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Mid-Century Vienna 

Auf den Spuren des Aufbruchs
Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 2, 2022 3:02:00 PM Categories: Architektur/Wohnen
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von Tom Koch

EAN: 9783854397014
Genre: Architektur/Wohnen
Umfang: 240 Seiten
Sprachen: deutsch/englisch
Erscheinungsdatum: 09.09.2021
Verlag: Falter Verlag
Personen: Mit Fotos von Stephan Doleschal
Preis: € 29,90

 

Das Wiener Stadtbild wird zumeist mit Gründer­zeit, Jugend­stil oder den Bauten des „Roten Wiens“ asso­zi­iert. Archi­tektur und Design der 1950er bis 1960er Jahre haben zwar genauso ihre Spuren hinter­lassen, fanden aber bis­lang weit weniger Be­ach­tung.

Das Buchprojekt „Mid-Century Vienna“ soll die Wiener Re­prä­sen­tan­ten dieser Epoche des Auf­bruchs nun ins Zen­trum der Auf­merk­sam­keit rücken. Autor Tom Koch begibt sich ge­mein­sam mit dem Foto­grafen Stephan Doleschal auf die Suche nach der Hinter­lassen­schaft der 1950er und 1960er Jahre und zeigt an­hand von un­be­kannten oder wenig be­ach­teten Orten: Die Zeit der Wirt­schafts­wunder­jahre um­gibt uns auch heute noch aller­orts.

Mit Gastbeiträgen von: Susanne Reppé, Al Bird Sputnik, Peter Payer und Wojciech Czaja.

Über den Autor:
Tom Koch ist Grafikdesigner, Schrift-Enthusiast, Reisender und »Lover Of All Things Vintage«. Der Autor des Buches »Ghost­letters Vienna« und Ini­tia­tor der Sign Week Vienna publi­ziert auf type­travel­diary.com typo­gra­fische Fund­stücke aus aller Welt.

VIDEO: Tom Koch präsentiert neues Buch zum Mid-Century (Quelle: W24)
 

FALTER-Rezension

DAS WIEDERENTDECKTE WIEN

Die Architektur dieser Stadt ist nicht nur Dom und Oper. Der Grafiker Tom Koch zeigt im Buch "Mid-Century Vienna" die schön­sten Bauten der 50er und 60er. Ein Ge­spräch über die Stadt und das Leben nach dem Krieg

Noch eine Bestellung, wieder eine, und noch eine. Die Tele­fone im Falter Ver­lag läuten seit zwei Wochen ohne lange Pau­sen. Selten stieß ein neuer Bild­band auf sol­ches In­ter­esse.

Für unbedarfte Menschen endet die große Wiener Archi­tektur irgend­wann nach dem Burg­theater und dem Stephans­dom bei den Ge­mein­de­bauten der Zwi­schen­kriegs­zeit. Dass Insti­tu­tionen wie das Gar­ten­bau­kino, das Gänse­häufel, das Café Prückel, die Zwer­gerl-Hoch­schau­bahn oder der Wasser­speicher am Stein­feld mit ihren klaren For­men und ihrer ge­die­genen Fröh­lichk­eit eine eigene Ära der Wiener Stadt­ent­wicklung er­geben, fand bis­her ge­ringe Be­ach­tung.

Nun haben der Grafiker Tom Koch und der Foto­graf Stephan Dole­schal Texte und vor allem 500 Fotos der schöns­ten (er­hal­tenen) Wiener Räume und Häuser aus den 1950er-und 1960er-Jahren ge­sammelt und mit dem Buch "Mid-Cen­tury Vienna" einen Nerv ge­trof­fen. Archi­tekten und De­signer jener Zeit er­leben ge­rade ein Re­vi­val, Mid-Cen­tury-Vintage­möbel gehen weg wie warme Sem­meln. Oder eben wie dieses Buch.

Wir haben den Grafiker Tom Koch gefragt, was ihn die Arbeit daran über das Leben in Wien zu jener Zeit gelehrt hat.

Falter: Vintagegeschäfte sind voll von Mid-Century-Möbeln, auf Insta­gram gibt es jeden Tag tau­sende Pos­tings zum Be­griff, Wiener Bauten wie das Gänse­häufel oder das Gar­ten­bau­kino sind welt­weit ge­schätzt. Wo­zu braucht es jetzt noch dieses Buch?

Tom Koch: Ich bin selbst er­staunt, dass ich nicht schon früher auf die Idee ge­kom­men bin. Mein Leben spielt quasi in den 60er-Jahren, ich war in meiner Jugend Mod, fahre bis heute zu 60er-Kon­zer­ten in ganz Eu­ropa. Aber für Archi­tek­tur in Wien ste­hen Stephans­dom, Burg­theater und Zwi­schen­kriegs­ge­meinde­bauten, es gab kein eigenes Buch über den Wiener Mid-Cen­tury-Stil. Wir nehmen diese Epoche nicht als sol­che wahr, dabei war Wien da­mals eine ein­zige Bau­stelle, die Stadt hat sich neu er­fun­den: der Ver­suchs­atom­re­ak­tor der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät im Pra­ter, der Was­ser­be­hälter in Neu­siedl am Stein­feld, das Kino Film­ca­si­no oder ein­fach das Matz­leins­dor­fer Hoch­haus. Mid-Cen­tury kann Beton sein, aber auch Neon­röhren, hart oder zärt­lich. Wenige sehen da schnell Zu­sammen­hänge, selbst als Fan der Zeit habe ich viele Bauten erst bei der Arbeit am Buch ent­deckt.

Was haben Sie dabei über das Leben in jener Zeit gelernt?

Koch: Am besten zeigen es alte Fotos vom Schot­ten­tor: Die neue Öffi­station ist total mondän, oval aus­ge­schnit­ten und mit Roll­trep­pen, aber die Men­schen, die aus dem 38er aus­stei­gen, tra­gen dann doch Knie­bund­hosen, Kopf­tü­cher und be­herr­schen die Roll­trep­pen über­haupt nicht. Wien war eigent­lich bieder, und Kon­tro­ver­sen waren ver­pönt. In den 1950er-Jahren hat ein Bild­hauer eine hüft­hohe Zie­gen­skulp­tur in einen Ge­mein­de­bau ge­stellt, aber die Leute sind aus­ge­flippt, weil sie nicht lieb­lich und na­tura­lis­tisch ge­nug war. Es kam zu einer Mieter­ver­sammlung, "die Ziege muss weg". Nach dem Krieg waren die Wiener vor allem mit sich be­schäf­tigt, mich hat erstaunt, wie ver­ges­sen die Nazi­ver­brechen da­mals schon waren. Die Men­schen haben diese Zeit zu­ge­schüt­tet und nicht da­gegen ge­kämpft, dass die Nazi­kader wie­der in ihre Ämter kamen, in Uni­ver­si­täten, Ge­richten.

Oder in Architekturbüros.

Koch: Der Umgang mit emigrierten Archi­tekten ist eine ein­zige Schande. Victor Grün­baum ist 1938 vor den Nazis ge­flüch­tet und in den USA als Victor Gruen zum Star ge­wor­den, er hat dort das Ein­kaufs­zen­trum er­funden. Nach dem Krieg ist er zu­rück­ge­kommen und hat die Kärntner Straße auto­frei wer­den lassen, aber die Wiener Archi­tekten­kammer hat ihm keinen Orden, son­dern eine Klage ge­schickt, wegen seines feh­lenden Ab­schlus­ses. Er musste 10.000 Schil­ling Stra­fe zah­len und sich Archi­tect mit c nennen.

Im Wiederaufbau schlägt die Stunde der Archi­tekten. Doch ihr Gestaltungs­spiel­raum war klein, sie mussten schnell, billig und material­schonend bauen. Wie gut er­halten ist die Archi­tektur von damals noch?

Koch: Schweden hat der Gemeinde Wien im Jahr 1947 zwei Vibro­block­stein-Maschi­nen­sätze ge­schenkt. Mit diesen Ge­räten haben Wiener Arbei­ter auf dem Schweden­platz den Schutt der zer­bomb­ten Innen­stadt zu Bau­material ver­dichtet. Aus diesen Ziegeln ist der erste Ab­schnitt der Favo­rit­ner Wohn­anlage Per-Albin-Hansson-Sied­lung ge­baut, und die steht noch ziem­lich gut.

Die Gemeinde, die Gewerkschaft Bau Holz, die Handels-und Arbeiter­kammer haben da­mals ein Pro­duk­tions­pro­gramm für leist­bare Möbel er­funden. Heute sind diese so­ge­nannten SW-Regale, Bänke und Küchen ge­fragte Vintage­stücke. Was zeichnet diese Möbel aus?

Koch: Sie sollten günstig, benützbar, modern und platz­sparend sein. In den neuen, kleinen Gemeinde­bau­wohnungen hatte das Vor­kriegs­mobi­liar keinen Platz. Die Möbel be­kamen dünne Füße, damit Frauen da­runter gut Staub wischen konnten, heute gelten diese Formen als Leichtig­keit. Auch be­rühmte Archi­tekten wie Roland Rainer haben SW-Möbel ent­worfen, sie waren in Serien ge­fasst, und Käufer konnten in Raten zahlen. Aber so schön und halt­bar sind sie auch wieder nicht, die Leute vom Ge­braucht­möbel­ge­schäft Vintagerie haben mir er­zählt, dass sie des­halb nur selten SW-Möbel ankaufen.

Die 50er waren die Zeit einer neuen Freizeit­kultur, es gab Kinos und Fern­seher, Jugend­liche hatten Mopeds und Jeans. Wo haben Sie den Rock 'n'Roll in der Stadt ge­funden?

Koch: Die Jugendlichen haben nach dem Krieg plötzlich Frei­räume vor­ge­funden. Die Väter sind zu­rück­ge­kom­men, hatten ihre Auto­ri­tät ver­loren und viel­leicht psychi­sche Pro­bleme an­ge­setzt. Es kam zu Jugend­krimi­nali­tät und Gangs in der Vor­stadt, man nannte sie Platten. Der Staat und die Ge­sell­schaft waren damals streng zu den Jungen, der Schau­spieler und Wirt Hanno Pöschl ist noch in den 60er-Jahren als 14-Jähriger von wild­fremden Männern an­ge­rempelt worden, weil er längere Haare hatte. Es herrschte über­all Un­ver­mögen und Un­wille, mit Anders­artigem um­zu­gehen.

Welche Räume gab es für Andersartige?

Koch: Intellektuelle und Künstler konnten sich in drei oder vier Lokalen dem Kommerz ent­ziehen, also nicht ent­schei­dend anders als in meiner Jugend in den 80ern. Ein Hot­spot war die Anna­gasse im ersten Bezirk, meine Mutter war Bar­keeperin in der dorti­gen Tenne. Als die Unter­welt­ler Schutz­geld vom Ge­schäfts­führer Graf Windisch-Graetz ein­trei­ben kamen, hat sie sich immer auf dem Klo ver­steckt. Klaus Kinski wollte ein­mal ent­ge­gen den Haus­regeln ohne Kra­watte hinein, hat die 1000-Schilling-Packen aus der Jacke ge­zogen und ge­schrien: "Ich kaufe dieses Scheiß­lokal." Meine Mutter war wieder auf dem Klo.

