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Politik der Emotion 

von Olga Flor
Posted by Wilfried Allé Wednesday, March 21, 2018 9:01:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Ein engagiertes Plädoyer für eine Politik, die Fakten diskutiert und nicht Stimmungen instrumentalisiert
Aus der Reihe „Unruhe bewahren“ in Kooperation mit der Akademie Graz, dem Literaturhaus Graz und DIE PRESSE.
Mit intellektueller Präzision und Radikalität bezieht Olga Flor Position gegen jene populistische Stimmungsmache, die sich derzeit so gerne als Vertretung der gefühlten Mehrheitsmeinung eines schwammig definierten Volkskörpers ausgibt. Diese „Politik der Emotion“ benutzt berechtigte Ängste, anstatt ihre realen Ursachen zu analysieren. Die zunehmende Unüberschaubarkeit der Ökonomie und die wachsende Informationsdichte dienen ihr als Nährboden, vereinfachte Schuldzuweisungen und „Bauchgefühle“ sind ihr ideologisches Kapital. Dagegen setzt Olga Flor die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses, der Widerspruch zulässt und vor der Komplexität der Fakten nicht zurückschreckt, der Aufklärung will und nicht Vernebelung von Tatsachen.

Preis:
€ 18,00
Verlag: Residenz
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 88 Seiten
Erscheinungsdatum: 23.01.2018

 

Rezension aus FALTER 12/2018

„Der ,freie‘ Markt erledigt das nicht!“

Die Schriftstellerin Olga Flor findet, dass der Neoliberalismus genug zerstört hat. Weniger privat, mehr Staat!

Der Falter vom 22. Februar 2017 wird als Symptomquelle herangezogen. Olga Flor scannt die „Kleinanzeigen eines österreichischen Wochenblatts, das sich durchaus schmückt mit den Insignien der Urbanität, Aufklärung, Recherchequalität, Ironie“ und findet dort AstroCoaching, Selbstliebe-Training, Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Holomantische Energie- und Gedankenarbeit oder Intime Körperarbeit für Genießerinnen und Menschen auf dem Weg dorthin – „also Menschen auf dem Weg zu den Genießerinnen, wie man annehmen darf?“
Gegen dergleichen esoterische Rückzugsbestrebungen und den „Wunsch nach Wohlgefühl, Wärme, Weichheit“ wäre, so die Schriftstellerin, „ja auch nichts weiter einzuwenden, solange die Beschäftigung mit dem eigenen, naturgemäß etwas begrenzten Selbst nicht alle Ressourcen frisst, solange sie die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ergänzt und nicht an deren Stelle tritt“.
Flor hat das nun in einem in der sehr ansprechend gestalteten Reihe „Unruhe Bewahren“ bei Residenz erschienenen Essay (zunächst in der unter dem nämlichen Titel laufenden Vorlesungsreihe an der Akademie Graz) formuliert. Es ist ein knapp gehaltener, kurzweiliger und auf zahlreiche interessante Details zoomender Panoramaschwenk über die Verwerfungen in der politischen Landschaft der Gegenwart: Trumps „Twittergewitter“ werden ebenso bedacht wie die Politik mit Angst und Neid oder die Krise der Rationalität, sprich: des argumentbasierten Diskurses im Zeitalter der permanenten Gekränktheitsbereitschaft.
„Freiheiten können auch unter formal demokratischen Bedingungen (…) sehr schnell verschwinden, wenn der Glaube an ihren Wert in größeren Teilen der Bevölkerung erst dahin ist“, schreibt Flor zu Beginn des Kapitels „Market Demands“, das sich mit der „Marktnachfrage“ als Letztbegründung für alles und jedes beschäftigt. Als Beispiel führt sie die Türkei nach dem Putschversuch im Jahr 2016 an. Angesichts der politischen Vorgänge in Österreich, zuletzt der Hausdurchsuchung im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), kann man das Augenmerk aber ruhig aufs eigene Land richten.
Im Abspann dankt Olga Flor Josef Haslinger für die Erlaubnis, den Titel verwenden zu dürfen. Sie hätte nicht nachfragen müssen, aber Haslingers Österreich-Essay „Politik der Gefühle“, der seinerzeit in Reaktion auf die Wahl von Kurt „Ich habe nur meine Pflicht getan“ Waldheim zum Bundespräsidenten erschien, ist natürlich nicht weit entfernt. Haslinger bemerkt darin unter anderem, dass „die klassische Agitation“, mit der die Politik die Emotionen ihrer Adressatinnen und Adressaten für deklarierte Ziele und Zwecke mobilisiert, in Misskredit geraten sei. Die von ihm beschriebene „Politik der Gefühle“ hingegen funktioniere genau andersrum: „Es ist die Strategie einer prinzipiellen Standpunktlosigkeit. Der Werber bewegt sich selbst, umschmeichelt den Umworbenen, hält ihn in gegebenen Gefühlswelten fest und bestätigt diese. Deren Abkunft interessiert ihn nicht, nur deren Ausdruck.“
1987, als der Essay erschien, war Sebastian Kurz ein Jahr alt. Er scheint die „Politik der Gefühle“ mit der Muttermilch aufgesogen zu haben.

Falter: Können wir vielleicht gleich zu Beginn ein Missverständnis ausräumen?
Olga Flor: Wenn es geht. Welches?

Dass Emotionen böse sind und in der Politik nichts verloren haben.
Flor: Natürlich muss man Emotionen sehr ernst nehmen, es ist aber auch Aufgabe der Politik, sich mit den Lebensumständen und Tatsachen zu befassen, die ihnen zugrunde liegen.

Apropos Tatsachen: Sie schreiben einmal vom „nostalgischen Begriff der Faktizität“.
Flor: Genau, in einem Stoßseufzer: „Ach, was waren das noch für faktische Zeiten damals!“

Wobei in der „postfaktischen“ Epoche … 
Flor: … die Emotionen als solche schon Argument genug sind. Das „Wir fühlen uns gekränkt“ oder „Wir sind wütend“ gilt schon als Begründung und Rechtfertigung. Hier wird ein Wir-Gefühl als Abgrenzung von „den anderen“ erzeugt. Und das Andere schlechthin sind derzeit die Asylsuchenden. Wenn es die nicht gäbe, würde sich aber schon wer anderer finden.

Basiert letztendlich nicht jedes „Wir“ auf einer Abgrenzung?!
Flor: Tut es das? Ich denke, jeder Wir-Begriff ist fluide und kann entsprechend offen sein. Nur aus aktuellem Anlass: Ich kann – gemeinsam mit Gleichgesinnten, die sich dann als ein „Wir“ definieren – für oder gegen das Rauchverbot sein, ohne „die anderen“ aggressiv als „böse“ zu markieren. Die haben eben andere Interessen. Problematisch wird es, wenn man auf einer diffusen Wir-Identität eine Politik gründet.

Aber gibt’s dazu überhaupt eine Alternative? Die Krise etwa der europäischen Sozialdemokratie hat doch damit zu tun, dass sie ein glaubhaftes „Wir“ nicht anzubieten hat?
Flor: Das Problem besteht hier aber weniger in einem mangelnden Wir-Begriff, sondern darin, dass sich die Sozialdemokratie schon mit Tony Blair ganz dem neoliberalen Konzept verschrieben hat.

