewicht 281
Auflage 1

Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten 

Narzisstisch? Dissozial? Paranoid?
Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 17, 2018 12:35:00 PM Categories: Gesellschaft Politik & Geschichte Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Besorgte Psychiater brechen mit Berufsethos.

Zwar sind Ferndiagnosen über den Geisteszustand unter Psychiatern eigent­lich ver­pönt. Dazu kommt eine ethische Ver­pflich­tung, sich nicht ohne deren Ein­ver­ständ­nis über Men­schen des öf­fent­lichen Le­bens zu äußern. In Be­zug auf Donald Trump aber haben schon einige Ex­per­ten mit die­sen Grund­sätzen ge­bro­chen - aus Sorge da­rüber, was er als Prä­si­dent an­rich­ten kann.

"Wenn wir als Psychiater von der be­sonderen Ge­fahr wis­sen, die von Trump aus­geht, und da­rü­ber nicht spre­chen, wird die Ge­schich­te nicht gut über uns ur­tei­len", sagte der US-Psy­cho­lo­ge John Gartner. Er ge­hört zu 27 teils höchst re­nom­mier­ten Fach­leu­ten, die in dem Band "The Dangerous Case of Donald Trump" ein Bild von Trumps Per­sön­lich­keit zeich­nen - und zu be­sorg­nis­er­regen­den Fern­di­a­gno­sen kom­men.

Preis: € 20,60
Verlag: Rowohlt
Genre: Politik & Geschichte
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

 

Rezension aus FALTER 3/2018

Being Donald Trump

Michael Wolffs „Fire and Fury“ blickt erstmals hinter die Ku­lis­sen der Trump-Ad­mini­stra­tion und ge­hört un­be­dingt ge­le­sen

Mit der Drohung von „Fire and Fury“, „Feuer und Wut“, hatte Donald Trump Nord­korea einen Atom­schlag in Aus­sicht ge­stellt. Wie man in dem Buch er­fährt, ohne je­de Pla­nung. Den Slo­gan hat sich der Journa­list Michael Wolff für sei­nen Thril­ler über Wahn­sinn und Chaos im Weißen Haus aus­ge­borgt. Der Au­tor hat­te über viele Mo­na­te di­rekten Zu­gang zum eng­sten Um­kreis des Prä­si­den­ten. Er kommt aus dem rech­ten Bio­top der Me­dien­welt New Yorks. Sein Be­richt, wo­nach aus­nahms­los alle Trump-Mit­ar­bei­ter zur Über­zeu­gung ge­kom­men sind, dass der Prä­si­dent psy­chisch ge­stört und un­ge­eig­net für sein Amt ist, ist eine po­li­tische Bom­be mit un­ge­ahn­ter Spreng­kraft.
Michael Wolff erlaubt es seinen Lesern quasi als Mäus­chen hin­term Vor­hang bei ge­hei­men Stra­te­gie­be­spre­chungen, laut­starken Schrei­duel­len und bein­har­ten In­tri­gen um den mächtig­sten Mann der Welt da­bei zu sein. Mit 200 Ver­wand­ten, Freun­den und Be­kannten des Prä­si­den­ten hat der Re­por­ter ge­spro­chen, zu­meist im Hin­ter­grund, häu­fig auch zitier­fä­hig „on the record“.
Trump denunziert das Buch als Fik­tion vol­ler Fake News. Aber er schei­ter­te beim Ver­such, die Aus­lie­fe­rung zu blo­ckie­ren. Abgesehen von Flüchtig­keits­fehlern konnte kein Ge­sprächs­part­ner bis­her be­haup­ten, dass er falsch zi­tiert wur­de. Ame­ri­ka nimmt das von Wolff ge­zeich­nete Sit­ten­bild ernst. Trump er­scheint jetzt als „wahn­sin­niger König“, sagt der Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Tyson Baker vom Aspen Insti­tute in Episode 20 des Falter­Radios.
Mit „Fire and Fury“ meint Michael Wolff den to­talen Krieg ge­gen das Es­tablish­ment, den Trump sei­nen Wählern ver­spro­chen hat, den aber nur eine Frak­tion im Weißen Haus wirk­lich füh­ren will. Die Fol­ge ist ein er­bar­mungs­lo­ser Kampf zwi­schen dem rechts­ra­di­kalen Chef­stra­tegen Steve Bannon als Ver­treter der Wut­bür­ger und der auf Re­s­pek­ta­bi­li­tät be­dach­ten Fa­mi­lien­frak­tion um Toch­ter Ivanka und Schwieger­sohn Jared Kushner.
Gemeinsam ist den ver­feindeten La­gern, dass sie von einem Sieg Hillary Clintons über­zeugt wa­ren. Trump wollte nach der Nieder­lage eine Kam­pagne ge­gen ge­stoh­lene Wahlen star­ten und einen neu­en rech­ten Fern­seh­sen­der grün­den. Der über­ra­schende Er­folg ist der An­fang des nicht en­den wol­len­den Cha­os um den we­der men­tal noch po­li­tisch zum Re­gie­ren ge­eigne­ten Show­man.
Penibel listet Wolff die Kraft­aus­drücke auf, mit denen hohe Re­gierungs­ver­tre­ter den Chef be­denken: „fucking moron“, „Voll­trottel“ (Außen­mi­nis­ter Rex Til­ler­son), „idiot“ (Fi­nanz­mi­nis­ter Steven Mnuchin), „dumb as shit“, „dumm wie Scheiße“ (Wirt­schafts­be­ra­ter Gary Cohn), „dope“, „Trot­tel“ (Sicher­heits­be­ra­ter H.R. McMaster). In den USA ge­bie­tet die Hoch­ach­tung vor dem Amt selbst den Geg­nern einen res­pekt­vol­len Um­gang mit dem Prä­si­den­ten. Das Toll­haus um Trump hat diese Tra­di­tion be­endet.
In Wolffs Darstellung glaubt Rechts­außen­mann Bannon mit Hilfe Trumps das ge­sell­schaft­liche Ruder herum­reißen zu kön­nen. Staats­aus­ga­ben und Steu­ern he­run­ter, Aus­län­der raus, Um­welt­ge­setze und Ge­sund­heits­re­geln außer Kraft setzen, das ist sein Pro­gramm. Das Ame­ri­ka des weißen Pro­le­ta­ri­ats soll wie­der die Ober­hand be­kom­men. Aber Trump ist kein Ideo­loge, son­dern ein Prag­ma­ti­ker, der auch von den kon­ser­va­ti­ven Eli­ten ge­liebt wer­den will. Über ihm schwe­bt das Da­mo­kles­schwert ei­ner my­ste­ri­ösen Ver­bin­dung zu Russ­land und Wla­di­mir Pu­tin. Die Er­mitt­lungen des Son­der­staats­an­waltes Mueller gel­ten als die größ­te Be­dro­hung für die Prä­si­dent­schaft.
Der Rest der Welt spielt eine be­schei­dene Rolle. Die Re­vo­lu­tion fin­det nur auf Twit­ter statt. In Kri­sen­si­tu­a­tionen schlägt sich der Prä­si­dent auf die Seite der Mi­li­tärs, die Aben­teuern ab­hold sind. Ein Drit­tel der Ame­ri­ka­ner hält ei­sern zu Trump. Michael Wolff bie­tet einen Be­richt über die obers­ten Eta­gen des Na­ti­onal­po­pu­lis­mus in Ame­ri­ka, der ver­stö­rend und span­nend zu­gleich ist.