Wien wollte damals Weltstadt sein. Stilelemente wie Nieren­tische wurden frech von den Ver­einigten Staaten kopiert.

Koch: Unter dem Votivpark war damals eine Park­garage, wo die Hos­tes­sen auf Roll­schuhen die Autos ein­wiesen, wo man Theater­karten kaufen und in einem Restau­rant essen konnte. Peter Ale­xan­der ist dort ein und aus ge­gangen, aber das Konzept war natür­lich von den USA inspi­riert und die Garage na­tür­lich von einer Bank be­trieben. Italien war der andere Sehn­suchts­ort, da­mals haben in Wien hun­derte Es­pres­so-Lo­kale er­öffnet, 1951 gab es den ers­ten Vespa-Club in der Stadt. Um die Jugend­lichen vom Ameri­ka­nis­mus weg­zu­brin­gen, wollten Öster­reich und Wien eine Bade­kul­tur eta­blieren. Bäder wie das Gänse­häufel stam­men aus dieser Zeit, das Frei­zeit­an­gebot sollte etwas Vor­kriegs­nor­ma­li­tät schaf­fen.

Trotz aller Bieder-und Sparsamkeit jener Zeit zeigt sich auf vielen Seiten Ihres Buchs eine Spiel­freude in den Ent­würfen.

Koch: Das liegt auch an einem anderen Projekt der Stadt Wien: Kunst am Bau. Obwohl die Gemeinde kein Geld hatte, hat sie ein Prozent der gesamten Bausumme für Kunst bei und an den Häusern ausgegeben: Plastiken, Mosaike, viele Tiere, Pflanzen und Kinder, aber immerhin. Hunderte junge Bildhauer bekamen damals Aufträge, so etwas gibt es heute nicht mehr. Der Effekt war auch ein identitätsstiftender: Ich wohne auf der Stiege mit den Geranien, ich bin eine Margerite. Andererseits: Als wir in einem Bau in der Boschstraße die mannshohen Mosaike fotografierten, sagte uns ein Bewohner glaubhaft, dass er die noch nie wahrgenommen habe.

Was war die spektakulärste Entdeckung, von der Sie jedem erzählt haben?

Koch: Als Erstes fällt mir die Sendeanlage auf dem Bisamberg ein, die bis 2008 Radioprogramm ausgestrahlt hat. Dann stehst du in dieser Halle vor den originalen Instrumenten mit Blick auf das heutige Wien, und dir bleibt die Luft weg. Das Beste ist: Ein Mitarbeiter der Österreichischen Rundfunksender GmbH wohnt dort oben als Instandhalter, er hat sicher die schönste Terrasse der Stadt.

Wie haben Sie all diese Gebäude gefunden?

Koch: Im Internet, in Archiven und zu Fuß. Ich weiß jetzt, warum Flächenbezirke so heißen, an einem Wintertag habe ich 16 Kilometer lang Favoritner Seitengassen durchwandert, auf der Suche nach Häusern, die noch niemandem aufgefallen sind. Und dann habe ich mit dem Wien Museum Interessierte gebeten, mir Vorschläge zu schicken. Damals hatte ich schon eine Excel-Tabelle voller Adressen, aber auch irrsinnige Angst, dass noch jemand ein solches Buch plant. Der Trick hat funktioniert: Nachdem zwei Zeitungen über diesen Aufruf im November 2020 berichtet hatten, war das Thema besetzt.

Heute gelten einige der Gebäude als Juwele, wie hat die Kritik damals die Architektur angenommen?

Koch: Sie haben alles in Grund und Boden vernichtet, die Architektur galt in so gut wie allen Zeitungsartikeln als einfallslos oder als überladen. Ich selbst verweigere die Bewertung, ich bin weder Historiker noch Architekturkritiker, das Buch soll den Leser die Stadt neu entdecken und diese Periode erkennen lassen. Der Fotograf Stephan Doleschal hat die Orte ohne Menschen und Autos fotografiert, um ein Gefühl wie zur Zeit der Eröffnung zu erzeugen. Daran kann sich jeder erfreuen oder die Häuser weiter ignorieren.

Was könnten die heutigen Stadtentwickler und Architekten vom Mid-Century Vienna lernen?

Koch: Einmal war ich bei einer Pressekonferenz in der Seestadt Aspern, wo etwas Ähnliches passiert ist wie in den 1960er-Jahren: Die Stadt wächst an die Peripherie und schafft autarke Wohndörfer mit eigener Infrastruktur. Auf alten Fotos sehen diese Siedlungen trostlos und staubig aus, weil die Vegetation so niedrig war. Aber in Teilen der Seestadt unternehmen wir nicht einmal den Versuch, Vegetation zu schaffen. Und diese Balkone, von denen einander Bewohner von Block A auf Block B Kaffee reichen können, mögen stadtplanerisch modern sein, ich empfinde sie aber als Rückschritt. Ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass sich in der Seestadt 70 Jahre Architekturentwicklung zeigen.

Mid-century modern meint die Architektur und Möbelgestaltung von Mitte der 1940er-bis Mitte der 1960er-Jahre. Funktionalität stand über Schnörkeln, das Design folgte klaren Linien. In Österreich zählt der Begriff seit gut zehn Jahren zum allgemeinen Sprachgebrauch, Vintagestücke aus jener Zeit sind gefragt.

Tom Koch ist seit 2011 selbstständiger Grafiker, unter anderem für das Wien Museum. Sein Interesse gilt der Schriftsetzung: Er veranstaltet Typo-Rundgänge durch Wien, hat 2016 im Buch "Ghostletters" Spuren demontierter Schriftzüge dokumentiert und 2017 das Typografie-Festival Sign Week Vienna veranstaltet. Mit dem Fotografen Stephan Doleschal hat er nun das Buch "Mid-Century Vienna" veröffentlicht.

Lukas Matzinger in Falter 40/2021 vom 2021-10-08 (S. 40)

Ein Engel in der Hölle von Auschwitz 

Das Leben der Krankenschwester Maria Stromberger
Posted by Wilfried Allé Sunday, January 23, 2022 8:14:00 PM Categories: Biografien/historisch Biografien/politisch Nationalsozialismus
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von Harald Walser

ISBN: 9783854397021
Genre: Biografien/historisch&politisch, Nationalsozialismus
Umfang: 256 Seiten
Format: Gebundene Ausgabe
Erscheinungsdatum: 31.08.2021
Verlag: Falter Verlag
Preis: € 24,90

 

Klappentext

„Meinen Reichtum an Liebe habe ich in Auschwitz verstreut“, schrieb die österreichische Krankenschwester Maria Stromberger im Juli 1946 resignierend an den ehemaligen Auschwitz-Häftling Edward Pyś nach Polen. Sie befand sich in einem Internierungslager für ehemalige Nationalsozialisten − wie sie schreibt „mitten unter Nazis, SS, Gestapo“. Das traf sie doppelt, hatte die erbitterte Gegnerin des NS-Staates doch in Auschwitz aktiv Widerstand geleistet, viele Häftlinge gerettet, Kurierdienste erledigt, Waffen und Sprengstoff geschmuggelt. Nachdem sie zwei ehemalige Auschwitzhäftlinge, die im Fieberwahn über Auschwitz berichteten, gepflegt hatte, ließ sie sich am 1942 freiwillig ins KZ Auschwitz versetzen, mit der Begründung: Ich will sehen, wie es wirklich ist, vielleicht kann ich auch etwas Gutes tun.

Die in der Geschichte des österreichischen Widerstands wohl einzigartige Frau war zu Lebzeiten zwar in Polen hoch angesehen, wurde in ihrer Heimat aber kaum gewürdigt. Dank vieler neuer Quellen legt der Autor hier eine umfassende Biografie Maria Strombergers vor.

Rezensionist Markus Barnay

Späte Würdigung einer mutigen Frau

„Ich bin mitten unter Nazis, SS, Gestapo!“, schrieb Maria Stromberger ihrem Vertrauten, dem ehemaligen KZ-Häftling Edward Pyś. Das war im Juli 1946, mehr als ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur. Die „Nazis, SS und Gestapo“ befanden sich damals mitten in Vorarlberg, nämlich im Anhaltelager Brederis, in dem führende Köpfe der heimischen Nationalsozialisten vorübergehend interniert wurden. Was Maria Stromberger besonders erregte, war die Art, wie sich die Täter an diesem Ort selbst zum Opfer stilisierten: „(Ich) muss ihre Redensarten täglich anhören, über die ‚Ungerechtigkeit’, höre Klagen, was die Menschen jetzt mit ihnen tun.“ Diese Klagen standen aus Strombergers Sicht in einem himmelschreienden Widerspruch zu dem, was die Nazis in den Jahren zuvor verbrochen – oder zumindest mitverursacht und geduldet hatten: „Dann stehen vor meinem geistigen Auge die Erlebnisse von Auschwitz!! Ich sehe den Feuerschein der Scheiterhaufen! Ich verspüre den Geruch verbrannten Fleisches in der Nase, ich sehe die Elendszüge der einrückenden Kommandos mit den Toten hinterher, (...) und ich könnte diesen hier ins Gesicht schreien und blind auf sie losgehen.“

Hochriskanter Widerstand mitten im KZ

Dass Maria Stromberger gemeinsam mit Nazis eingesperrt wurde, war natürlich ein Irrtum: Nach ihr wurde im April 1946 in Zeitungsanzeigen gefahndet, weil sie in Verdacht geraten war, als Krankenschwester im Konzentrationslager Auschwitz an Tötungen von Häftlingen beteiligt gewesen zu sein. In Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall: Maria Stromberger rettete Häftlingen das Leben – einigen, die als Hilfskräfte in ihrer unmittelbaren Umgebung arbeiteten, ganz direkt und unter großem Risiko, vielen anderen durch ihre Aktivitäten im Widerstand. Denn Schwester Maria stand in direkter Verbindung mit der Widerstandsorganisation in- und außerhalb des Lagers, schmuggelte nicht nur Informationen über die dortigen Zustände hinaus, sondern auch Waffen und Sprengstoff hinein, um geplante Ausbruchsversuche zu ermöglichen – und um, vor allem gegen Ende des Krieges, zu verhindern, dass die SS alle Menschen ermordete, die als mögliche Zeugen ihrer Grausamkeiten später darüber berichten könnten.

Maria Strombergers Wirken in Auschwitz wurde in Vorarlberg, wo sie vor und nach dem Krieg lebte, kaum gewürdigt: Als sie in Brederis festgehalten wurde, bedurfte es einiger Interventionen aus Polen (unter anderem vom späteren Ministerpräsidenten Jozef Cyrankiewicz, selbst ehemaliger Auschwitz-Häftling), ehe sie wieder freigelassen wurde. Fast 30 Jahre nach ihrem Tod (sie starb 1957 in Bregenz) wurde ihre Geschichte hierzulande zum ersten Mal erwähnt – in Meinrad Pichlers Beitrag über „Humanitäre Hilfe“ als eine Form des Widerstands gegen die NS-Herrschaft im wegweisenden Buch über Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg: „Von Herren und Menschen“. Basis für Pichlers Ausführungen waren die Erinnerungen des KZ-Überlebenden Hermann Langbein, der schon 1972 in seinem Standardwerk „Menschen in Auschwitz“ die Zustände im größten Vernichtungslager der Nazi-Diktatur beschrieben hatte.