Ob die Besinnung auf „alte Werte“ und traditionelle Wählerschichten reicht, ist allerdings sehr die Frage.
Flor: Die Sozialdemokratie hat den Fundamentalfehler gemacht, zu übersehen, dass sich die Arbeitswelt ändert. Ich zum Beispiel war am Anfang meiner Berufskarriere in den 90er-Jahren eine klassische neue Selbstständige, nicht sozial- und mit Ach und Krach krankenversichert, von Mutterschutz keine Rede. Leute wie ich sind von den Gewerkschaften behandelt worden, als wären sie der Inbegriff des Klassenfeinds, und die Sozialdemokratie hat so getan, als wäre der vollzeitbeschäftigte Metallarbeiter noch immer ihr Hauptadressat. Damit hat sie aber nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen den Zug der Zeit verpasst: Unlängst stand in der Süddeutschen Zeitung, dass Beschäftigte in der Pflegebranche nach dreijähriger Ausbildung in Deutschland 2600 Euro verdienen, wohingegen das Einkommen eines Arbeiters oder einer Arbeiterin in der Metallindustrie deutlich mehr als das Doppelte beträgt. Man hing da viel zu lange einem nostalgischen Bild an. Das ist sicher keine unterprivilegierte Gruppe mehr, was auch damit zusammenhängt, dass die Angestellten der Metallbranche gewerkschaftlich organisiert sind.

Wogegen sich ja nichts sagen lässt.
Flor: Natürlich nicht, im Gegenteil. Die Gewerkschaften hatte Margaret Thatcher nicht grundlos als Feindbild identifiziert, das es zu zerschlagen galt. Und deswegen ist es ja auch ein Hauptanliegen des Neoliberalismus, so etwas wie gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern und die Idee in die Köpfe zu pflanzen, dass jeder und jede ganz alleine für sich und das eigene Scheitern verantwortlich sei.

Ist die Wut des vielzitierten Arbeiters aus dem „Rust Belt“ nicht auch verständlich oder zumindest nachvollziehbar?
Flor: Da geht es, wie der Wahlkampf von Trump auch gezeigt hat, doch auch darum, dass die privilegierte Stellung des weißen, heterosexuellen Mannes nicht mehr so selbsterklärend selbstverständlich ist wie in den 50er- und 60er-Jahren.

Apropos Trump: Ist es nicht die entscheidende Frage, warum Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen?
Flor: Sie können mich jetzt eine Bildungsnostalgikerin schimpfen, aber ich bin schon der Auffassung, dass es unterlassen wurde, Menschen in ausreichendem Maß in die Lage zu versetzen, die politischen Gegebenheiten zu analysieren. In der Hinsicht scheint mir auch die Aufrechterhaltung des sogenannten „differenzierten“ Schulsystems in Österreich mit einer frühzeitigen Trennung der Kinder als absolut kontraproduktiv. Ich glaube allerdings, dass diese Sortierung nach sozialer Herkunft durchaus gewollt ist. Man sollte die Bildung aber nicht dem Privatfernsehen überlassen. Ich hatte in letzter Zeit während mehrerer Krankenhausaufenthalte die Gelegenheit, das diesbezügliche Angebot genauer zu studieren. In den permanent laufenden Verkaufs-, Hochzeits-, Dating- und Beautyshows wird vor allem Frauen das Gefühl vermittelt, nicht zu genügen, und als „Trost“ wird die Einsicht angeboten, dass es anderen noch schlechter geht. Da geht es um eine vermeintliche Aufwertung des eigenen Ichs auf Kosten anderer, wie man sie überall beobachten kann. Den ohnehin schon Benachteiligten wird dann das Zuckerbrot der Herabwürdigung anderer angeboten. Statt Verteilungsgerechtigkeit gibt es eine „Nivellierungsgerechtigkeit nach unten“.

Auch das fügt sich in das Muster der „Privatisierung“ dessen, was früher einmal mehr oder weniger selbstverständlich öffentliche Angelegenheit und Sache des Staates war.
Flor: Ja, wobei hier in Österreich geradezu nach Lehrbuch vorgegangen wird: Zuerst die Desavouierung der freien Presse, dann ein „Sicherheitspaket“, dann der Versuch, den Verfassungsgerichtshof umzufärben. Dass ein Staat mit Steuergeldern ein Bildungs- oder Gesundheitssystem für alle zu gewährleisten hat, ist eine Idee, die immer stärker in Misskredit gerät. Es sei denn, es geht um die Erhaltung der Straßen – die wurde noch von keinem Rechtspopulisten infrage gestellt.

Wäre es nicht notwendig, Standards des Wohlstands zu definieren? Dinge, die wirklich jedem zustehen. Es ist doch absurd, dass in einer Gesellschaft, die moderne Computertechnologie als selbstverständlich betrachtet, Empörung darüber herrscht, dass Geflüchtete über Smartphones verfügen?
Flor: Ja. Das ist wieder genau dieses auf Neid und Ausgrenzung basierende Wir-Gefühl, das ich kritisiere. Deswegen bin ich auch der Auffassung, dass es Aufgabe der Politik ist, Plattformen einzurichten und anzubieten, wo sich Menschen real begegnen und miteinander diskutieren. Das wäre auch ein probates Mittel, um der von den sozialen Medien beförderten „Blasenbildung“ entgegenzuwirken, die dafür sorgt, dass man nur noch Menschen begegnet, die die eigene Meinung teilen. Wenn sich die Stadt Graz für die Olympischen Winterspiele bewerben möchte – was ich für eine Schnapsidee halte, weil sich damit noch jede Stadt ruiniert hat –, wäre es doch sinnvoll und nötig, das vor der Bewerbung mit und in der Bevölkerung breit zu diskutieren.

Was also sollte die Politik Ihrer Meinung nach tun?
Flor: Man muss in der Tat versuchen, mithilfe der guten alten Umverteilung, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen – und das auch vermitteln. Und man muss versuchen, das Konzept der Exklusion durch Angebote der Teilhabe zu ersetzen. Der „freie“ Markt erledigt das nicht. Die Pflege von alten oder kranken Menschen etwa ist auf Basis eines durchschnittlichen Einkommens auf legalem Wege einfach nicht zu gewährleisten. Also kann man sich nicht mit der typischen hingeschummelten österreichischen Lösung begnügen, sondern muss das Problem einmal ganz klar benennen und eine realistische staatlich finanzierte Lösung finden. Es kann ja nicht sein, dass man für die Heimpflege mehr zuschießt als für eine, die zu Hause stattfindet. Es darf auch nicht sein, dass die pflegenden Angehörigen unter der Last zusammenbrechen.

Die türkis-blaue Regierung hat demnächst die ersten hundert Tage hinter sich, wie fällt Ihre Einschätzung aus?
Flor: Sebastian Kurz wird die ständigen Ausflüge einiger FPÖ-Politiker in Richtung des ultrarechten Spektrums nicht ewig beschweigen können, ohne sich lächerlich zu machen. Als Bundeskanzler trägt er die Verantwortung dafür, dass solche Personen Schlüsselstellen in Politik und Verwaltung übernommen haben. Ist die martialisch inszenierte Hausdurchsuchung und Beschlagnahmung von behördliche Unterlagen im BVT als Einschüchterung gedacht oder sind das schon die heftigen Vorwehen von etwas, worüber man sich „noch wundern“ wird? Oder vielleicht wundert man sich gar nicht, vielleicht ist es genau das, was zu erwarten war.

