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Earth for All

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Posted by Wilfried Allé Friday, January 20, 2023 2:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft

Ein Survivalguide für unseren Planeten

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Der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«

ISBN: 9783962383879
Verlag: oekom verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 06.09.2022
Übersetzung: Rita Seuß
Übersetzung: Club of Rome, Barbara Steckhan
Preis: € 25,70

Kurzbeschreibung des Verlags:

»Wohlstand innerhalb der Grenzen unseres Pla­neten ist mög­lich!« Jørgen Randers
1972 er­schüt­ter­te ein Buch die Fort­schritts­gläu­big­keit der Welt: »Die Gren­zen des Wachs­tums«. Der erste Be­richt an den Club of Rome gilt seit­her als die ein­fluss­reichs­te Publi­ka­tion zur dro­hen­den Über­las­tung un­se­res Pla­ne­ten. Zum 50-jäh­rigen Jubi­läum blicken reno­mmier­te Wis­sen­schaft­ler*innen wie Jørgen Randers, Sandrine Dixson-Declève und Johan Rock­ström aber­mals in die Zu­kunft – und le­gen ein Ge­ne­sungs­pro­gramm für un­sere kri­sen­ge­schüt­tel­te Welt vor.
Um den trägen »Tanker Erde« von seinem zer­störe­ri­schen Kurs ab­zu­brin­gen, ver­bin­den sie ak­tuel­le wis­sen­schaft­liche Er­kennt­nis­se mit in­no­va­ti­ven Ideen für eine an­dere Wirt­schaft. Der ak­tu­el­le Be­richt an den Club of Rome lie­fert eine poli­ti­sche Ge­brauchs­an­wei­sung für fünf we­sent­liche Hand­lungs­fel­der, in de­nen mit ver­gleich­bar klei­nen Wei­chen­stel­lun­gen große Ver­än­de­run­gen er­reicht wer­den können

  • gegen die Armut im globalen Süden,
  • gegen grassierende Ungleichheit,
  • für eine regenerative und natur­ver­träg­liche Land­wirt­schaft,
  • für eine umfassende Energiewende
  • und für die Gleichstellung der Frauen.

Wer wissen will, wie sich eine gute Zu­kunft rea­li­sie­ren lässt, kommt an »Earth for All« nicht vorbei.

FALTER-Rezension:

Über eine Erde, wie wir sie nicht kennen wollen

Shu, Samiha, Carla und Ayotola: Sie alle wurden am selben Tag im Au­gust 2020 ge­boren. Samiha kam in einem Slum in Bangla­desch zur Welt, Ayotola in einem Armen­vier­tel im ni­geria­ni­schen Lagos. Die Fa­mi­lien von Shu und Carla hin­ge­gen sind bes­ser­ge­stellt. Shu wächst in der chi­ne­si­schen Stadt Chang­sha auf, Carla im kali­for­ni­schen Los An­geles. Wie es ihnen er­ge­hen wird, wie alt sie wer­den – all das wird maß­geb­lich da­von ab­hän­gen, um wie viel Grad die glo­ba­le Durch­schnitts­tem­pe­ra­tur stei­gen wird. Die vier Mäd­chen sind fik­ti­ve Fi­gu­ren; Wis­sen­schaft­ler:innen ha­ben aber an­hand zwei­er Klima­sze­na­rien ty­pi­sche Lebens­wege für sie nach­ge­zeich­net. Nach­zu­le­sen sind diese im Buch „Earth for All“, dem neu­en Be­richt an den Club of Rome, der vor 50 Jah­ren mit „Die Grenzen des Wachstums“ auf­rüt­telte.

Die Klimabücher dieses Herbstes machen klar: Ein Zu­rück zu ei­nem ge­mäßig­ten Kli­ma gibt es nicht mehr, ex­tre­me Wet­ter­er­eig­nis­se wer­den wei­ter zu­nehmen. Jetzt geht es da­rum, ob die Mensch­heit den­noch einiger­maßen ge­deih­lich wei­ter­le­ben kann – oder ob die heu­ti­gen Kin­der und Jugend­li­chen in einer Plus-drei-Grad-Welt wer­den le­ben müs­sen. „Eine Erde, wie wir sie nicht ken­nen wol­len“, so Stefan Rahmstorf, ei­ner der Leit­au­to­ren des vier­ten Sach­stands­be­richts des Welt­kli­ma­rates (IPCC). Und, da sind sich die Auto­rin­nen und Auto­ren der Bü­cher „Earth for All“, „Sturm­no­ma­den“ und „3 Grad mehr“ einig: Herum­reißen las­se sich das Ruder nur, wenn die Kluft zwi­schen Arm und Reich klei­ner wird. Die drei Bü­cher ge­hö­ren zum Wich­tigs­ten, das ein Mensch der­zeit lesen kann.