„Engel in der Hölle von Auschwitz“

Die Geschichte der Maria Stromberger beschäftigte Harald Walser von da an immer wieder. Der Historiker, damalige Lehrer und spätere Direktor des Bundesgymnasiums Feldkirch, der sich – nach zehn Jahren als Nationalratsabgeordneter der Grünen – mittlerweile im Ruhestand befindet, veröffentlichte 1988 die ersten „Biografischen Notizen“ über Stromberger in der Zeitschrift „Montfort“. Seither hat Walser fortlaufend weitere Informationen über Stromberger gesammelt, hat Zeitzeug*innen interviewt, die Entstehung einer TV-Dokumentation begleitet, in Auschwitz, Prag, Frankfurt, Kärnten und Wien geforscht – und all das jetzt zu einer umfangreichen Biografie jener Frau zusammengefasst, die KZ-Überlebende als „Engel in der Hölle von Auschwitz“ bezeichneten. 
Es ist nicht die erste Biografie über die katholische Krankenschwester Maria Stromberger, die hierzulande erscheint: Schon 2007 veröffentlichte Andreas Eder eine Broschüre, in der wichtige Fakten über ihren Lebenslauf und ihr Wirken in Auschwitz enthalten waren. Als Unterrichtsmaterial half diese Biografie seither, Strombergers Bedeutung für den Widerstand gegen das NS-Regime zu erläutern, vor allem den Besuchern des Bregenzer „Gedenkwegs“, der auch über den „Maria-Stromberger-Weg“ im Dorf führt: Er verbindet, zwischen Landeskrankenhaus und Krankenpflegeschule, die Kolumbanstraße mit der Schloßberggasse.


Von der Kindergarten-Helferin zur Krankenschwester im KZ

Was Harald Walser jetzt auf über 250 Seiten präsentiert, geht allerdings weit über die bisherigen Publikationen über Stromberger hinaus: Er hat unter anderem die Lebensgeschichten der Eltern und aller acht Geschwister der in Kärnten geborenen und aufgewachsenen Maria Stromberger recherchiert – und einige davon auch gegenüber bisherigen Veröffentlichungen korrigiert. Er hat aber auch sämtliche beruflichen Stationen der späteren Krankenschwester erforscht: Sie begann als Kindergarten-Helferin, arbeitete in Hotellerie und Gastronomie, lebte fast zwei Jahrzehnte lang in Graz, ehe sie in der Mehrerau in Bregenz ihre Ausbildung zur Krankenschwester begann. In das KZ Auschwitz ließ sie sich freiwillig versetzen, weil sie sehen wollte, „wie es wirklich ist“, schrieb ihre Schwester später in einem Brief an Hermann Langbein, was der in seinem Buch so kommentierte: „Andere stellten sich blind und taub, wenn sie etwas erfuhren, Maria Stromberger suchte die Wahrheit“.

Was Harald Walsers Stromberger-Biografie auszeichnet, ist die umfangreiche Dokumentation der Widerstandstätigkeit von Maria Stromberger: Während andere Historiker sich mit unbelegten Behauptungen und Hang zum Etikettenschwindel durchschummeln wollen (siehe die Rezension zur Biografie von Georg Schelling in der KULTUR 2/2020), hat Walser neue Quellen erschlossen, etwa den privaten Nachlass von Maria Stromberger, Berichte von Zeitzeugen im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz, die Aussagen der ehemaligen Häftlinge beim Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, und nicht zuletzt die persönlichen Gespräche und den Briefverkehr mit KZ-Überlebenden wie dem eingangs erwähnten Eduard „Edek“ Pyś, Artur  Radvanský und Hermann Langbein. Sie sind mittlerweile alle verstorben, umso wertvoller sind die persönlichen Aufzeichnungen und Erinnerungen von Harald Walser. Er stellt auch einige Objekte aus dem Nachlass von Maria Stromberger für die neue Ausstellung im Österreich-Pavillon in der Gedenkstätte Auschwitz zur Verfügung, die im Oktober nach langem Hin und Her endlich eröffnet werden soll.

Unbehagen 

Theorie der überforderten Gesellschaft
Posted by Wilfried Allé Tuesday, January 18, 2022 10:56:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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von Armin Nassehi

ISBN: 9783406774539
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 384 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 16.09.2021
Verlag: C.H.Beck
Preis: € 26,80

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

 

WARUM MODERNE GESELLSCHAFTEN MIT DER KRISENBEWÄLTIGUNG ÜBERFORDERT SIND

Der Ruf nach mehr Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt entspringt unserem sehnlichsten Wunsch, aus einem Guss und womöglich kollektiv handeln zu können. Aber die moderne Gesellschaf t kennt keinen Ort, an dem ihre unterschiedlichen Funktionslogiken nachhaltig aufeinander abgestimmt werden können. In Krisen wird diese systematische Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst besonders deutlich. Armin Nassehi zeigt, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgsellschaften zwangsläufig scheitern muss. Aus dieser notorischen Enttäuschung resultiert ein Unbehagen, das den Blick auf die Gesellschaft von ihrer grundlegenden Selbstüberforderung ablenkt.
Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern, sind träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Prak- tiken immer wieder als erstaunlich fragil und vulnerabel. In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander. Schon die Semantik der Krise suggeriert aber, dass es so etwas wie einen wohlgeordneten Status geben könnte, der sowohl modern als auch nicht-krisenhaft wäre. Doch dieser Vorstellung läuft bereits die innere Differenziertheit der Gesellschaft in ökonomische, politische, wissenschaftliche, rechtliche und familiale Logiken zuwider. Armin Nassehi vertritt in seinem Buch dagegen die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben, ohne je in eine Form prästabilierter Harmonie zurückzukehren. Er zeigt, wie sowohl die sozialwissenschaftliche Literatur als auch die öffentlichen Debatten der Gegenwart den Blick auf diesen Zusammenhang verstellen, indem sie Gesellschaft ausschließlich in der Sozialdimension, d. h. in illusionären Kollektivbegriffen beschreiben. Demgegenüber stellt Nassehi die Sachdimension gesellschaftlicher Strukturen ins Zentrum seiner theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse. Dadurch gelingt ihm ein kontruktiver Blick auf eine überforderte Gesellschaft, die in ihrem Unbehagen ihre eigene Problemlösungskompetenz zu vergessen droht. Er deutet zugleich an, was man aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um uns für künftige Krisensituationen besser zu rüsten – ohne übersteigerte Erwartungen zu wecken.

Armin Nassehi über die überforderte Gesellschaft
Warum unsere Gesellschaft nicht aus einem Guss regiert werden kann
Das Unbehagen an der Gesellschaft - Armin Nassehis neue Theorie

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.10.2021

Rezensent Peter Unfried findet großes Interesse an der neuen Gesellschaftstheorie von Armin Nassehi. Der Münchener Soziologe schreibt darin vom "Unbehagen" in der Gesellschaft, das durch die Tatenlosigkeit trotz des Wissens über Probleme wie dem Klimawandel entsteht, erklärt Unfried. Zwar werde der Autor vor allem von "akademischen Classic-Linken" womöglich durch seine Praxisorientierung kritisch gelesen, der Rezensent erkennt in Nassehis Ansatz jedoch Fortschritt im Vergleich zu den üblichen politischen Zeitgeist-Analysen.  Schließliche lerne man auch noch, dass für Koalitionen und die Gesellschaft der Zukunft ein Perspektivenwechsel anstelle der normativen Sicherheit stehen sollte, schließt der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 22.09.2021

Sehr instruktiv findet Rezensentin Vera Linß die Analysen des Soziologen Armin Nassehi, der in diesem Buch aufzeigt, warum die Gesellschaft es nicht mehr schafft, Probleme zu lösen. Nassehis Ansicht nach werde irrigerweise immer noch an ein Kollektiv appelliert, wo es darum gehe müsse, die Logiken der verschiedenen "Einheiten des Sozialen" zu erkennen: Wirtschaft, Medien, Recht, Familien etc. Wie diese Logiken dann neu miteinander "verzahnt" werden können, führt der Autor der Rezensentin am Beispiel der Palliativmedizin anschaulich und plausibel vor Augen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 21.09.2021

Rezensentin Ina Rottscheidt empfiehlt das Buch des Soziologen Armin Nassehi. Das Versagen der Gesellschaft bei kollektiven Herausforderungen und Katastrophen erklärt ihr der Autor mit Blick auf die Pandemie verständlich und überzeugend mit der Unfähigkeit der Menschen, unterschiedliche Interessen, Werte und Erwartungen für ein gemeinsames Ziel zu bündeln. Dass wir nicht kollektiv handeln können, erkennt Rottscheidt mit Ernüchterung, zumal der Autor auch keine einfachen Lösungen parat hat, sondern vor allem die Logik gesellschaftlichen Handelns offenzulegen sucht, wie die Rezensentin weiß. Für Rottscheidt ein kluges Buch mit wertvollen Erkenntnissen für unsere unmittelbare Gegenwart.

Nationalpark Donau-Auen 

Ein Führer durch die Natur zwischen Wien und Bratislava
Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 12, 2022 10:27:00 PM Categories: Naturführer Reiseführer Wanderführer
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von Christina Rademacher

ISBN: 9783854396123
Genre: Reiseführer, Naturführer, Wanderführer
Umfang: 176 Seiten
Region: Wiener Becken, Marchfeld, Österreichische Donau, Hundsheimer Berge, Westslowakei, Donauauen
Erscheinungsdatum: 27.06.2018
Verlag: Falter Verlag
Preis: € 19,90

Inhaltsverzeichnis

So nah an der Stadt und doch so ganz anders als Wien und Bratislava: der Nationalpark und die Naturschutzgebiete der Donau- und March-Auen. Im Großraum zwischen der Hauptstadt Österreichs und jener der Slowakei liegt ein arten- und abwechslungsreiches Erholungsgebiet für Mensch und Natur. In zehn Kapiteln werden dieses Gebiet und seine nähere Umgebung vorgestellt. Seltene Tiere und Pflanzen, interessante Menschen und der Sinn eines Nationalparks zwischen zwei großen Städten sind Themen des Führers, der auch ganz praktische Tipps gibt: Wanderrouten, kulinarische Besonderheiten, Veranstaltungen und Naturerlebnisse in unterschiedlichen Landschaften, von der Steppe über karge Berge bis zu prächtigen Aulandschaften an Flüssen und Altarmen. Mit dem Guide werden die Donau- und March-Auen zum nah gelegenen Freizeit- und Naturerlebnis.