Klaus Nüchtern in FALTER 12/2018 vom 23.03.2018 (S. 34)

Wurzeln 

Die trügerischen Mythen der Identität
Posted by Wilfried Allé Thursday, March 15, 2018 12:12:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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von Maurizio Bettini

Ein heilsames Vademecum gegen die Leitkultur- Debatte, eine kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Missbrauch von Tradition und Geschichte.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von unseren »Wurzeln« sprechen? In unsicheren Zeiten beschwören wir (statt der Zukunft) gern Geschichte und Tradition, unser kulturelles Erbe, die gemeinsame Identität. Doch Bilder und Metaphern sind keineswegs unschuldig. Mit dem der »Wurzeln« – so Bettini – drücken wir aus, dass unsere Welt so bleiben soll, wie sie ist. Wir wehren uns gegen Wandel und grenzen uns von anderen ab, deren eigenen kulturellen Wurzeln wir keineswegs dieselbe Wertschätzung entgegenbringen.
Die Metapher suggeriert etwas Naturgegebenes, im wahrsten Sinne »Fundamentales«, eine quasi automatische Zugehörigkeit. Dabei wissen wir eigentlich, dass auch unsere Kultur wie alle anderen durch Aneignung, Wandel und Vermischung mit fremden Einflüssen entstanden ist; dass die vielzitierte kollektive Erinnerung oft nicht mehr ist als persönliche Nostalgie.
Mit funkelnder Ironie umkreist Bettini die vielen Spielarten unserer neuen identitären Obsession: von wiederentdeckten, wenn nicht gar erfundenen Traditionen bis zur Inflation von Gedenktagen, vom Kult der Authentizität und Ursprünglichkeit bis zur Idealisierung von Großmutters Küche. Maurizio Bettini, geb. 1947, lehrt als Professor für klassische Philologie an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Mythologie und Anthropologie und schreibt regelmäßig für »La Repubblica«.
Wurzeln
 
Preis: € 16,50
Übersetzung: Rita Seuß
Verlag: Kunstmann, A
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 14.02.2018


Rezension aus FALTER 11/2018

Verabsolutierung des Eigenen und Provinzialismus

Wurzeln: Maurizio Bettini legt ein Plädoyer gegen identitäre Bewegungen und für die freie Gesellschaft vor

Die Figur auf dem Buchumschlag macht schon klar: Wurzeln sind dem Autor nicht geheuer. Sie wachsen dem Menschen auf dem Cover aus den Füßen beziehungsweise ist er durch sie mit dem Boden verwurzelt und muss wie ein Baum an Ort und Stelle stehen. Wurzeln beengen – lautet die These von Maurizio Bettini. Sie schmälern unseren Blick auf die Gegenwart, auf die kulturelle Vielfalt, auf unsere Freiheit, Ungebundenheit und unsere Möglichkeiten. Er sieht die pluralistische Gesellschaft in Gefahr, wenn neue Bewegungen Begriffe wie „Identität“ oder „Wurzeln“ von Rechtsaußen okkupieren und über Nationalstaatliches stülpen.
In Deutschland wurde der Begriff „Heimatministerium“ salonfähig, und die FPÖ forderte ein „Heimatschutzministerium“. US-Präsident Trump rief protektionistisch „America first!“ und es ging um die christlichen Wurzeln, die wieder heraufbeschworen wurden. Italien, Polen und Irland wollten sie in der Präambel einer europäischen Verfassung verankern, die allerdings nicht zustande kam. Gleichzeitig leben wir in einer mobilen globalen Gesellschaft. Nie zuvor gab es so viel Anknüpfung und Bezugspunkte zu anderen Kulturen. Ganz ohne Verlust der persönlichen Identität bereichern uns diese Erfahrungen und schärfen den Blick sowohl auf Gewohntes als auch auf Neuartiges.

Dass Identität schwer zu definieren ist, verleiht der Metapher der Wurzel ihre Popularität, mag sie auch noch so abgedroschen sein. Wurzeln sind ein sprachliches Bild, das eine Tradition und die daraus abgeleitete Identität als biologisches Schicksal oder unvermeidliches Erbe beschreibt. Aber Tradition ist keine genetische Anlage, die sich mechanisch von einer Generation zur nächsten überträgt, meint Bettini, sondern wird Schritt für Schritt aufgebaut.
Geht es nach ihm, so sind Muster rekonstruiert und erlernt: mit der Schrift verbreitet, mit Sprache und Tracht zur Schau gestellt und besonders im Bereich der Kulinarik verklärt.
Dabei ist der Apfel quasi ein Integrationswunder aus Kasachstan, und die Marille kam aus Armenien zu uns. Der gebürtige Toskaner bringt aber natürlich das Beispiel Polenta. Er schont sich selbst nicht und relativiert an seinem eigenen Beispiel den nostalgischen Schleier, der ihm den Blick zurück trübt, wenn er sich an seine Jugend in Livorno erinnert.
Im italienischen Original, unter dem Titel „Radici. Tradizioni, identità, memoria“, ist sein Büchlein 2016 übrigens als eine Weiterentwicklung des Essays „Contro le radici“ (Gegen die Wurzeln, 2012) erschienen. Der kleine, feine Kunstmann-Verlag war auf der Suche nach interessanten Stoffen zum Thema Identität. Er hatte dazu zuletzt 2013 den Titel „Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“ des Belgiers Paul Verhaeghe im Programm. Bettinis Buch kam da gerade recht.

Der Professor für klassische Philologie lehrt an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Dementsprechend liefert er zuerst eine Begriffsklärung und warnt dann mit historischem Unterfutter vor dem Phänomen der sozialen Ausgrenzung. Den 19 knappen Kapiteln schließt sich ein übersichtliches, umfangreiches Quellenverzeichnis an.
Künstliche ethnische Zuschreibung und erfundene Tradition polarisieren und spalten die Gesellschaft. Das zeigt er nicht nur anhand von Beispielen aus der Antike. Besonders erhellend und erschreckend ist die Schilderung der Hintergründe des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi. Die imperialistischen Europäer projizierten Wurzeln und Unterschiede, wo vorher keine waren, und spalteten Ruandas Bevölkerung in zwei Gruppen – eine tragische und paradoxe Situation, die in Krieg mündete.
Bettini beruft sich auf den Schriftsteller Fernando Pessoa, wenn er Folgendes verdeutlicht: Wenn man das Eigene verabsolutiert, führt das immer zu Provinzialismus. Einerseits sind wir so geschichtsvergessen, dass wir, wie der Zeit-Kolumnist Harald Martenstein sagt, die Vergangenheit mit ihren Fehlbildungen ausradieren möchten. Andererseits verklären wir Vergangenes und gehen davon aus, dass wir ausgerechnet heute wissen, was die einzige Wahrheit ist.

Doch Kultur ist kein monolithischer Block. Sie verändert sich. Es geht nicht darum, etwas zu verleugnen, sondern mit ungetrübtem Blick zu sehen und für sich selbst zu definieren, wer man ist und welche Werte für einen gelten. Wer das plumpe Argument der Wurzeln vorschiebt, läuft Gefahr, sich mit reaktionärer Sicht zu erinnern, Vergangenes aufzuwärmen und zu überhöhen, was längst nicht mehr zeitgemäß ist, aber auch früher nicht die heute fantasierte Kraft besaß. Selbst Griechenland sei als einzige Wiege der Demokratie erst im Nachhinein in einer Art Heilsgeschichte (v)erklärt worden.
Als Basis für eine Leitkulturdebatte, die nicht an der Oberfläche bleibt, bietet sich Bettinis kluge Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung im Schlepptau von reaktionärer Idealisierung an. Er zerlegt abgedroschene Metaphern unter Berücksichtigung der Erkenntnisse von Etymologie, Biologie, Kulturgeschichte und Rhetorik. Und er betont, dass die gerne bemühte „Tabula rasa“ auch keine Option darstellt. Als Wappnung gegen populistische Vereinnahmung propagiert er das Grundgerüst der Werte der Aufklärung.
Eine zukunftsfähige Tradition beinhaltet für den Autor Menschlichkeit, Toleranz und Offenheit. Diese europäischen Werte kann man besser verteidigen, wenn der Blick nicht engstirnig und der Standpunkt nicht festgenagelt ist. Statt den Wurzeln schlägt er die Metapher des fließenden Stroms mit vielen Einflüssen aus Nebenflüssen vor, die die Identität im wahrsten Sinne „beeinflussen“.