„3 Grad mehr“ lautet der Titel des Sammel­ban­des von 19 Au­to­ren, da­run­ter die Klima­for­scher Stephan Rahmstorf und Hans Joachim Schelln­huber so­wie die Sozial­for­sche­rin Jutta Allmen­dinger. Aber wa­rum sol­len wir uns über­haupt ein Drei-Grad-Sze­na­rio an­sehen, se­hen doch die Pari­ser Klima­ziele eine Er­wär­mung von 1,5, höchs­tens zwei Grad vor? Weil wir laut jüngs­tem Welt­kli­ma­be­richt be­reits auf dem bes­ten Weg in Rich­tung drei Grad plus sind.

Was das bedeutet, müssten die Menschen wissen, findet Heraus­geber Klaus Wiegandt. Viel zu lange habe die Po­li­tik die Kri­se ver­harm­lost, und so glau­bten vie­le im­mer noch, es gehe „bloß“ um Eis­bären und ein paar ver­sin­kende Insel­chen. „Wüssten die Men­schen, was den Enkel­kin­dern be­vor­steht, würde das keiner wol­len“, sagte Wiegandt ein­mal: näm­lich „eine Radi­kali­sie­rung des Wet­ter­ge­sche­hens“. Wüssten sie es, ist er sich sicher, wür­den sie eine völ­lig an­de­re Poli­tik ein­fordern.

Stakkatoartig zählt Stephan Rahmstorf auf, in wel­cher Welt seine Kin­der, der­zeit Gymna­sias­ten, da le­ben müssten – und mit ihnen rund vier Mil­liar­den Men­schen, die heu­te jün­ger als 20 Jahre alt sind. Drei Grad glo­ba­le Er­wär­mung, das be­deu­tet für viele Land­ge­biete sechs Grad mehr, so auch für Deutsch­land und Öster­reich. „Damit wäre Ber­lin wär­mer, als es Ma­drid heute ist.“ An den heißes­ten Ta­gen müssten die Deut­schen dann um die 45 Grad er­tra­gen. Rund um den Erd­ball wür­den sich „die wäh­rend Hitze­wel­len töd­lich heißen Ge­biete mas­siv aus­wei­ten“. Ex­trem­wet­ter­er­eig­nis­se näh­men über­pro­por­tio­nal zu. Stark­regen, Dürre­peri­oden, Tro­pen­stür­me – sie alle kä­men öf­ter, wür­den hef­ti­ger und blie­ben länger.

Beim Meeresspiegel wäre schon ein Meter Anstieg „eine Katas­trophe“, schreibt Rahmstorf: Weil an den Küsten­li­nien mehr als 130 Mil­lio­nen­städte lie­gen, da­zu Häfen, Flug­häfen und 200 Kern­kraft­werke. Bei drei Grad plus stie­gen die Meere laut IPCC-Be­richt je­den­falls um 70 Zenti­me­ter. Er­reicht aller­dings das Grön­land­eis sei­nen Kipp­punkt und schmilzt kom­plett ab, steigt der Meeres­spie­gel um sie­ben Meter. Auch welt­weite Hun­ger­kri­sen be­fürch­tet Rahmstorf. „Ich per­sön­lich“, schließt er sei­nen furi­osen Text, „halte eine 3-Grad-Welt für eine exis­ten­ziel­le Ge­fahr für die mensch­liche Zi­vi­li­sation“.

Was heißt eine solche Heißzeit nun für unsere vier Mäd­chen? In „Earth for All“ schaut sich der Club of Rome zwei Sze­na­rien an. Das schlech­tere, „Too little, too late“, er­scheint gar nicht so pessi­mis­tisch. Da pas­siert bis 2050 durch­aus eini­ges: Wind­räder und Foto­vol­taik­an­lagen ge­hen in Be­trieb, auch in Asien schließen die Kohle­kraft­werke. Den­noch ist alles zu we­nig und zu spät. Fos­sile Brenn­stof­fe kom­men im­mer noch zum Ein­satz, die Men­schen kle­ben an ihren Au­tos und es­sen viel zu viel ro­tes Fleisch. Ins­ge­samt ist es mehr ein Durch­la­vie­ren. Kommt Ihnen be­kannt vor?