FALTER-Rezension:

Niederösterreichs Amazonas

In der Region zwischen Wien und Bratislava tritt häufiger als anderswo Wasser über die Ufer von Donau und March. Schön für tausende Tiere und Pflanzen in den Auen. Könnte ruhig öfter passieren

Katarina Zlochová steht mindestens zweimal im Jahr im unteren Teil ihres Grundstücks knöcheltief im Wasser: im Frühling, wenn Hochwasser die March über ihre Ufer treten lässt und im Juni, wenn mit der Donau dasselbe geschieht. Dann drückt der zweitmächtigste Strom Europas das Wasser der March zurück und versenkt Wiesen und Wälder, bis nur noch die obersten Spitzen der blauen Schwertlilien zu sehen sind, die für das Land, in dem die March in die Donau mündet, typisch sind.

Ohne das überlaufende Wasser würden die blauen Blumen, die in Österreich vom Aussterben bedroht sind und als Heilpflanze gelten, hier nicht vorkommen. Ebensowenig wie die mehr als 800 Pflanzenarten, über 30 Säugetier- und 100 Brutvogelarten, acht Reptilien- und 13 Amphibienarten und rund 60 Fischarten, die im Nationalpark Donau-Auen leben, der sich zwischen Wien und Bratislava auf 9300 Hektar erstreckt.

Katarina Zlochová ist eine von neun Donau-Expertinnen und –experten, mit denen Autorin Christina Rademacher für ihr Buch „Nationalpark Donau-Auen. Ein Führer durch die Natur zwischen Wien und Bratislava“ gesprochen hat, das diese Woche im Falter Verlag erscheint. Seit 18 Jahren lebt die gebürtige Deutsche in Wien. Ihr sei es ein Anliegen, den Leuten zu zeigen, welche Schätze direkt vor ihrer Haustüre liegen. „Dass man nicht erst in ein Flugzeug steigen muss, um beeindruckende Natur zu erleben, sondern dass – wie hier in den Auen – ein Öffi-Ticket oft reicht.“

Der Nationalpark Donau-Auen schützt die letzte größere zusammenhängende Flussauenlandschaft in Mitteleuropa. Hier konnte die freie Fließstrecke der Donau erhalten werden – der flussbegleitende Auwald gilt als der ursprünglichste und ökologisch bedeutendste in unseren Breiten. Gefährdet wird das Artenreichtum, das – zählt man land- und wasserlebende Insekten sowie wirbellose Tiere dazu – rund 5000 Arten umfasst, durch Flussregulierungen und gebietsfremde Tiere und Pflanzen, die sich schnell ausbreiten und den heimischen Arten Luft, Licht und Nahrung entziehen.

Für ihre Recherche schlüpfte Christina Rademacher über mehrere Monate hinweg in Gummistiefel, um die Auen zu erkunden. „Was mich dabei am meisten überrascht hat, ist, dass der Fluss so eine außerordentlich gestaltende Funktion einnimmt.“ Wäre die Donau unreguliert, lässt sich die Autorin von Experten vorrechnen, bliebe nach 100 Jahren nur ein Prozent der Auenlandschaft so, wie sie jetzt ist: „Wo heute Wasser ist, läge dann eine Kiesbank. Wo sich heute eine Kiesbank erstreckt, wüchsen dann Silberweiden.“ Der stetige Wechsel bildet die Lebensgrundlage für viele Tiere und Pflanzen. Man könne sich die Donau vorstellen wie ein Kind, erklärt Rademacher, das einen Sandkasten mit Kübeln voller Wasser in eine Gebirgslandschaft verwandelt, um sie am nächsten Tag wieder einzureißen und etwas völlig Neues zu bauen.

Für Katarina Zlochová gab es schon Jahre, in denen sie bis zu den Hüften nass war, wenn sie durch ihren Garten schritt. Dann rief sie nach ihrer Familie, die in die Badehosen schlüpfte, die Kartoffeln und Gurken aus dem Boden fischte und die Ernte einsammelte – in einer Babybadewanne, die zwischen den Kindern im Hochwasser schaukelte.

Seit 1974 lebt die tschechische Mikrobiologin in Devínska Nová Ves, einem Stadtteil im Nordwesten Bratislavas, unmittelbar an der Grenze zu Österreich. Die häufigen Überschwemmungen haben den Auwald ringsum „weich“ gemacht: Im sumpfigen Boden gedeihen schnell wachsende Pappeln und Weiden – und Menschen, die ein gewisses Maß an Pragmatismus ausmacht: „Wenn die March ansteigt, wird eben schnell alles in Sicherheit gebracht“, sagt Zlochová.

Für die Wissenschaftlerin, die in der Region Führungen anbietet, ist das Schutzgebiet vor ihrer Haustüre ein Glücksfall: Im Frühling beobachtet sie Smaragdeidechsen bei ihren Paarungskämpfen und Bienenfresser, wie sie fast zwei Meter tiefe Brutröhren in sandige Abhänge graben: Dass die bunt gefärbten Vögel, die in den 80ern bereits als ausgestorben galten, hier überhaupt zu finden sind, ist wohl dem Eisernen Vorhang zu verdanken, der mitten durch das Gebiet der Marchau verlief: „Die Tiere und Pflanzen profitierten von ihm“, meint die Mikrobiologin, „aber ich kann mich noch an die Schreie erinnern, die hier oft zu hören waren.“ Dass es heute einen direkten Weg nach Österreich gibt, ganz ohne Grenzkontrollen, ist für Zlochová „immer noch ein großes Wunder“, wie sie sagt. An den Tag der Grenzöffnung im Jahr 1989, an dem ihre Kinder den Stacheldrahtzaun mit großen Scheren durchgeschnitten haben, erinnert sie sich heute noch gern.

Durch die Begegnung mit Zlochová, erzählt Christina Rademacher, habe sie viel gelernt über die Geschichte der Region, die sich unmittelbar vor der Haustür der Wiener befindet. Und über die Donau selbst: Dass der Fluss nämlich etwa aussieht, wie er aussieht – also mit Ausnahme eines Stücks in der Wachau und im Nationalpark in Österreich streng reguliert –, sei das Ergebnis einer Erfindung, die ab 1830 die Flusslandschaften dieser Welt veränderte: die Dampfschifffahrt. Für die Schiffe, die einen wesentlich größeren Tiefgang und einen wesentlich höheren Wellengang hatten, als die Holzboote, mit denen die Donau davor jahrhundertelang befahren wurde, mussten das Flussbett vertieft und die Ufer stabilisiert werden. Der Hochwasserschutz, Kraftwerks- und Dammbauten taten ihr Übriges, um das Bild des insgesamt 2850 Kilometer langen Flusses zu verändern.

Wie die Flusslandschaft der Donau vor den zahlreichen Eingriffen ausgesehen hat, lässt sich heute nicht rekonstruieren. Dass aber Besucher des Nationalparks einen Eindruck davon bekommen, wie eine Aulandschaft funktioniert, ist im Grunde einem Schwarzstorch, einem Au-Hirsch und einer Rotbauchunke zu verdanken, die vor knapp 35 Jahren ihre, in die Annalen des Naturschutzes eingegangene „Pressekonferenz der Tiere“ abhielten: Autor Günther Nenning, Grünen-Ikone Freda Meissner-Blau, der damalige Chef der FPÖ-Jugend Hubert Gorbach, SPÖ-Urgestein Josef Cap und sein ÖVP-Urgesteins-Kollege Othmar Karas, Schriftsteller Peter Turrini sowie viele andere luden zum Presse-Event, der als Startschuss für den Widerstand gegen das geplante Donaukraftwerk in Hainburg galt und damit als Wegbereiter für den heutigen Nationalpark, der 1996 eröffnet wurde. So kam es, dass die Donau zwischen Wien und Bratislava heute fließen kann, wie sie will, nur: Fragt man die Ranger, die im Jahr tausende Touristen über die angelegten Wanderwege geleiten, so ist die einst wilde Donau heute viel zu zahm. Die vielen Regulierungen haben den Strom träge gemacht. Anstatt auszuufern, fließt er brav in seinem Korsett, in das er sich Jahr für Jahr tiefer gräbt, weil er in den begradigten Abschnitten links und rechts auf Grenzen stößt. In den Auen Seitenarme zu bewässern, geht sich für den Fluss dabei nicht mehr aus, was fatal ist für eine Landschaft, die davon lebt, regelmäßig unter Wasser gesetzt zu werden. Die Donauau lebt von konstanter Veränderung; lassen sich ihre Arme wegen des Wassermangels nicht mehr bewegen, mutiert die Landschaft zu Wald. „Damit Natur Natur sein kann, muss jemand regelmäßig Steine in die Donau werfen“, zitiert Christina Rademacher den Direktor des Nationalparks Carl Manzano in ihrem Buch. Deshalb wird einmal im Jahr Kies, der weiter unten zur Erhaltung der Schifffahrtsrinne aus der Donau gebaggert wird, auf Boote verladen und stromaufwärts ins Wasser gekippt, um die Sohle des Flussbettes aufzufüllen.

Zur Erhaltung der Artenvielfalt in der Au müssen die Nationalparkmitarbeiter nicht nur wie Sisyphus Kieselsteine transportieren, sie müssen auch konstant zupfen und mähen. Obwohl die Leitlinie des Parks verbietet, in die Naturzonen einzugreifen, ist das die einzige Option, um zu verhindern, dass ungeliebte Neulinge in den Auen das Kommando übernehmen:

Alleine in Niederösterreich gibt es mittlerweile weit über 170 eingeschleppte Pflanzenarten: den eschenblättrigen Ahorn, den Götterbaum, Akazien und das kleinblättrige Springkraut zum Beispiel. Entlang der March breiten sich die Rau- und Glattblatt-Astern aus: Werden die Wiesen nicht zweimal pro Jahr gemäht, nehmen die ursprünglich aus Nordamerika stammenden Astern ungebremst überhand und lassen zum Beispiel dem Adonisröschen, das in den 80ern als ausgestorben galt und seit der Antike als Heilmittel bei Herzleiden bekannt ist, keinen Platz.

Und auch im Tierreich breiten sich die Neophyten aus: Im seichten Wasser entlang des Donauufers zum Beispiel finden sich millionenfach kleine bräunliche Muscheln, die Körbchenmuscheln, die ursprünglich aus Asien stammen und mit Containerschiffen vom Yangtze-Fluss eingeschleppt wurden. Mittlerweile haben sie sich in den Auen so stark verbreitet, dass sie den heimischen Muscheln die Nahrung wegfiltern.

In den Auen ebenso millionenfach zu finden – auch ungut, aber definitiv heimisch: die Gelse, wichtige Nahrungsquelle für Fledermäuse, Vögel und andere. Welche Routen Besucher des Nationalparks bevorzugt begehen, während sie sich von Gelsen jagen lassen, steht in Rademachers Buch. Für das in den gelsenfreien Wintermonaten recherchiert wurde.