Juliane Fischer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 35

Liebe in Zeiten des Kapitalismus 

Unsere Gesellschaft in zehn Thesen
Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 28, 2018 12:56:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Wie funktioniert die Liebe in Zeiten des Kapitalismus? Warum sehnen wir uns nach Sicherheit? Was wird uns die Zukunft bringen? An welchen Gott wollen wir noch glauben? Warum finden wir Geiz geil? Was bedeutet uns Freiheit? Welche Konsequenzen hat Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung?
Robert Misik, der renommierte Sachbuchautor, macht sich Gedanken zu unserer Gegenwart. Anhand zehn exemplarischer Begriffe, die Zeitgeist und Verfasstheit unserer Gesellschaft treffend skizzieren, geht er der Frage nach, welchen Paradigmen wir unsere Leben unterwerfen. Robert Misik, arbeitet regelmäßig für die in Deutschland erscheinende taz sowie für die in Österreich erscheinenden Zeitschriften profil und Falter, des Weiteren betreibt er auf der Homepage der Tageszeitung Der Standard einen Videoblog. Er ist Sachbuchautor, etwa des Theoriebestsellers Genial dagegen, publizierte bisher bei Aufbau und Picus. Jüngste Publikation: Was Linke denken, 2015.

Preis: € 19,90
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

Rezension aus FALTER 9/2018

Misiks Stichworte zur geistigen Situation der Zeit

Publizist Robert Misik hat ein unterhaltsames wie kluges Handbuch für kritische Zeitgenossen geschrieben

Denken ist das größte Abenteuer. Es gibt kein entschiedenes Handeln, das mit zahmem Denken einhergeht: Stay Strong, Stay Brave, Stay Rebel!“, schreibt Robert Misik im Vorwort seines neuen Buches „Liebe in Zeiten des Kapitalismus“.
Es wäre zu gefällig zu schreiben, dass das Denken eine Renaissance erlebt. Gedacht wurde immer, neu (oder besser gegenwärtig) ist, dass sich wieder mehr Menschen für Theorien und Erklärungsmuster und damit auch für Handlungsanweisungen interessieren.
In Zeiten der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, nach bald zehn Jahren der Wirtschafts- und Politikkrise, die Trumpismus, Orbánismus und Kurzismus an die Macht gebracht hat, im Angesicht neuer Religionen wie Apple und neuer sozialer Gesellschaftsformen wie Facebook, sucht man nach Antworten. Was ist los mit uns? Was sind unsere Werte? Ist das noch meine Welt? Und wenn nein, wo ist hier der Ausgang?

Misiks Antworten und Wegweiser sind zeitgemäß mit Hashtags versehen und in 33 kurze Kapitel verpackt. Jürgen Habermas’ „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“, erschienen 1979, waren ihm dabei Vorbild. Der Vielschreiber griff dabei auch auf Vorlesungen, Vorträge und Essays zurück, die er in den letzten 17 Jahren für die taz, den Falter, das Profil und den Standard geschrieben hat. Das macht das Buch – im Unterschied zu vielen klugen, aber langweiligen wissenschaftlichen Publikationen – erfreulich gut lesbar und zugänglich.
Wer gerade frisch verliebt ist, blättert beispielsweise zum Kapitel #Liebe, das Misik klugerweise mit den Schlagworten #Kapitalismus und #Tinderisierung zusammenfasst und in dem er uns eine Tour d’Horizon über den Einbruch der Konsumkultur und der Selbstoptimierung in unser Beziehungsleben gibt. Es geht um „sexuelle Performance“, also Sex als Leistung, um unsere Vorstellungen von romantischer Liebe, die im Grunde ein Klischee westlichen Upperclass-Kapitalismus sind – Kerzenlichtdinner, Schampus und Erdbeeren, ein Trip nach Venedig.
Sein ganzes Können als philosophischer Feuilletonist und feuilletonistischer Philosoph spielt Misik bei Begriffen wie #Spiessigkeit oder #Ironie aus, die er mit Witz, Leichtigkeit und sehr viel Selbstironie seziert. Wir erfahren nicht nur Autobiografisch-Anekdotisches, etwa wie Misik – bekanntermaßen selbst dem Gestus des Intellektuellen gehorchend mit wildem Haar, Lederjacke und im Sommer auch schon einmal bloß im Ruderleiberl – einmal verzweifelt die Polizei rief, weil das Männermodel unter ihm unentwegt Party feierte und er nicht mehr schlafen konnte. Zudem liefert uns Misik natürlich auch klassische Zugänge der kritischen Soziologie. Weil Waren heute „Kultur-Waren“ sind, imitieren Firmen den „Gestus der Avantgarde – immer neu, immer hip, immer am Puls der Zeit. So wurde auch die Schrägheit, wie die Spießigkeit, zu einem Lifestyle unter vielen“, schreibt Misik.

Kritisch geht Misik auch mit der #Ironie ins Gericht, die ihre „große Zeit hinter sich“ habe, wenn sie „sich selbst zur stets gegenwärtigen Dauerironie verallgemeinert“. Zwar sei „die totale Ironieunfähigkeit“ immer noch „unerträglicher als die Totalironie“, aber trotzdem habe die Ironie uns in eine Sackgasse manövriert.
In der Süddeutschen Zeitung würdigte Heribert Prantl die Geschwister Scholl, die vor 75 Jahren von einem Unrechtsrichter zum Tode verurteilt wurden, als Heldinnen des Widerstands gegen Adolf Hitler. Das Deutsche Grundgesetz kennt Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und – anders als das österreichische – auch Artikel 20 Absatz 4. Gegen jeden, der es unternimmt, die Grundrechte zu beseitigen, haben „alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Deutsche Juristen nennen das „kleiner Widerstand“. Widerspruch, Zivilcourage, Whistleblowerei, Gutmenschentum.
Misik hat ein kleines, feines Handbuch für jene geschrieben, die an den kleinen Widerstand glauben.

Barbaba Tóth in FALTER 9/2018 vom 02.03.2018 (S. 20)

Puszta-Populismus 

Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?
Posted by Wilfried Allé Wednesday, February 7, 2018 12:51:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Sonstiges
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Als Viktor Orbán 2010 die Wahl in Ungarn gewann, sprach er von einer „Revolution an der Wahlurne“. Seitdem hat der Rechtspopulist die Institutionen in Ungarn auf seine Machtbedürfnisse maßgeschneidert und will nun auch die EU umkrempeln.
In der Wählergunst ist der Ungar nach wie vor unumstritten – trotz Korruptionsskandalen rund um die Regierungspartei Fidesz. Was macht Orbán so erfolgreich ? Seine populistische Rhetorik ist ein Schlüssel seines Erfolges, meint Autor Stephan Ozsváth.
Er zeigt auf, wie meisterhaft der ungarische Ministerpräsident mit Ängsten spielt und daraus politisches Kapital schlägt. Er bedient sich dabei nationaler Mythen und Rollenbilder. Orbán setzt auf Symbole wie den Mythenvogel Turul, er okkupiert den Aufstand von 1956 und inszeniert sich als Anführer einer Nation von Freiheitskämpfern, die sich gegen ausländische Mächte zur Wehr setzt: Der David-Goliath-Mythos im magyarischen Gewand. In seinem Rhetorik-Baukasten hat Orbán Globalisierungskritik, Anti-Establishment-Parolen und sogar antisemitische Verschwörungstheorien.
Während der Flüchtlingskrise stellte sich Orbán als Verteidiger des Christentums dar - und Ungarn als Bollwerk gegen den Ansturm der Muselmanen. Eine Rhetorik, die sein Publikum in das Jahr 1526 versetzt, als die Türken die Ungarn bei Mohács überrannten. Diese populistischen Assoziationsfelder machen Angst und sie kommen an. Nicht nur in Ungarn, sondern zunehmend auch im Rest Europas. Fast unwidersprochen kann sich Viktor Orbán als Verteidiger Mitteleuropas gegen eine „Völkerwanderung“ inszenieren – ein Anti-Merkel.
Aus dem liberalen Revoluzzer von einst ist ein Politiker geworden, der einen illiberalen Staat errichtet. Im Herzen der EU ist er der Spaltpilz, der die Union von innen angreift. Kämpfernatur Orbán wettert heute gegen die Macht der „Brüsseler Bürokraten". Er sieht sich als Vorkämpfer einer anti-liberalen Gegenbewegung, die mehr Nation und weniger Europa will.
Als Populist braucht Orbán Sündenböcke. Er trat eine perfide Kampagne los, die Flüchtlinge pauschal mit Terroristen gleich setzte, er hält die ungarische Gesellschaft in einem ständigen Erregungszustand, einem künstlichen Krieg mit Worten und Symbolen: Ein Heerführer ohne Soldaten. Seine Waffe sind Trugbilder, Halbwahrheiten, Lügen.
All das dient letztlich nur einem Ziel: Dem eigenen Machterhalt. Der Kollateralschaden ist enorm. Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten, Hass statt Zusammenhalt ist die Devise, Hunderttausende kehren ihrer Heimat den Rücken. Doch Orbán wird zum Vorbild für Europas Populisten, sein illiberaler Staat ist die Blaupause.