Mithilfe aufwendiger Simulationsprogramme haben die For­scher er­rech­net, was das für die Tem­pe­ra­turen, die Welt­be­völ­ke­rung, die Ver­füg­bar­keit von Nah­rungs­mit­teln und vie­les mehr be­deutet. Dem­nach über­springt die Erde mit „Too little, too late“ be­reits 2050 die Zwei-Grad-Grenze.

In diesem Jahr sind unsere Mädchen 30 Jahre alt. Shu ist Was­ser­wirt­schafts­in­genieu­rin, häu­fige Über­schwem­mun­gen be­dro­hen Chinas Nahrungs­mit­tel­sicher­heit. Carla zieht von Kali­for­nien in den Nor­den, hat je­doch das Ge­fühl, dass Brän­de und Hitze ihr fol­gen. In Bangla­desch hat Samiha ihren Job in ei­ner Klei­der­fa­brik ver­loren, weil die Küsten­re­gion we­gen der Flut­katas­tro­phen all­mäh­lich auf­ge­ge­ben wird. Ayotola lebt mit vier Kin­dern im Armen­vier­tel, nur der Sohn wird zur Schu­le ge­hen können.

Noch weiter in die Zukunft geschaut, stirbt Carla mit 65 an Krebs. Samiha lei­det im Slum unter Was­ser- und Es­sens­knapp­heit. Im ni­geria­ni­schen Lagos mussten Ayotola und ihr Mann ihre Unter­kunft we­gen immer ge­fähr­li­cherer Flu­ten auf­geben. Noch am bes­ten geht es Shu, deren Kom­pe­ten­zen im Hoch­was­ser­manage­ment sehr ge­fragt sind.

Wie realistisch solche Lebensläufe sind, hat Kira Vinke rund um den Erd­ball re­cher­chiert. Die Lei­te­rin des Zen­trums für Kli­ma und Außen­poli­tik der Deut­schen Ge­sell­schaft für Aus­wär­tige Poli­tik hat zahl­reiche Län­der be­sucht, sie er­zählt von Hir­ten im Sahel, von Fi­schern auf den Philip­pinen – und von der Flut im deut­schen Ahrtal 2021.

Längst haben Millionen ihre Heimat ver­lassen, weil Tai­fune oder Dür­ren ihnen die Exis­tenz raub­ten. Viele blei­ben da­bei in­ner­halb ihrer Her­kunfts­län­der, so wie in Bangla­desch: Im Korail-Slum in Dhaka trifft Vinke zwei jun­ge Frau­en, die aus dem Sü­den des Landes hier­her kamen, weil ihre alte Hei­mat im­mer wie­der über­flu­tet wur­de. Aber auch in ihren Hüt­ten sind sie nicht si­cher. „Bin­nen Minu­ten“, be­schreibt Vinke einen Stark­regen, „steigt das Was­ser ge­fähr­lich hoch und schwappt lang­sam in die Hüt­te.“ So sei es hier eben, „es gibt keine rich­ti­ge Kana­li­sation“, er­klärt eine Frau. Vinke watet durch Dreck und Fä­ka­lien. Die Men­schen in den Slums wer­den nicht alt.

Und was jetzt?

„3 Grad mehr“ setzt vor allem auf „natur­ba­sier­te Lö­sun­gen“: Auf­fors­tung, nach­hal­tige Holz­nutzung, Wieder­ver­näs­sung der Moore, re­gene­ra­ti­ve Land­wirt­schaft. Zum Wich­tigs­ten aber ge­höre der Schutz des Regen­wal­des. Ein ver­bind­li­ches Ab­kom­men zum Stopp der Ab­hol­zung der Regen­wäl­der in­ner­halb der nächs­ten Jah­re könnte ein glo­ba­les Auf­bruchs­sig­nal ein, schreibt Wie­gandt: Es wür­de die CO2-Emis­sio­nen so dras­tisch re­du­zie­ren, „als würde Europa bis spätes­tens 2026 klima­neu­tral“.

Doch all das braucht Investitionen, und dafür fordern alle drei Bücher eine Um­ver­tei­lung. Die müs­se so­wohl vom glo­ba­len Nor­den in den Süden statt­fin­den als auch in­ner­halb der ein­zel­nen Län­der. „3 Grad mehr“ geht da­von aus, dass zu­min­dest zwei Pro­zent des Welt­so­zial­pro­dukts nö­tig sein wer­den, „Earth for All“ schätzt zwei bis vier Pro­zent. Nichts, was nicht zu stem­men wäre, ar­gu­men­tie­ren sie.