Verena Randolf in Falter 26/2018 vom 2018-06-29 (S. 52)

Moral als Bosheit 

Rechtsphilosophische Studien
Posted by Wilfried Allé Monday, January 10, 2022 11:14:00 AM Categories: Lexika Recht/Allgemeines
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von Alexander Somek

ISBN: 9783161608353
Genre: Recht/Allgemeines, Lexika
Umfang: 204 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 01.08.2021
Verlag: Mohr Siebeck
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Moralische Vorwürfe verletzen oder verärgern, vor allem wenn sie einen unvermutet und aus dem Hinterhalt treffen. Plötzlich gilt man als Rassist, Sexist oder gar als elitär. Die Daumen werden nach unten gekehrt und die Menge schreit "Buh". In den Chor einzustimmen verspricht den Teilnehmenden Statusgewinn, denn wer andere verurteilt, reiht sich damit sofort unter die Guten ein. Aber dieses Gutsein ist perfide. Die unbeirrbar auftretende Moral erweist sich bei näherer Betrachtung oftmals als boshaft. Sie macht Mehrdeutiges eindeutig und erzeugt so, was sie anprangert. Sie vermeidet Begründungen, belohnt das Ducken und vertraut auf die blanke Macht der Entrüsteten. Inhaltlich lässt sie sich nicht verallgemeinern, denn sie mutet Menschen zu, Verhaltensmaßstäben zu genügen, denen sie nicht genügen müssen. Die Bosheit dieser Moral gilt es zu begreifen und das Recht von ihrem Einfluss freizuhalten.

Philipp Blom:

In seinem Buch Moral als Bosheit befasst sich Alexander Somek, Rechtsphilosoph und kritischer Analytiker der Moralvorstellungen unserer Zeit, mit emotional aufgeladenen Debatten über Gendern, Sexismus, Rassismus oder Diskriminierung, mit dem Verhältnis von Recht und Moral; er stellt sich – und uns –die Frage, wie sich der Trend zur Aufspaltung in Gruppenidentitäten auf das Gemeinwohl auswirkt. Und er fragt, wie es in unserer moralisierenden, konsum- und wachstumsorientierten Gesellschaft um die soziale Frage, um das Streben nach sozialer Gerechtigkeit bestellt ist.

Dummheit 

Lieferbar ab Jänner 2022
Posted by Wilfried Allé Friday, December 31, 2021 3:24:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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von Heidi Kastner

ISBN: 9783218012881
Reihe: übermorgen
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 128 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 14.10.2021
Verlag: Kremayr & Scheriau
Preis: € 18,00

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

„Dummheit begegnet uns in vielerlei Form – doch woran kann man sie erkennen?“ Was haben so unterschiedliche Dinge wie „alternative Fakten“, menschenleere Begegnungszonen in Satellitensiedlungen und Schönheits-OPs als Maturageschenk gemeinsam? Heidi Kastner wagt sich an den aufgeladenen Begriff der Dummheit und betrachtet sowohl die sogenannte messbare Intelligenz (IQ) sowie die „heilige Einfalt“ und die emotionale Intelligenz, deren Fehlen immensen Schaden anrichten kann.  Was treibt Menschen, die an sich rational-kognitiv nachdenken könnten, dazu, sich und andere durch „dumme“ Entscheidungen ins Unglück zu stürzen? Wie ist kollektive Bereitschaft zu Ignoranz zu erklären und warum nimmt dieses Phänomen scheinbar so eklatant zu? Gibt es einen Konsens dafür, dass langfristig fatales, aber unmittelbar subjektiv vorteilhaftes Verhalten als „dumm“ anzusehen ist? Sind Abwägen und Nachdenken altmodisch? Und was um Himmels Willen ist so attraktiv am Konzept des Leithammels, der uns das Denken abnimmt, oder des Influencers, der uns den einzig wahren Weg zeigt? 

Falter-Rezension

„Querulanten sind unglückliche Menschen“

Was’ wiegt, des hat’s“, lautet eine bekannte Redewendung. Die in Linz geborene und ebendort als Chefärztin an der Landesnervenklinik tätige Heidi Kastner scheint sie zu ihrer Lebensmaxime erhoben zu haben. Die in der Öffentlichkeit recht präsente und medial nachgefragte Medizinerin nimmt sich kein Blatt vor den Mund und hält sich nicht an politisch korrekte Sprachimperative.

Auch nicht in ihrem soeben erschienenen Büchlein mit dem schlichten Titel „Dummheit“. Kurzweilig, unakademisch und uneitel versucht Kastner darin, einige konstitutive Merkmale der Dummheit zu bestimmen. Sie unterscheidet zwischen Intelligenzminderung und Dummheit, liefert einen kurzen historischen Abriss der Intelligenzforschung und kommentiert das aktuelle Geschehen um Pandemie und deren Begleitdebatten. Darüber hinaus erzählt sie teils ziemlich komische Fallbeispiele nach, die ihr in ihrer Tätigkeit als Gerichtsgutachterin untergekommen sind.

Dabei vermeidet es Kastner, in die Falle der Selbstüberhebung jener zu tappen, die die Dummheit immer nur bei den anderen konstatieren. Dumme Handlungen, so heißt es an einer Stelle, beruhten „auch auf unzureichendem Wissen, aber nur dann, wenn man den eigenen Wissensmangel nicht als problematisch erkennt“.

Falter: Naheliegende Einstiegsfrage: Wie dumm haben sich unsere Politiker während der Pandemie verhalten?

Heidi Kastner: (Lange Pause.) Ich weiß nicht, ob es Dummheit war. Für mich setzt Dummheit voraus, dass man für sich selbst einen Vorteil sucht und Kollateralschäden billigend in Kauf nimmt. Zu Beginn der Pandemie war die Informationsgrundlage gleich null. Man hat auf Bergamo geschaut und sich gefürchtet. Und wenn man zu diesem Zeitpunkt sagt: „Es wird bald jeder jemanden kennen, der an Corona verstorben ist“, dann ist das weder manipulativ noch blöd, sondern eine Prognose, die zwar falsch, in Hinblick auf den damaligen Informationsstand aber realistisch war.

Eineinhalb Jahre und vier Lock­downs später sieht es aber anders aus.

Kastner: Der vierte Lockdown war ein kommunikativer Super-GAU. Es gehört zum politischen Geschäft, zu wissen, dass Krisenkommunikation verständlich, eindeutig und einstimmig sein muss. Das war tatsächlich dumm.

Und die Entscheidung, ihn so lange hinauszuzögern …

Kastner: … war auch nicht klug. Man hätte bereits im Sommer für den Fall einer dramatischen Verschlechterung eine Impfpflicht in den Raum stellen, die rechtlichen Abklärungen vornehmen und den Gesetzesentwurf in Begutachtung schicken können. Wir hätten dann die Demonstrationen schon im August gehabt, was nicht so dramatisch gewesen wäre. Jetzt rennen relativ viele Infizierte maskenlos und brüllend durch die Gegend. Das ist ein ideales Ansteckungsszenario.

Mit Überzeugungsarbeit richtet man bei solchen Leuten wohl nichts mehr aus?

Kastner: Wer nach einem Jahr der Debatten über Impfeffizienz und über die bekannten und neu akquirierten Fakten nichts davon wissen will, den wird man nicht mehr erreichen.

Dafür kennen solche Leute „alternative Fakten“. Nur, wenn ich einen Mikrochip in meine Oberarmmuskulatur injiziert bekomme – was genau richtet der an?

Kastner: Keine Ahnung. Der wird halt irgendwo „andocken“ und verheerende Dinge anrichten. Solche Ansichten kenne ich ansonsten nur von psychotischen Patienten. Die fahren sich dann mit dem Schraubenzieher ins Ohr oder bohren sich mit der Bohrmaschine den Zahn auf, um den Chip zu entfernen. Es ist einfach bloß ein Blödsinn, den man aber nicht mehr als solchen bezeichnen soll. Denn natürlich muss man mit allen­ reden, alle verstehen und sich bemühen, „die Abgehängten“ zu überzeugen. Es gibt freilich Studien, denen zufolge gebildete Frauen mittleren Alters das Gros der Impfgegner ausmachen. Von „abgehängt“­ kann da keine Rede sein.

Apropos. Wer sich die Auftritte von Dagmar Belakowitsch anschaut, dem wird klar, dass die ihre sieben Zwetschken nicht beieinander hat. Wie kann so jemand „Gesundheitssprecherin“ werden?

Kastner: Na ja, da muss man sich fragen: von welcher Partei? Und das ist auch schon die Antwort. Der Herr Haimbuchner (Manfred Haimbuchner, FPÖ-Landesparteiobmann und Landeshauptmannstellvertreter Oberösterreichs sowie genesener Corona-Intensivpatient, Red.) ist nicht so gut beieinander gewesen. Gar nicht gut. Also überhaupt nicht gut. Aber selbst der hat seine Position nicht wirklich revidiert, weil das in der FPÖ ohne vollkommenen Gesichtsverlust nicht geht. Ich habe in diesem Zusammenhang sehr oft an das denken müssen, was Hannah Arendt über die Stimmung im Nationalsozialismus geschrieben hat: Die Menschen haben alles für möglich und nichts für wahr gehalten. In einer solche Situation hat man dann absolut freie Wahl und kann sich auch entscheiden, den abstrusesten Blödsinn zu glauben.

Als Erklärung für die Konjunktur von Verschwörungsnarrativen wird oft auf die große Verunsicherung verwiesen.

Kastner: Es ist unüberschaubar geworden, was sich gegenseitig bedingt. Das sprichwörtliche Fahrradl, das in China umfällt, kann tatsächlich Folgen für mich haben. Warum, bitte, krieg ich keine Dachziegeln mehr, wenn ein Schiff im Suezkanal feststeckt? Das ist auch für mich nicht mehr nachvollziehbar.

Hat es nicht damit zu tun, ob man über ein gewisses Weltvertrauen verfügt oder nicht?

Kastner: Ich habe mit 23 promoviert und bin jetzt 59. Ich überblicke also mehrere Jahrzehnte ärztlicher Tätigkeit. Früher sind die Leute gekommen, man hat sie durchuntersucht, eine Diagnose erstellt, und die haben gesagt: „Aha, was kann man da machen?“ Vor 25, 30 Jahren ging es los mit: „Ich hol mir eine zweite Meinung ein.“ – „Okay, machen Sie das.“ Und danach kam: „Ich muss mich erst erkundigen.“ Da wusste man schon, was folgt: „Ich habe im Internet nachgesehen und weiß jetzt, was ich habe und brauche.“

Mit den exponentiell steigenden Möglichkeiten, an Informationen zu kommen, steigt auch das Misstrauen?

Kastner: Ja. Das hat aber schon Anfang der 80er-Jahre begonnen, als die erste Ausgabe von „Bittere Pillen“ erschienen ist. Da hieß es dann: „Ja, diesen Firmen geht’s nur um den Gewinn.“ Ja, no na. Die Pharmaindustrie ist nicht die Caritas. Es kommt aber noch eines hinzu: Man erfährt vor allem davon, wenn etwas schiefläuft. „Das Antibiotikum hat Herrn Huber von der Pneumonie geheilt“ ist halt keine Schlagzeile.