Vorwort: Paul Lendvai
Preis: € 16,50
Verlag: danube books Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Sonstiges
Umfang: 200 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.10.2017

Rezension aus FALTER 6/2018

Der kann ja gar kein Ungarisch!

Der Journalist Stephan Ozsváth erklärt, warum Viktor Orbán ausgerechnet in Ungarn reüssiert

Der kann ja gar kein Ungarisch“: Wenn die Ausländer Ungarn nach allem Erklären immer noch nicht verstanden haben, handelt es sich um einen Fall von mangelnder Bereitschaft, sich auf die komplizierte Psyche dieser verkannten Nation einzulassen. Manchmal funktioniert das Argument­ nicht, wie im Falle des früheren Wiener ARD-Korrespondenten Stephan Ozs­váth, Sohn eines ungarischen Vaters. Er kann Ungarisch. Gegen ihn hilft nur der unverblümt ideologische Angriff auf den „Verräter“. Ausländische­ Kritik „an Ungarn“ beruht entweder­ auf schierer Unkenntnis, oder sie kommt in Wirklichkeit von innen, so die Propaganda: Die illoyale Opposition bedient sich ihrer Kontakte zum Ausland.
Ozsváth, der selbst schon Opfer eines nationalen Shitstorms war, beschreibt nachvollziehbar, wie das funktioniert. Der „Werkzeugkasten des Populisten“, so Ozsváths erstes Kapitel, umfasst eher grobe Instrumente: viel Angst, eine Portion Starker-Mann-Getue, Pomp, etwas Ideologie, aber von Letzterem nicht zu viel.

Die Macht Viktor Orbáns, der Ungarn seit siebeneinhalb Jahren ungefährdet regiert, beruht wesentlich auf dessen Bereitschaft, die Minderwertigkeitskomplexe, die Mythisierung der Geschichte, ein diffuses Bedrohungsgefühl, gerechtfertigte Abstiegs- und irrationale Entgrenzungsängste sowie Fremdelei gegenüber der großen, weiten Welt zusammenzusetzen.
Mit der so gewonnenen Popularität zieht man auch die Elite der Nation in seinen Bann, die vielleicht nicht so leicht zu elektrisieren ist, die sich aber von Orbáns Macht gern ein Stück ausleiht. Wer nicht mitmachen will, kann ja gehen. Viktor Orbán, der „Puszta-Populist“, wie Ozsváth seinen negativen Helden im Buch nicht weniger als 16 Mal nennt, war in seinen Zwanzigern nach Ozsváths Befund ein Linksliberaler; im Buch finden sich dafür schöne Belege. Gerade die Konversion macht sein Charisma aus: Hier regiert einer, der auch die andere Seite gut kennt.

Mit Orbáns Psychologie hält Ozsváth sich nicht weiter auf, wie es überhaupt zu den Stärken seines Buches gehört, dass es nichts überhöht, nichts mystifiziert. Etwas mehr hätte man allerdings gern über das nationale Nervengeflecht erfahren, das Orbán so erfolgreich nutzt. Sind die vielzitierten nationalen Traumata alle wirklich so spezifisch ungarisch? Ist das Selbstbild als Glacis Europas nicht auch in allen benachbarten Nationen verbreitet?
„Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?“, fragt schüchtern der Untertitel. Dabei legt Ozsváth überzeugend dar, dass sein „Puszta-Populist“ sich von den Konstruktionsfehlern der Union prächtig nährt. Für einen Regierungschef in der Pose des Volkstribuns und des Rächers der Enterbten ist die Gemeinschaft wie gemacht. Funktionieren kann die Projektion nur in Staaten von mittlerer Größe, deren es in der Union allerdings eine Menge gibt: Sie müssen nur groß genug sein, im Baltikum oder in Luxemburg hätte ein Orbán keine Chance.
In Deutschland oder Frankreich dagegen würden die Wähler ihre Anführer nicht aus der Verantwortung für Europa entlassen.
Im Vorwort zu Ozsváths Buch lobt der alte Ungarn-Kenner Paul Lendvai, dass der Autor „keine abstrakten oder romantischen Zukunftsszenarien skizziert“. Schlussfolgerungen darf der Leser selbst ziehen. Dass Orbán etwa für Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ein schönes Role-Model abgibt, muss man ja nicht unbedingt aussprechen.

Norbert Mappes-Niediek in FALTER 6/2018 vom 09.02.2018 (S. 21)

Gelebt, erlebt, überlebt 

Eine berührende Biographie
Posted by Wilfried Allé Saturday, February 3, 2018 1:38:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Gertrude PressburgerMarlene Groihofer, Oliver Rathkolb

Gertrude Pressburger war zehn, als Hitler in Österreich einmarschierte. Obwohl die jüdische Familie katholisch getauft worden war, musste sie fliehen. Fast sechs Jahre dauerte die Flucht, die 1944 in Auschwitz endete. Gertrude überlebte den Holocaust – ihre Eltern und die zwei jüngeren Brüder wurden von den Nationalsozialisten umgebracht. Jahrzehntelang hat Gertrude Pressburger geschwiegen. Dass ein maßgeblicher Politiker in Österreich 2016 von einem drohenden Bürgerkrieg spricht, hat sie bestürzt. Per Videobotschaft warnte sie vor einer Rhetorik der Extreme. Dass ihre wahrhaftigen Worte Gehör finden, hat sie bestärkt, mit einer jungen Journalistin ihre Autobiographie zu schreiben: „Ich bin nicht zurückgekommen, um dasselbe noch einmal zu erleben.“

Preis: € 19,60
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 29.01.2018

Rezension aus FALTER 5/2018

Frau Gertrude erzählt ihre ganze Geschichte

Eine berührende Biografie schildert, wer die Frau ist, die die Präsident­schaftswahl für Alexander Van der Bellen im Finale mitentschied

Im Präsidentschaftswahlkampf kannte man nur ihren Vornamen. „Frau Gertrude“ war die Holocaust-Überlebende, die in einem Video klar und eindringlich vor einem Blauen in der Hofburg warnte. Über 3,9 Millionen Mal wurde ihre Botschaft gesehen, die 89-jährige Dame machte Schlagzeilen bis zur New York Times. 
Jetzt ist Gertrude Pressburgers Biografie erschienen, aufgezeichnet von der Journalistin Marlene Groihofer. Und endlich kennt man nicht nur ihren Nachnamen, sondern ihre ganze Geschichte. Sie ist besonders. Nicht nur, weil sie so klar, lakonisch und eindrücklich erzählt wird, sondern weil Pressburger die ganze Geschichte erzählt. Die Schrecken des Holocausts und die Schrecken der Verdrängung der Nachkriegszeit.
Groihofer überlässt Gertrude Pressburger die Erzählregie. Viele ihrer Gedanken beginnen in der Gegenwart und tragen sie zurück in die Vergangenheit. Sie handeln von Wiener Orten, die sie nicht aufsuchen kann, Nächte, in denen die schrecklichen Erinnerungen sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Jede Zeile ihrer Biografie ist eine Gegenrede zum Mythos der „Stunde null“, des großen Schnitts, den es im Jahr 1945 nach offizieller Darstellung ja gegeben haben soll. Doch diesen Neuanfang gab es nur für wenige. Vor allem für jene, die sich von ihrer Schuld abnabeln wollten.