Dazu passend auch das Buch

Ich wähle, also denke ich! 

Offensichtlich ein Irrglaube: WIESO? Menschen entscheiden sich bei Wahlen gegen ihre eigenen Interessen. Ein Abgesang auf den rationalen Wähler.
Posted by Wilfried Allé Friday, November 10, 2017 11:28:00 PM Categories: Gesellschaft Medienforschung
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Propaganda

Die Kunst der Public Relations

von von Edward Bernays, Mark Crispin Miller

Edward Bernays (1891-1995) gilt als Vater der Public Relations. Bernays machte nicht nur das Werk seines Onkels Sigmund Freud populär, er bediente sich auch bei der Psychoanalyse und entwickelte auf ihrer Basis Methoden zur Steuerung der öffentlichen Meinung.

PROPAGANDA (ein Begriff, den er später selbst in 'Public Relations' umbenannte) ist Bernays Hauptwerk. In klarer Sprache, frei vom heute verbreiteten Branchenvokabular, legt er in Propaganda dar, worin sich Public Relations von Werbung unterscheidet. Er begründet, warum es von elementarer Bedeutung ist, die Meinung der Massen zu steuern – und erklärt an ganz konkreten Beispielen, wie das geht. Freimütig berichtet der Freud-Neffe, wie sich über den gezielten Zugriff auf das Unbewusste Waren verkaufen oder gesellschaftlich unpopuläre Maßnahmen durchsetzen lassen. Er schafft damit bis heute gültige Grundlagen für Unternehmens- und Regierungskommunikation und einen Klassiker des 20. Jahrhunderts, der in einer Reihe steht mit Machiavelli und Clausewitz.

160 Seiten, € 18,50

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Politisches Framing

Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht

von Elisabeth Wehling

Politisches Denken ist bewusst, rational und objektiv – diese althergebrachte Vorstellung geistert bis heute über die Flure von Parteizentralen und Medienredaktionen und durch die Köpfe vieler Bürger. Doch die Kognitionsforschung hat die ›klassische Vernunft‹ längst zu Grabe getragen. Nicht Fakten bedingen unsere Meinungen, sondern Frames. Sie ziehen im Gehirn die Strippen und entscheiden, ob Informationen als wichtig erkannt oder kognitiv unter den Teppich gekehrt werden. Frames sind immer ideologisch selektiv, und sie werden über Sprache aktiviert und gefestigt – unsere öffentlichen Debatten wirken wie ein synaptischer Superkleber, der Ideen miteinander vernetzen kann, und zwar dauerhaft. In der Kognitionsforschung ist man sich daher schon lange einig: Sprache ist Politik. Höchste Zeit also, unsere Naivität gegenüber der Macht politischer Diskurse abzulegen.
Dieses Buch legt dazu den Grundstein. In einfacher Sprache deckt es zunächst auf, wie Sprache sich auf unser Denken, unsere Wahrnehmung der Welt und unser Handeln auswirkt. Es zeigt, wo die Wirkkraft mentaler Mechanismen wie Frames und Metaphern herrührt, und macht deutlich, wieso es für gesunde demokratische Diskurse unabdingbar ist, die Bewertungen von Gesellschaft und Politik durch vorherrschende Frames mit eigenen Wertvorstellungen abzugleichen – und für eine authentische Vermittlung der eigenen Weltsicht zu sorgen. Diesen Grundlagen folgt eine Analyse der augenfälligsten Frames unserer deutschsprachigen Debatten über Steuern, Sozialstaat, Gesellschaft, Sozialleistungen, Arbeit, Abtreibung, Islam, Terrorismus, Zuwanderung, Flüchtlingspolitik und Umwelt.

224 Seiten, € 21,50

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