Die Schulmedizin ist generell in Misskredit geraten?

Kastner: Ja, nicht zuletzt durch die ganze Esoterik. Wozu die Ärztekammer allerdings auch ein Scherflein beigetragen hat, indem sie zum Beispiel ein Fortbildungscurriculum Homöopathie angeboten hat. Da hätte man auch gleich noch „Handauflegen und Gesundbeten“ dazunehmen können. Der Hausarzt, der alles über seine Patienten gewusst hat, ist auch verschwunden. Aber klar, wenn der alleine dasitzt und ihm die Leute die Ordi einrennen, kann er sich nicht für jeden eine Stunde Zeit nehmen.

Der Arzt als Autorität hat abgedankt?

Kastner: Nicht nur der Arzt. Die gewiss auch fragwürdige Autoritätshörigkeit von seinerzeit ist ins Gegenteil umgeschlagen: Den obergscheiten Eliten glaubt man von vornherein einmal gar nichts. Unlängst habe ich mit einem Kollegen gesprochen, der eine Corona-Informationsveranstaltung für Lehrlinge gemacht hat. Er hat die allerdings nach einer Viertelstunde abgebrochen, weil er ansatzlos mit „Oida, schleich di, red kan Schas!“ empfangen wurde. Der Mann ist 35.

In Ihrem Buch zitieren Sie den deutschen Psychiater Eduard Hitzig, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem „Querulantenwahnsinn“ befasst hat. Gibt es dieses Krankheitsbild noch?

Kastner: Ja. Und er hat das damals schon korrekt beschrieben: Was auch immer die Regierung tun wird, diese Wahnsinnigen wird sie nicht überzeugen können. Die Wissenschaft ist einfach nicht imstande, die Menschen von ihren „gefühlten Wahrheiten“ abzubringen.

Was macht das Wesen eines Querulanten aus?

Kastner: Das ist im Kern jemand, der aus seiner gefühlten Zu-kurz-Gekommenheit die Überzeugung entwickelt, dass die Welt ein grauenhafter Ort ist, in der er stets auf der Hut sein muss, weil er sonst immer und überall übervorteilt und über den Tisch gezogen wird. Alles, was ihm begegnet, nimmt er durch diesen Filter wahr. Meine Großtante Wilhelmine war die Gattin eines Rittmeisters und hat in Hietzing gewohnt. Das Beste war für sie gerade gut genug. Also haben ihre beiden Schwestern in der Nachkriegszeit, in der man ohnedies nichts gekriegt hat, ihr unter unglaublichen Mühen ein Kaschmir-Twinset besorgt. Als sie das Packerl aufmacht, bricht sie in Tränen aus: „Ihr wollt mir damit nur sagen, dass ich immer schlecht angezogen bin!“

Das ist ja wie ein Musterbeispiel aus Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“!

Kastner: Querulanten sind auch total unglückliche Menschen, weil alle Welt gegen sie ist. Und wenn sie dagegen ankämpfen, entwickeln sie sich zu einem Michael Kohlhaas …

… den Kleist als einen der „rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen“ beschreibt.

Kastner: Ja, natürlich gibt es Anlässe, wo wirklich etwas falsch gelaufen ist. Das passiert allen. Nur wissen wir, weise wie wir sind: „Shit happens“ – und gehen weiter. Wohingegen sich der Querulant hineinsteigert und völlig verrennt.

Und ignoriert, dass er vielleicht nicht ganz so gerecht und edel ist, wie er gerne wäre.

Kastner: Ja, weil das ein Mindestmaß an Selbstreflexion und -kritik voraussetzt. Das ist aber grad nicht sehr angesagt. Lieber geht man in Therapie, vorzugsweise zu jemandem, der einem die eigene Meinung bestätigt. Und wenn man nicht gleich „verstanden“ wird, kann man den Therapeuten ja wechseln, bis man endlich einen findet, der „passt“.

Im Zusammenhang mit der Pandemie ist viel vom Versagen der Politik die Rede. Das Wort „Eigenverantwortung“ kommt eher selten vor.

Kastner: So wie im Schulkontext seit längster Zeit auch immer nur die Lehrer oder Schulpsychologen schuld sind, wenn irgendetwas nicht hinhaut beim Kind. Aber niemand nimmt die Eltern als Erziehungsberechtigte in die Pflicht. Jetzt ist eben die Politik dafür verantwortlich, wenn sich die Menschen nicht informieren oder sich nicht mehr als Teil eines größeren Ganzen verstehen, für das sie auch mitverantwortlich sind.

Sie spielen auf die Situation in den Spitälern und den Intensivstationen an?

Kastner: Ja. Es ist kein Einzelfall, dass jemand eine dringend nötige Operation nicht bekommt und auch nie mehr bekommen wird, weil er oder sie inzwischen gestorben ist. Die Leute auf den Wartelisten sterben weg. Und dann meint eine Passantin im „ZiB“-Interview: „Ja, die Leute sterben halt. Das kommt vor.“ Ob sie das auch sagen würde, wenn sie selbst dringend ein Intensivbett bräuchte? Das Recht auf Leben ist das fundamentalste Menschenrecht. Wenn ich meine Freiheit, nicht geimpft zu werden, beanspruche, spreche ich anderen indirekt das Recht auf zeitnahe Behandlung und damit das auf körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben ab. Das ist brutal, egoistisch und wirklich nicht klug.

Apropos brutal: Was in letzter Zeit leider für Aufmerksamkeit gesorgt hat, sind die hierzulande sehr hohen Raten von Morden an Frauen. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen dafür?

Kastner: Wir haben hierzulande mehr Morde an Frauen als an Männern bei einer insgesamt sehr geringen Mordrate. Männer sterben eher bei eskalierenden Raufereien oder im Kontext von Banden- beziehungsweise organisierter Kriminalität, und davon gibt es in Österreich nicht sehr viel. Wir haben allerdings den gleichen Anteil an getöteten Frauen aus den überall üblichen Gründen. Wobei man auch sagen muss, dass die importierte Gewalt recht hoch ist: Der Ausländeranteil bei Femiziden liegt bei 30 Prozent. Die sind bei Morddelikten also deutlich überrepräsentiert. Aber natürlich bleibt immer noch ein gerüttelt Maß an Frauenmorden, die von „gestandenen Österreichern“ begangen werden.

Wobei man zu dem nunmehr sehr häufig verwendeten Begriff „Femizid“ vielleicht sagen sollte, dass das hierzulande keine legitime Praxis und etwas anderes ist als eine Steinigung in der Scharia?

Kastner: Es ist etwas anderes, aber das Endergebnis ist das Gleiche: Die Frauen sind tot. Und die Medien berichten über solche Fälle dann als „Familientragödien“ und sprechen davon, dass der Mann „die Trennung nicht verkraftet“ und „aus Verzweiflung“ seine Frau umgebracht hat … Hallo?! Ich kann das Gerede von der Verletzlichkeit der Männer nicht mehr hören. Er hat sich selbst ermächtigt, ihr das Leben zu nehmen. Das ist ein brutaler, meistens ein geplanter Mord. Und den soll man dann auch als solchen bezeichnen und nicht als „Familientragödie“ oder „Beziehungsdrama“.

Ich frage mich allerdings, an wen es sich richtet und was es bringt, sich einen „Stop Femicide“-Button an die Jacke zu pinnen?

Kastner: Gar nichts. Das ist ja nicht wie bei einem Karussell, wo man auf einen Knopf drücken kann und es hört auf, sich zu drehen. Man wird auch nie alle Frauenmorde verhindern können, weil ein Teil der Täter völlig unauffällig ist. Der Kitzbühler Fünffachmörder hat seine Freundin nie geschlagen, er hat sie nicht kontrolliert, war nicht einmal eifersüchtig. Er war bloß deutlich älter als sie und halt fad. Als sie etwas unternehmen wollte, ist er mit ihr in den Alpenzoo gegangen. Das ist vielleicht patschert, aber nicht böse. Solche Typen, die auf eine Trennung mit einer völlig radikalen Verwerfung reagieren, wird man nie rausfiltern können.

Es gibt aber genug andere, die davor schon auffällig geworden sind?

Kastner: Ja, klar. Das ist dasselbe wie bei der Brunnenmarkt-Geschichte (2017 erschlug ein psychisch kranker Kenianer eine Frau mit einer Eisenstange, Red.): Da hat es zig Hinweise gegeben, die von unterschiedlichen Polizeidienststellen bearbeitet wurden, aber keiner hat die gesammelt und sich angesehen. Diese unterlassene Vernetzung von Informationen und ausbleibende Auswertung ist zuweilen schlicht tödlich. Beim BKA gibt es eine total gute Gruppe, die nennt sich VHR, Victims at Highest Risk, die ganz sorgfältige und fundierte Risikoeinschätzungen durchführt. Die können allerdings auch nur die Fälle prüfen, die man an sie heranträgt.

Das Männerbild ist hierzulande jedenfalls noch ein recht archaisches?

Kastner: Mir scheint, dass es in letzter Zeit sogar Aufwind bekommen hat. Eine Partei wie die FPÖ ist zwar gegen Migranten, müsste aber eigentlich froh sein über die Zuwanderung, denn was das Frauenbild anbelangt, sind sie sich eigentlich einig: Die Frau soll zuhause bleiben und den Mund halten.

Und die tradierten Rollenbilder werden in der Familie weitergegeben?

Kastner: So ist es. Ich weiß persönlich von einem Fall, der sich vor drei, vier Jahren zugetragen und unter „gestandenen Österreichern“ abgespielt hat. Der Sohn einer Familie, von der man wusste, dass der Mann die Frau drischt, kam in die Volksschule, und da steht eine Frau Lehrerin. Was macht der Bub? Er geht zu ihr und sagt: „Du bist a Weib und schaffst mir gar nix an.“ Das, was er halt zuhause hört und vorgelebt bekommt.

Was ist dann passiert?

Kastner: Man würde annehmen, dass die Schule die Erziehungsberechtigten herbestellt und ihnen erklärt, dass das so nicht geht. Weit gefehlt. Man hat den Buben in eine Klasse mit einem Lehrer versetzt. Und solange solche Konflikte so geregelt werden, braucht man sich nicht groß zu wundern. Das mag in Wien-Neubau etwas anders sein, aber in weiten Teilen des ländlichen Raums ist Frauenverachtung immer noch alltäglich gelebte Realität.

Sie haben jahrzehntelange Erfahrung als Gerichtsgutachterin. Wie haben sich die Motivationslagen und die Art der Verbrechen im Laufe der Zeit verändert?

Kastner: Wie überall gibt es auch in der Kriminalität Modeerscheinungen beziehungsweise ist das Strafrecht auch immer Ausdruck der aktuellen gesellschaftspolitischen Verfasstheit. Der Tatbestand der beharrlichen Verfolgung, des Stalking, ist noch relativ jung. Das hat man früher halt einfach aushalten müssen. Es hat nicht einmal einen Namen gehabt.

Was meinten Sie mit „Modeerscheinungen“?