Gertrude Pressburger wächst mit ihren beiden jüngeren Brüdern in Meidling in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familie ist jüdisch, die Kinder werden aber katholisch getauft – auf Wunsch des Vaters. Mit kindlich-naivem Blick erleben wir die Machtergreifung der Nazis und den Alltagsrassismus. Die Geschichte von der Pfanne, die jemand aus dem Gemeindebau auf die Mutter wirft und sie fast erschlägt. Das jüdische Zuckerlgeschäft nebenan, das von den Nazis geschändet wird. Die Sonderklassen, die sie als Schulkind plötzlich besuchen muss. Der Vater, der mit verschwollenem Gesicht aus der Gestapo-Zentrale am Morzinplatz zurückkommt und den sie zuerst gar nicht erkennt, weil er wie ein alter Mann ausschaut, obwohl er erst 34 Jahre alt ist. 
Im September 1938 flüchtet die Familie über Jugoslawien ins faschistische Italien, immer von der Angst begleitet, nach Deutschland deportiert zu werden. Im Frühling 1944 werden sie schließlich ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Gertrude, inzwischen 16 Jahre alt, wird als arbeitsfähig eingestuft, von ihrer Familie getrennt und überlebt als Einzige den Krieg mit Glück und viel Mut. Pressburger erzählt von der Frauensolidarität in den Baracken und dem grauenvollen Alltag so distanziert, dass es wehtut. Im November 1944 schwindelt sie sich in eine Arbeitskolonne für eine Philips-Fabrik ­hinein und entkommt dem KZ. Das Kriegsende erlebt sie in Padborg in Dänemark, danach verschlägt es sie nach Schweden, wo sie den späteren Kanzler Bruno Kreisky kennenlernt, der dort im Exil lebt. 

Kreisky besorgt der „Gerti“, wie er sie nennt, einen Pass und organisiert die Rückkehr nach Wien. Schweden? Israel? Gertrude Pressburger entscheidet sich für das „zerstörte Wien“ und ein Leben im „Feindesland“. Ein Arzt operiert ihr die KZ-Nummer weg, sie macht Karriere als Handelsangestellte und mit 35 bekommt sie von ihrem Mann Erich eine Tochter, ihr größtes Glück. „Das Leben mit meiner Tochter ist die beste Therapie, die ich bekommen konnte“, heißt es im Buch. 
Therapie ist auch das Buch selbst. Denn über ihre Erlebnisse reden konnte Gertrude Pressburger in all den Jahren nie. Gut für sie und Österreich, dass sie ihre Geschichte aufschreiben hat lassen.

Barbaba Tóth in FALTER 5/2018 vom 02.02.2018 (S. 19)

Polens Rolle rückwärts 

Der Aufstieg der Nationalikonservativen und die Perspektiven der Linken
Posted by Wilfried Allé Friday, January 19, 2018 12:36:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Der politische Rechtstrend in Polen ist unübersehbar. Jarosław Kaczyński, der starke Mann hinter der im November 2015 vereidigten Präsidentin Beata Szydło, verkündet, dass das Jahr 2015 in der jüngsten Geschichte des Landes genauso wichtig sei wie das Jahr 1989.
Verhasst ist ihm die politische Ordnung, die sich nach 1989 zwischen der damaligen »Solidarność«-Opposition und der Regierungsseite in Polen herausgebildet hatte. Er hält die seinerzeit am Runden Tisch gefundene Weichenstellung für Verrat, weil sie einer endgültigen Abrechnung mit dem Staatssozialismus den Weg verbaut habe. Nun greift er die liberale Verfassung von 1997 an, da sie Polens erfolgreichen Weg in die Zukunft verhindere.
Diese auch vor dem Hintergrund der Rechtsverschiebungen in anderen europäischen Ländern beunruhigenden Entwicklungen können nicht ohne den Niedergang der Linkskräfte in Polen verstanden werden. Nach spektakulären politischen Erfolgen wurde ein hoher Preis bezahlt für die unkritische Bereitschaft, das Land für den ersehnten Beitritt zur Europäischen Union fit zu machen.
Nunmehr ist es die Kaczyński-Partei, die mit ihren nationalkonservativen Argumenten den neoliberal geprägten Weg eines möglichst schnellen Wirtschaftswachstums auf den Prüfstein stellt – doch um welchen Preis für die Demokratie in Polen und Europa?

Portrait
Krzysztof Pilawski, polnischer Publizist, nach 1990 Korrespondent der linksgerichteten ­Tageszeitung »Trybuna« in Moskau; Veröffentlichungen zur polnischen Linken und zu geschichts­politischen Strategien der Nationalkonservativen.

Einband Kunststoff-Einband
Seitenzahl 176
Erscheinungsdatum 01.04.2016
Sprache Deutsch
ISBN 978-3-89965-702-9
Verlag VSA Verlag
Preis € 15,30
Maße (L/B/H) 211/139/15 mm
Gewicht 281
Auflage 1

Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten 

Narzisstisch? Dissozial? Paranoid?
Posted by Wilfried Allé Wednesday, January 17, 2018 12:35:00 PM Categories: Gesellschaft Politik & Geschichte Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Besorgte Psychiater brechen mit Berufsethos.

Zwar sind Ferndiagnosen über den Geisteszustand unter Psychiatern eigent­lich ver­pönt. Dazu kommt eine ethische Ver­pflich­tung, sich nicht ohne deren Ein­ver­ständ­nis über Men­schen des öf­fent­lichen Le­bens zu äußern. In Be­zug auf Donald Trump aber haben schon einige Ex­per­ten mit die­sen Grund­sätzen ge­bro­chen - aus Sorge da­rüber, was er als Prä­si­dent an­rich­ten kann.

"Wenn wir als Psychiater von der be­sonderen Ge­fahr wis­sen, die von Trump aus­geht, und da­rü­ber nicht spre­chen, wird die Ge­schich­te nicht gut über uns ur­tei­len", sagte der US-Psy­cho­lo­ge John Gartner. Er ge­hört zu 27 teils höchst re­nom­mier­ten Fach­leu­ten, die in dem Band "The Dangerous Case of Donald Trump" ein Bild von Trumps Per­sön­lich­keit zeich­nen - und zu be­sorg­nis­er­regen­den Fern­di­a­gno­sen kom­men.

Preis: € 20,60
Verlag: Rowohlt
Genre: Politik & Geschichte
Erscheinungsdatum: 19.02.2018

 

Rezension aus FALTER 3/2018

Being Donald Trump

Michael Wolffs „Fire and Fury“ blickt erstmals hinter die Ku­lis­sen der Trump-Ad­mini­stra­tion und ge­hört un­be­dingt ge­le­sen

Mit der Drohung von „Fire and Fury“, „Feuer und Wut“, hatte Donald Trump Nord­korea einen Atom­schlag in Aus­sicht ge­stellt. Wie man in dem Buch er­fährt, ohne je­de Pla­nung. Den Slo­gan hat sich der Journa­list Michael Wolff für sei­nen Thril­ler über Wahn­sinn und Chaos im Weißen Haus aus­ge­borgt. Der Au­tor hat­te über viele Mo­na­te di­rekten Zu­gang zum eng­sten Um­kreis des Prä­si­den­ten. Er kommt aus dem rech­ten Bio­top der Me­dien­welt New Yorks. Sein Be­richt, wo­nach aus­nahms­los alle Trump-Mit­ar­bei­ter zur Über­zeu­gung ge­kom­men sind, dass der Prä­si­dent psy­chisch ge­stört und un­ge­eig­net für sein Amt ist, ist eine po­li­tische Bom­be mit un­ge­ahn­ter Spreng­kraft.
Michael Wolff erlaubt es seinen Lesern quasi als Mäus­chen hin­term Vor­hang bei ge­hei­men Stra­te­gie­be­spre­chungen, laut­starken Schrei­duel­len und bein­har­ten In­tri­gen um den mächtig­sten Mann der Welt da­bei zu sein. Mit 200 Ver­wand­ten, Freun­den und Be­kannten des Prä­si­den­ten hat der Re­por­ter ge­spro­chen, zu­meist im Hin­ter­grund, häu­fig auch zitier­fä­hig „on the record“.
Trump denunziert das Buch als Fik­tion vol­ler Fake News. Aber er schei­ter­te beim Ver­such, die Aus­lie­fe­rung zu blo­ckie­ren. Abgesehen von Flüchtig­keits­fehlern konnte kein Ge­sprächs­part­ner bis­her be­haup­ten, dass er falsch zi­tiert wur­de. Ame­ri­ka nimmt das von Wolff ge­zeich­nete Sit­ten­bild ernst. Trump er­scheint jetzt als „wahn­sin­niger König“, sagt der Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Tyson Baker vom Aspen Insti­tute in Episode 20 des Falter­Radios.
Mit „Fire and Fury“ meint Michael Wolff den to­talen Krieg ge­gen das Es­tablish­ment, den Trump sei­nen Wählern ver­spro­chen hat, den aber nur eine Frak­tion im Weißen Haus wirk­lich füh­ren will. Die Fol­ge ist ein er­bar­mungs­lo­ser Kampf zwi­schen dem rechts­ra­di­kalen Chef­stra­tegen Steve Bannon als Ver­treter der Wut­bür­ger und der auf Re­s­pek­ta­bi­li­tät be­dach­ten Fa­mi­lien­frak­tion um Toch­ter Ivanka und Schwieger­sohn Jared Kushner.
Gemeinsam ist den ver­feindeten La­gern, dass sie von einem Sieg Hillary Clintons über­zeugt wa­ren. Trump wollte nach der Nieder­lage eine Kam­pagne ge­gen ge­stoh­lene Wahlen star­ten und einen neu­en rech­ten Fern­seh­sen­der grün­den. Der über­ra­schende Er­folg ist der An­fang des nicht en­den wol­len­den Cha­os um den we­der men­tal noch po­li­tisch zum Re­gie­ren ge­eigne­ten Show­man.
Penibel listet Wolff die Kraft­aus­drücke auf, mit denen hohe Re­gierungs­ver­tre­ter den Chef be­denken: „fucking moron“, „Voll­trottel“ (Außen­mi­nis­ter Rex Til­ler­son), „idiot“ (Fi­nanz­mi­nis­ter Steven Mnuchin), „dumb as shit“, „dumm wie Scheiße“ (Wirt­schafts­be­ra­ter Gary Cohn), „dope“, „Trot­tel“ (Sicher­heits­be­ra­ter H.R. McMaster). In den USA ge­bie­tet die Hoch­ach­tung vor dem Amt selbst den Geg­nern einen res­pekt­vol­len Um­gang mit dem Prä­si­den­ten. Das Toll­haus um Trump hat diese Tra­di­tion be­endet.
In Wolffs Darstellung glaubt Rechts­außen­mann Bannon mit Hilfe Trumps das ge­sell­schaft­liche Ruder herum­reißen zu kön­nen. Staats­aus­ga­ben und Steu­ern he­run­ter, Aus­län­der raus, Um­welt­ge­setze und Ge­sund­heits­re­geln außer Kraft setzen, das ist sein Pro­gramm. Das Ame­ri­ka des weißen Pro­le­ta­ri­ats soll wie­der die Ober­hand be­kom­men. Aber Trump ist kein Ideo­loge, son­dern ein Prag­ma­ti­ker, der auch von den kon­ser­va­ti­ven Eli­ten ge­liebt wer­den will. Über ihm schwe­bt das Da­mo­kles­schwert ei­ner my­ste­ri­ösen Ver­bin­dung zu Russ­land und Wla­di­mir Pu­tin. Die Er­mitt­lungen des Son­der­staats­an­waltes Mueller gel­ten als die größ­te Be­dro­hung für die Prä­si­dent­schaft.
Der Rest der Welt spielt eine be­schei­dene Rolle. Die Re­vo­lu­tion fin­det nur auf Twit­ter statt. In Kri­sen­si­tu­a­tionen schlägt sich der Prä­si­dent auf die Seite der Mi­li­tärs, die Aben­teuern ab­hold sind. Ein Drit­tel der Ame­ri­ka­ner hält ei­sern zu Trump. Michael Wolff bie­tet einen Be­richt über die obers­ten Eta­gen des Na­ti­onal­po­pu­lis­mus in Ame­ri­ka, der ver­stö­rend und span­nend zu­gleich ist.

Dazu passend auch das Buch

Journalismus und heutige Medienbranche 

Ist seriöse Journalismus in der heutigen Medienbranche überhaupt erwünscht oder noch möglich?
Posted by Wilfried Allé Wednesday, November 22, 2017 1:17:00 PM Categories: Journalismus Medienforschung Medienökonomie, -politik, -recht und Journalismus Sachbücher/Politik
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Ist der Journalismus am Ende?

Ideen zur Rettung unserer Medien

von Reinhard Christl

Das Buch richtet sich an Praktiker: Journalisten, Chefredakteure, Medienmanager, Journalismus-Studierende. Aber auch an Leser außerhalb der Medienbranche, die ein wenig hinter die Kulissen des Journalismus blicken wollen.

Rezension aus FALTER 23/2012

Vergesst Grasser!

Die Journalisten hätten die Welt retten können, wenn sie nicht so sehr auf Society-News fixiert gewesen wären. Wir brauchen einen neuen Wirtschaftsjournalismus.

Wir hätten die Welt retten können und taten es nicht", schreibt die Wirtschaftsjournalistin Heike Faller in einem preisgekrönten Artikel im Zeit-Magazin, dem erhellendsten und ehrlichsten wirtschaftsjournalistischen Text, den ich in den vergangenen drei Jahren gelesen habe.
Die Wirtschaftsjournalisten hätten die Finanzkrise vorhersehen können, ja müssen, meint die Zeit-Journalistin. Es habe genügend Informationen gegeben, aus denen hervorgegangen sei, dass die US-Immobilienblase in Kombination mit den High-Risk-Geschäften vieler Banken die Welt in den Abgrund reißen würde. Es habe sich nur niemand für diese Informationen interessiert. Auch nicht unter den Wirtschaftsjournalisten. Und das, obwohl der US-Investor Warren Buffet schon 2003 die damals aufkommenden Finanzderivate als "Massenvernichtungswaffen" gebrandmarkt hatte.