Kastner: Na, zum Beispiel, dass heute kaum jemand entführt wird. Man kann noch so wichtig und vermögend sein, aber man wird nicht mehr entführt. Das ist ja fast schon kränkend. Außerdem schreibt heute kein Mensch mehr anonyme Drohbriefe.

Mediziner und Wissenschaftler, die sich öffentlich für die Impfung aussprechen, müssen aber damit rechnen, Morddrohungen zu erhalten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Kastner: Wenn, dann kriegt man Mails und keine Briefe. Es ist sicher schon zehn Jahre her, dass ich ein ziemlich grausliches Mail erhalten habe, in dem man mir angekündigt hat, wie man mich gerne umbringen würde. Die Spur dazu hat sich bei einem Server in der Ukraine verlaufen. Aktuell erhalte ich keine Drohungen, sondern nur Beschimpfungen.

Auch nicht schön.

Kastner: Nein, aber if you can’t stand the heat, get out of the kitchen.

Klaus Nüchtern in Falter 49/2021 vom 10.12.2021 (S. 26)

Heidi Kastner im Standard-Interview mit Anna Giulia Fink ->

Bin ich das? 

Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft
Posted by Wilfried Allé Wednesday, December 29, 2021 5:34:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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von Valentin Groebner

ISBN: 9783103970999
Ausgabe: 1. Auflage
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 192 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 24.11.2021
Verlag: S. FISCHER
Preis: € 22,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was steckt eigentlich hinter dem neuen Zwang, sich zu zeigen? Mit viel Humor, Selbstironie und klugen Beobachtungen erzählt Valentin Groebner – »eine(r) der coolsten Geschichtswissenschaftler momentan überhaupt« (litera.taz) – seine kurze Geschichte der Selbstauskunft. Denn ob im Bewerbungsgespräch oder per Instagram-Account, bei der Teambildung oder im Dating-Profil: Ohne Selbstauskunft geht heute nichts. Sie ist sowohl Lockstoff als auch Pflicht, steht für Reklame in eigener Sache und das Versprechen auf Intensität und Erlösung, in den Tretmühlen der digitalen Kanäle ebenso wie in politischen Debatten um kollektive Zugehörigkeit.Doch wie viel davon ist eigentlich Zwang, und wie viel Lust? Was haben wir, was haben andere vom inflationären Ich-Sagen und Wir-Sagen? Diesen Fragen geht Valentin Groebner auf der Suche nach dem Alltäglichen nach. Er zeigt, was historische Beschwörungen der Heimat mit offenherzigen Tattoos gemeinsam haben, und was den Umgang mit alten Familienfotos und demonstrative Rituale des Paar-Glücks (Stichwort Liebesschlösser an Brückengeländern) verbindet. Doch ist öffentliche Intimität wirklich die Währung für Erfolg – oder eine Falle? 
 

Falter-Rezension

Muss ich alles über mich preisgeben?

Geheimnisse sind out, Offenheit ist Pflicht -als Bürger, Liebende und natürlich Teilnehmende an der schönen neuen Medienwelt. Wie kam das und tut uns das überhaupt gut?, fragt Valentin Groebner in "Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft". Groebner lehrt als Professor für Allgemeine Schweizer Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern und legte populäre Bücher über Geschichtstourismus, die Geschichte des Gesichts oder über Wissenschaftssprache vor.

"Bin ich das?" widmet sich in acht kurzweiligen Kapiteln der Crux, die darin liegt, sich individuell zu geben und doch nicht unangenehm aufzufallen. Ich zu sagen, meint Groebner, sei weder unmittelbar noch persönlich, sondern bestimmt von "rhetorischen Kunststücken, Zwangssystemen und Projekten radikaler Selbstverbesserung". Die Ich-Auskünfte kämen zwar locker und spontan daher, würden aber genauen Spielregeln folgen. Da ihnen niemand entkommen könne, ohne sich verdächtig zu machen, fielen sie in die Kategorie "freiwillige Unfreiwilligkeit".

Zu den stärksten Passagen des Buches gehören die Reflexionen über seine eigene Biografie. Aufgewachsen in einem Döblinger Gemeindebau, fühlt Groebner sich, obwohl seine Eltern Akademiker sind, in den Villen der höheren Töchter und Söhne kaum geduldet. Auch im Schweizer Bürgertum lernt er diesen Distinktionswillen kennen und begreift: Das Ich definiert sich nicht selbst - es wird von den anderen etikettiert.

Die letzten Kapitel dieses launig geschriebenen und gut zu lesenden Buches handeln von Fotos als Erinnerungsmaschinen und von Tattoos als den verzweifelten Versuchen, sich selbst mit Zeichen der Vergangenheit zu versehen.

Am Schluss bezieht Groebner auch die aktuelle Covid-19-Pandemie mit ein. An der moralischen Erregungs- und Befürchtungsgemeinschaft, die Angst in Rechthabenwollen umwandelt, möchte er lieber nicht teilnehmen. Stattdessen empfiehlt er, Unklarheiten ertragen zu lernen. Auch darüber, wer man selbst ist.

Kirstin Breitenfellner in Falter 51-52/2021 vom 24.12.2021 (S. 49)

Salonfähig 

Roman
Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 8:26:00 PM Categories: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
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von Elias Hirschl

ISBN: 9783552072480
Genre: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 23.08.2021
Verlag: Zsolnay, Paul
Preis: € 22,70

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Was, wenn man sich ein perfektes Leben wie eine zweite Haut über­ziehen könnte? Will­kommen bei Austrian Psycho
Stundenlang übt er vor dem Spie­gel seinen Gang, sein Lächeln, seine Art zu sprechen. Julius Varga, der Partei­chef, ist das ganz große Idol des namen­losen Er­zäh­lers. „Ich gebe mich für dich auf, Julius. Ich liebe dich.“ In seiner Ab­wesen­heit gießt er seine Zimmer­pflan­zen, als ob dies ein Staats­akt wäre. Auf einer unteren Ebene dient der Er­zähler der Par­tei und eifert seinem Vor­bild nach. Er ist be­ses­sen von Mar­ken und Äußer­lich­keiten und der Äs­the­tik von Ter­ror­an­schlä­gen. Elias Hirschls neuer Ro­man ist ein großer Wurf und ein Ver­gnü­gen. Das wahn­wit­zige Por­trät der Gene­ra­tion Slim Fit: jung, schön, in­tel­li­gent, reich, ober­fläch­lich und brand­ge­fähr­lich.

3 Fragen von Bettina Wörgötter an Elias Hirschl

Herr Hirschl, was fasziniert Sie an der Generation Slim Fit, die Sie in Ihrem Roman "Salonfähig" porträtieren?

Die Generation der Slim-Fit-Politiker drückt für mich eine Art Zu­spit­zung und Per­fek­tio­nie­rung der po­li­ti­schen Rhe­to­rik aus. Ich stell mir das gern wie beim Ski­sprin­gen vor, wo zu Be­ginn noch ver­schie­den­ste Sprung­tech­ni­ken aus­pro­biert wor­den sind, da wurde mit den Armen ge­ru­dert, an­ge­legt, ab­ge­spreizt, bis sich schließlich eine einzige Sprungtechnik durchgesetzt hat, die dann nur noch verfeinert und perfektioniert wurde. Wie beim Skispringen werden die politischen Pro­ta­go­nis­ten im­mer jün­ger, ihre Kampf­an­züge werden im­mer aero­dy­nami­scher und ihre Aus­drucks­weise ver­engt sich auf einen sehr spezi­fi­schen, schma­len Rhe­to­rik­stil der völ­lig ent­leerten Phrasen­dre­sche­rei, durch den jedes echte Ge­spräch schon im An­satz ver­hin­dert wird. Und die Tat­sache, dass letzt­end­lich keine poli­tisch inter­es­sier­ten Men­schen an der Spitze lan­den, son­dern nur noch die­je­ni­gen, die die­sen spezi­fi­schen Stil der leeren Rede am besten be­herr­schen, die keine ein­zige inter­essante Idee her­vor­brin­gen, aber die Kunst der Be­we­gung per­fek­tion­iert ha­ben, fas­zi­niert mich und macht mir auch ziem­liche Angst. Da fehlen im Grunde nur noch die Spon­soren­logos auf der Kra­watte.

Was fasziniert Sie an Maskulinität?

Im Buch wird toxische Männlichkeit auf ver­schie­dene Ar­ten ge­schil­dert. Vor allem die hie­rar­chi­schen Struk­turen in der Jungen Mitte und der Mut­ter­par­tei Mitte Öster­reichs sind stark pa­tri­ar­chal ge­prägt. Mich fas­zi­niert hier vor allem die­ses in­trin­sische Leis­tungs­den­ken, das je­den As­pekt der neo­libe­ra­len Po­li­tik durch­zieht. Der Mensch ist nur dann etwas wert, wenn er etwas aus ei­ge­nem An­trieb schaf­fen kann. Jeder Mensch de­fi­niert sich nur durch die ihm zu­ge­wie­sene Rolle, je­der be­misst seinen ei­ge­nen Selbst­wert an dem, was er leis­tet. Da­durch ent­frem­den sich alle Fi­gu­ren von­ei­nan­der, weil es nicht mehr um den Men­schen geht, son­dern nur noch da­rum, was man von einem Men­schen be­kom­men kann, wel­che Po­si­tio­nen, Kon­takte oder fi­nan­ziel­len Mit­tel man von je­man­dem be­kom­men kann. Damit ein­her geht auch die fal­sche Prä­mis­se, alle Men­schen hät­ten die­sel­ben Start­be­din­gun­gen und seien für ihr Schick­sal selbst ver­ant­wort­lich, wo­durch sich als Macht­haber an­ge­nehm jede Ver­ant­wor­tung von sich wei­sen lässt. Mich fas­zi­niert vor allem auch, wie die­ser Leis­tungs­wahn, der ja dem an­geb­lichen christ­lich-so­zi­alen Leit­ge­dan­ken der Par­tei völ­lig zu­wider­läuft, schließ­lich in einer Art para­reli­gi­ösen, ri­tuel­len Ver­ehrung die­ses omi­nö­sen Kon­strukts der „Leis­tung“ mündet, als wäre sie eine Art Gott­heit, zu deren Zweck alles ge­schieht.

Was fasziniert Sie an Satire?