Ich fürchte, Heike Faller hat Recht. Und mehr als das: Ich fürchte, der Politik- und Wirtschaftsjournalismus, wie wir ihn seit Jahrzehnten betreiben, passt nicht mehr zur Welt, wie sie sich heute, im Zeitalter der permanenten Finanzmarktkrise, präsentiert. Ich fürchte, Politik- und Wirtschaftsjournalismus müssen sich völlig neu erfinden, müssen neue Formen entwickeln, neue Sendungsformate, neue Arbeitsweisen.
Denn die Art und Weise, wie Politik gemacht wird, hat sich durch EU-Beitritt und Globalisierung massiv verändert; die Arbeitsweisen im Politik- und Wirtschaftsjournalismus aber haben, von wenigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen, mit diesen Veränderungen nicht Schritt gehalten.
Die österreichische Innenpolitik ist in vielen Bereichen zur Folklore-Veranstaltung verkommen. Immer mehr politische Entscheidungen fallen heute auf EU-Ebene. Die Politik, vor allem die nationale, hat ihre Gestaltungskompetenz in vielen Bereichen verloren. Die wahren Mächtigen sitzen in den Investmentbanken, in den Unternehmen, in deren Lobby-Organisationen.
Macht und Einfluss eines österreichischen Bundeskanzlers sind heute weit geringer als etwa in den 1970er-Jahren – und das nicht nur, weil Bruno Kreisky ein anderes Kaliber war, als es Werner Faymann ist. Die EU-Entscheidungsprozesse wiederum sind so kompliziert, dass es oft unmöglich ist, sie in einem kurzen Tageszeitungsartikel oder in einem zweiminütigen "Zeit im Bild"-Beitrag verständlich zu erklären.

Das ist alles nichts Neues? Richtig. Aber während man mittlerweile in jedem Mittelschul-Lehrbuch für politische Bildung lesen kann, dass sich die Spielregeln der Politik massiv verändert haben, hat der Journalismus auf diese Veränderungen kaum reagiert beziehungsweise kaum reagieren können.
Denn eigentlich bräuchte es heute mehr Hintergrundberichte, mehr ausführliche politische Analysen, mehr Erklärung der komplexer gewordenen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge – und damit mehr Geld, mehr Zeit zum Recherchieren und mehr Journalisten.
Stattdessen gibt es immer weniger davon. Immer weniger Journalisten stehen immer mehr PR-Leuten gegenüber. In den USA gab es 2009 über 240.000 PR-Leute, aber nur mehr rund 100.000 Journalisten. In Großbritannien kommt inzwischenauf drei PR-Leute ein Journalist. Britische Journalisten füllen heute dreimal so viele Seiten wie 1985. Nur zwölf Prozent ihrer Geschichten sind von ihnen selbst recherchiert, schreibt der Guardian-Journalist und Medienkritiker Nick Davies. Immer weniger Mitarbeiter in immer kleiner werdenden Redaktionen haben immer weniger Zeit, die Unmengen an PR-Material, mit denen sie überschüttet werden, zu hinterfragen und die Wahrheit dahinter herauszufinden.

Die Folge: Zumindest die intelligenteren unter den Lesern zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Medien. Und sie gewinnen immer öfter den Eindruck, dass es herzlich wenig bringt, sich etwa ein TV-Interview mit einem österreichischen Minister zur Finanzmarktkrise anzusehen. Denn erstens hat er keine Lösung anzubieten. Und zweitens spricht er über Dinge, die er selber bestenfalls halb, das Publikum oft gar nicht versteht: über EFSF, ESM, CDS, CDO und Acta.
Die Herausforderung für den Politik- und Wirtschaftsjournalismus der Zukunft lautet deshalb: Er muss es wieder schaffen, den Menschen die Welt zu erklären. Ihnen zumindest helfen, die komplizierten Vorgänge in und zwischen Politik und Wirtschaft ein wenig besser zu verstehen.
Deshalb müssen sowohl Politik- als auch Wirtschaftsjournalismus neue Wege gehen: Alle Politikjournalisten, nicht nur die, die sich schon jetzt dafür interessieren, müssen sich künftig mehr mit Wirtschaft beschäftigen. Denn fast jedes politische Interview mit dem Bundeskanzler, dem Finanz- oder dem Außenminister dreht sich heute mindestens zur Hälfte um Wirtschafts- oder wirtschaftsnahe Themen: um Budgetdefizite, Steuerreformen, EU-Rettungsschirme.
Und so wie die Politikjournalisten künftig besser über Wirtschaft Bescheid wissen müssen, müssen die Wirtschaftsjournalisten sich mehr mit Politik beschäftigen.
Wirtschaftsjournalismus war immer ein Minderheitenprogramm. Er richtete sich fast ausschließlich an Experten: Wirtschafts­treibende, Banker, Unternehmer, Manager. Wenn aber die Wirtschaft zunehmend die Politik und das Leben jedes Einzelnen bestimmt, muss der Wirtschaftsjournalismus aus dem Spezialisteneck heraustreten und mehr bieten als Special-Interest-Informationen für Experten. Er muss erklären, wie und warum die Wirtschaft die Welt regiert. Er muss beschreiben, welche Konsequenzen wirtschaftspolitische Entscheidungen für jeden Einzelnen haben: für sein Geld, seinen Job, seine Urlaubsreise, seine Kinder.

Die Wirtschaftsjournalisten waren lange Zeit eine, das erlaube ich mir als ehemals Angehöriger dieser Zunft selbstkritisch zu beurteilen, in sich geschlossene Community, die dazu neigte, sich im Insiderjargon auszudrücken. Das muss sich ändern. Gefragt sind künftig Formulierungen, die nicht nur Finanzexperten verstehen, sondern auch das Nicht-Fachpublikum.
"Der real existierende Wirtschaftsjournalismus benötigt mit Ausnahme ganz weniger internationaler Qualitätsprodukte eine ,Reset'-Taste", kritisiert der Schweizer Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Kurt Imhof. Und weiter: "Die generelle Nachrichtenwertorientierung des Wirtschaftsjournalismus hat zur Folge, dass spektakuläre Einzelereignisse und Personen-Skandale zu Lasten der Ursachen und Folgen komplexer Wirtschaftsvorgänge überbewertet werden."
Soll heißen: zu viele Society-News, zu wenig Hintergründe. Zu viel über KHGs & Fionas Societyauftritte, zu wenig über die Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik. Zu wenig auch über die Vorgänge in jener Institution, die heute viel stärker als jede österreichische Regierung unsere Zukunft gestaltet: die EU.
Zugegeben, fast alles, was in der EU und in Brüssel passiert, ist extrem schwer zu journalistisch griffigen, lesbaren, vergnüglichen Geschichten zu verarbeiten. Man kennt die handelnden Personen oft nicht, sie sind meist weit weg, und alles ist noch viel komplizierter, als es sich Fred Sinowatz je hätte träumen lassen.
Aber die Vorgänge in Brüssel und Straßburg bestimmen unser Leben heute viel mehr als das Geschehen am Ballhausplatz und im Parlament. Also muss es gelingen, sie endlich spannender, lebendiger, lebensnäher zu beschreiben. Wie wäre es, als Anfang, mit einem EU-Wettbewerb für junge Journalisten? Die Aufgabenstellung: informative, vor allem aber spannende und unterhaltsame Storys zum Thema EU.
Vielleicht wird man auch, wie das in internationalen Medien bereits geschieht, nachdenken müssen, ob man nicht die Grenzen zwischen Politik- und Wirtschaftsressorts einreißt. Für Themen wie EU-Gipfeltreffen, Finanzmarktregulierung und Steuerreformdebatten wäre ein großes Politik-, Wirtschafts- und EU-Ressort wohl besser aufgestellt als jeweils separate journalistische Schrebergärten.

Egal, ob bei EU-Themen, Globalisierungsfragen oder internationalen Datenspeicherungsabkommen: Politik- und Wirtschaftsressorts müssen künftig mehr kooperieren. Sie müssen analytischer und hintergründiger arbeiten, ohne dabei zu langweilen. Wenn der politische Journalismus so etwas wie die vierte Gewalt bleiben will, muss er sich künftig in dieser Rolle um viel mehr kümmern als nur um Innenpolitik im klassischen Sinne.
Jörg Schönenborn, der Chefredakteur des Westdeutschen Rundfunks, hat das treffend beschrieben: "Die wirklich relevanten Enthüllungsgeschichten der Zukunft werden in der Wirtschaft, in den Entwicklungslabors von Forschung und Industrie und in der Behördenlandschaft der EU spielen."

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