Satire widersetzt sich der For­de­rung, eine Auf­gabe er­fül­len zu müs­sen, denn Kunst und Sa­ti­re sind ja, wie wir dank Coro­na wis­sen, nicht system­re­le­vant. Aber das Gute da­ran, nicht sys­tem­re­le­vant zu sein, ist, dass man auch nicht an spezi­fi­sche Er­war­tungen ge­bun­den ist. Sa­tire kann daher alles Mög­liche tun. Und was Sa­tire her­vor­ragend tun kann, ist, ver­steckte Struk­turen, vor allem Macht­struk­turen sicht­bar zu machen, und diese auf eine Art zu ent­lar­ven, dass sie et­was von ihrem Schrecken ein­büßen, dass man zu­min­dest da­rüber lachen kann. Salonfähig ist auch der Versuch zu zeigen, was vom politischen Menschen übrig bleibt, wenn man den Menschen heraus­schält und nichts als die rhe­to­ri­sche Struk­tur zu­rück­bleibt, und was vom Leis­tungs­den­ken zu­rück­bleibt, wenn man diese Idee auf die Spitze treibt und den Wert ei­nes Men­schen tat­säch­lich nur noch an sei­ner Pro­duk­ti­vi­tät be­misst. In bei­den Fäl­len bleibt letzten Endes nichts zu­rück als eine rei­ne Pro­jek­tions­fläche, los­ge­löst von je­der Emo­tion und je­der Mensch­lich­keit, un­fähig zu Mit­ge­fühl, Inter­es­se oder ech­ter An­teil­nahme.

Macht in weltweiten Lieferketten 

Eine Flugschrift
Posted by Wilfried Allé Saturday, December 18, 2021 4:33:00 PM Categories: Wirtschaft Wirtschaft/Internationale
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von Christoph Scherrer

ISBN: 9783964881243
Genre: Wirtschaft/Internationale Wirtschaft
Umfang: 96 Seiten
Format: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 17.12.2021
Verlag: VSA
Preis: € 10,30

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Lieferketten ist der wohl promi­nen­teste Be­griff, um die Struk­tur des Glo­bal Sour­cing, der welt­wei­ten Be­schaf­fung von Waren, zu be­schrei­ben. Er wird auch von der Bun­des­re­gie­rung für das An­fang Juni ver­ab­schie­dete Lie­fer­ket­ten­ge­setz ge­nutzt, das die Ein­hal­tung von Men­schen­rech­ten bes­ser re­geln soll. Der Au­tor kri­ti­siert, dass der Be­griff der Kom­plexi­tät von Macht­un­gleich­hei­ten und struk­tu­rel­ler Aus­beu­tung nicht ge­recht wird. Das spie­geln auch die un­ter­­schied­li­chen Theo­rie­kon­zepte wider, die, so Chris­toph Scher­rer, meis­tens spezi­fi­sche Macht­­as­pek­te fo­kus­sieren, ohne die Wechsel­be­zie­hungen zu be­rück­sich­tigen.
Der Autor ergänzt daher all­ge­mein­gül­tige Macht­ana­ly­sen durch Über­le­gun­gen für spezi­fi­sche Kon­texte. Am Bei­spiel klein­bäuer­licher Be­triebe zeigt er, wer am we­nigs­ten von der Ar­beits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer daran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.
Er liefert damit zugleich eine theo­re­ti­sche Grund­lage, mit der Leser:in­nen die Macht­be­zie­hungen welt­wei­ter Lie­fer­ket­ten bes­ser ver­ste­hen und auch die Wirk­mäch­tig­keit des im Juni 2021 ver­ab­schie­deten Lieferket­ten­ge­setzes bes­ser ein­ord­nen können.
Die Flugschrift soll dazu bei­tragen, die täg­lichen und sys­te­mi­schen Men­schen­rechts­ver­let­zungen bei ­denen, die in glo­ba­len Pro­duk­tions­netz­wer­ken ­ar­bei­ten müssen, zu über­winden.

Zusammenfassung

Die Fragilität globaler Liefer­ketten ist wäh­rend der Pan­de­mie und durch die Blockade des Suez­ka­nals be­son­ders deut­lich ge­worden. Zu­gleich sind sie »Aus­beutungs­ket­ten«, in denen Macht­be­zie­hungen ab­ge­bil­det sind. Christoph Scherrer zeigt, wie Macht in Pro­duk­tions­netz­wer­ken durch­ge­setzt wird, wer am we­nigs­ten von der Arbeits­tei­lung im Glo­bal Sourcing pro­fi­tiert, wer da­ran ge­winnt – und wie es dazu kom­men kann.

Tipps für Verbraucherinnen und Verbraucher

Einkaufskorb mit Fairtrade-Produkten

Jede und jeder kann dazu bei­tragen, dass unsere Welt ge­rech­ter wird. Fair und nach­hal­tig zu leben be­deu­tet, sich die Fol­gen seiner Lebens- und Kon­sum­ge­wohn­heiten be­wusst zu machen und ver­ant­wor­tungs­voll zu han­deln.

Nachhaltigkeit ist dabei nicht nur auf öko­lo­gische As­pekte be­schränkt – sie hat eben­so wich­tige wirt­schaft­liche, sozi­ale und poli­ti­sche Dimen­si­onen. Hel­fen Sie mit, dem Ideal einer ge­rech­ten und nach­hal­ti­gen Welt ein Stück näher­zu­kom­men! Zum Bei­spiel indem Sie fair ein­kau­fen, fair reisen oder ihr Geld fair an­legen.

Nähere Informationen dazu finden Sie hier  ->

Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom 

Posted by Wilfried Allé Friday, December 17, 2021 8:42:00 PM Categories: Kinder- und Jugendbücher
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von A. E. Hotchner

ISBN: 9783836960731
Genre: Kinder- und Jugendbücher/Kinderbücher bis 11 Jahre
Umfang: 256 Seiten
Format: Hardcover
Erscheinungsdatum: 28.06.2021
Verlag: Gerstenberg Verlag
Empf. Lesealter: ab 10 Jahre
Übersetzung: Anja Malich
Illustrationen: Tim Köhler
Preis: € 16,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

St. Louis inmitten der Weltwirtschaftskrise. Der zwölfjährige Aaron Broom muss mit ansehen, wie nach einem Überfall auf ein Juweliergeschäft sein Vater in Handschellen abgeführt wird. Dabei wollte sein Pop, ein Uhrenvertreter, dort doch bloß seine neueste Kollektion vorführen! Aus seinen Lieblingsbüchern weiß Aaron genau, dass er den wahren Täter nun auf eigene Faust „detektivieren“ muss, wenn er will, dass sein Pop wieder freikommt. Von unverhoffter Seite bekommt er Hilfe: von Ex-Boxer und Hauswart Vernon, von Augie, dem Zeitungsjungen an der Ecke, von einem freundlich gesinnten Anwalt für Seerecht – aber er hat auch gefährliche Widersacher …

FALTER-Rezension

Vor 100 Jahren war die Welt nicht in Ordnung

Ein Kinderkrimi über die Weltwirtschaftskrise in den USA

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war gestern. Der amerikanische Autor und Journalist A.E. Hotchner starb im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren. Kurz zuvor hatte er mit 100 noch eine Detektivgeschichte verfasst, die in der Zeit der Großen Depression angesiedelt ist. Hotchner war während der Weltwirtschaftskrise selbst Kind und hat seine eigene Story bereits früher niedergeschrieben, Steven Soderbergh verfilmte sie als „Der König der Murmelspieler“. Auch „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ lebt von der unglaublich lebendigen Erinnerung des Autors an diese so schwierige wie turbulente Zeit. Atmosphäre und Ton stimmen einfach, Straßenslang inklusive.

Held der Geschichte ist der nicht ganz 13-jährige Aaron Broom. Nach einem Raub in einem Juwelierladen wird durch ein Missverständnis sein Vater inhaftiert, wo der doch nur harmloser Vertreter für Uhren ist. Aaron ergreift gleich die Initiative. Zum einen hat er genug einschlägige Bücher verschlungen, um zu wissen, wie er „detektivieren“ muss, damit der wahre Schuldige gefasst wird. Unterstützung erhält er außerdem von einem Zeitungsjungen, einem Hausmeister und einem ehemaligen Boxer. Die kann er auch gebrauchen, bekommt er es doch mit üblen Zeitgenossen zu tun. Eine packende und zugleich berührende Geschichte, die nebenbei historisches Wissen vermittelt.

Sebastian Fasthuber in Falter 42/2021 vom 22.10.2021 (S. 29)

Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2021

Der Junge, der detektiviert
Ein Krimi aus der großen Depression in Amerika
Dass manch Hundertjähriger ungewöhnliche Eskapaden unternimmt, weiß man seit Jonas Jonassons Romanen. Dass jemand mit 99 Jahren eine Detektivgeschichte wie „Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom“ schreibt, bei deren Lektüre Emil Tischbein bleich geworden wäre, das ist allerdings besonders.
Der Krimi spielt Anfang der Dreißigerjahre in St. Louis, mitten in der Zeit der Großen Depression. Der Autor dieser Geschichte, der offensichtlich mit großer Empathie und Kenntnis in die Rolle seines jugendlichen Helden Aaron („fast dreizehn“) schlüpft, ist der US-amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor A.E. Hotchner, der im Februar 2020 im Alter von 102 Jahren starb. Seine Geschichte beruht auf dem Roman seiner Kindheit, „King of the Hill“ (Der König der Murmelspieler), den Steven Soderbergh 1993 verfilmte. Hotchner wurde unter anderem durch Biografien von Ernest Hemingway und Paul Newman bekannt.
Aaron ist ein aufgewecktes, wissbegieriges Bürschchen, ein guter Schüler und Sportler, und er blickt stets optimistisch in die Zukunft. Und das, obwohl seine Mutter in einem Sanatorium liegt und sein Vater, ein polnisch-jüdischer Emigrant, in der Krise sein Geschäft verlor und sich nun erfolglos als Handelsvertreter abmüht. Aaron ist mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen, um zu überleben. Alles wird noch schlimmer, als der Junge Zeuge eines Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft wird und sein Vater in Untersuchungshaft gerät. Der Sohn versucht sich über Wasser zu halten und gleichzeitig die Hintergründe des Verbrechens aufzuklären. Er, der Icherzähler, „detektiviert“ – wie er es in der stilsicheren Übersetzung von Anja Malich nennt. Das erinnert ans Berliner Milieu von Emil Tischbein und seinen Freunden um Gustav mit der Hupe. In Hotchners Roman unterstützt ein flinker Zeitungsjunge den Teilzeitdetektiv. Um die beiden herum gruppiert sich eine kleine Gruppe von Helfern. Hotchners wichtigste, in die Handlung verwobene moralische Botschaft: Wenn sich eine solch katastrophale Situation überhaupt überwinden lässt, dann nur mit der Solidarität anderer Menschen und einem Grundgefühl von Geborgenheit und Vertrauen. Allerdings ist das vom Autor gewählte Großstadtmilieu brutaler als das in Kästners Kinderkrimi. Da fallen Schüsse, da kippen Bösewichter um, bevor sich die Verhältnisse klären.
Hotchners Geschichte ist im sympathischen Sinn altmodisch erzählt, mit viel Liebe zu kleinen Details und nicht nur im Schwung von einer Aktion zur nächsten. Gerade dadurch gewinnt das Milieu fassbare Konturen, in dem sich redliche arme Menschen, Glücksritter und Kriminelle begegnen. Die realistischen Schwarzweiß-Illustrationen von Tim Köhler unterstreichen diesen Eindruck noch. (ab 12 Jahre)
SIGGI SEUSS
A. E. Hotchner: Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom. Mit Illustrationen von Tim Köhler. Aus dem Englischen von Anja Malich. Gerstenberg 2021.
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