Nun wird jenen, die den Kampf gegen die Klima­krise ein­for­dern, ja gern vor­ge­wor­fen, sie wollten rein ideo­lo­gisch moti­viert auch gleich den so­zia­len Um­sturz durch­drücken. Aller­dings nen­nen die For­scher nach­voll­zieh­ba­re Argu­men­te: Är­mere Län­der kön­nen sich sonst kei­nen Klima- oder Wald­schutz leis­ten. Und auch in den bes­ser­ge­stellten Län­dern wer­den jene, die un­ver­hältnis­mäßig un­ter den Kos­ten etwa der Ener­gie­wende lei­den, pro­tes­tie­ren und den Kurs­wech­sel nicht mit­tra­gen. Ob in Eu­ro­pa oder den USA, in Afri­ka oder Süd­ameri­ka: Eine zu große Ver­mögens­kluft führt über­all zu De­sta­bi­li­sie­rung und Auf­stän­den, das Ver­trauen in die Re­gie­run­gen sinkt, au­tori­täre Po­pu­lis­ten ge­lan­gen an die Macht.

Um das Geld für die nötigen Investitionen zu erhalten, schlagen Wiegandt & Co vor, sol­len die Re­gie­rungen die Sub­ven­tio­nen in fos­si­le Ener­gie­trä­ger strei­chen, Mili­tär­bud­gets re­du­zie­ren und Steu­er­schlupf­lö­cher schließen. Für Deutsch­land schwe­ben ihnen vor al­lem die Fi­nanz­trans­aktions- und Erb­schafts­steuer als Hebel vor. Un­ge­recht? Zwei Zahlen aus dem Buch: In Deutsch­land war 2015 das reichs­te Zehn­tel der Be­völ­ke­rung für mehr Emis­sio­nen ver­ant­wort­lich als die ge­sam­te är­mere Hälf­te. Und: Bei drei Grad mehr wer­den die ma­teriel­len Schä­den jähr­lich min­des­tens zehn Pro­zent des Welt­sozial­pro­dukts aus­ma­chen, eher viel mehr. Da geht es auch den Aller­reichs­ten nicht mehr gut.

In „Earth for All“ lautet die Lösung: „Giant Leap“, ein Riesen­sprung. Den reichs­ten zehn Pro­zent dürfe nicht mehr als 40 Pro­zent des je­wei­li­gen Natio­nal­ein­kom­mens zu­ste­hen. In­dus­trien müs­sen da für das Nutzen von Ge­mein­gü­tern zah­len, das Geld da­raus fließt auch hier in Bür­ger­fonds und Grund­ein­kom­men. Die For­scher se­hen fünf Haupt­stra­te­gien: ex­tre­me Ar­mut be­kämp­fen, Un­gleich­heit und Gender-Gaps ver­rin­gern, die Her­stel­lung von Nah­rungs­mit­teln und Ener­gie re­vo­lutio­nie­ren. Da­mit wür­den sich die Tempe­ra­turen um 2050 bei unter zwei Grad sta­bi­li­sie­ren.

Alle drei Bücher sind dicht, kein Spaziergang – jeder sollte aber ihre we­sent­lichs­ten In­hal­te ken­nen, be­son­ders Ent­schei­dungs­trä­ger. Reiz­voll an „Earth for All“ sind die Bio­gra­fien der Mäd­chen. Die­ses Buch und „3 Grad mehr“ bie­ten so­wohl ei­nen Ge­samt­über­blick als auch Spe­zial­wis­sen zum Bauen oder zur Ener­gie­wende. Die meis­ten Men­schen ler­nen wir bei Vinke kennen.

Und unsere Mädchen? Beim „Riesensprung“ können auch Samiha und Ayotola als Kin­der in neue Woh­nun­gen um­zie­hen. Alle vier er­hal­ten gu­te Aus­bil­dun­gen, keine lebt in einem Armen­vier­tel. Auch ein sta­bi­les Kli­ma kennt keine, ex­treme Wet­ter­er­eig­nis­se ge­hö­ren zum Le­ben. Doch viel Leid wird mit­tler­weile ge­lin­dert, und die Ge­fahr eines es­ka­lie­ren­den Klima­wan­dels ist nicht mehr so groß. Wel­ches Sze­na­rio ein­tritt, das wird die Mensch­heit vor al­lem in der al­ler­nächs­ten Zu­kunft ent­schei­den: noch vor 2030.

Gerlinde Pölsler in Falter 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 32)

In dieser Rezension ebenfalls besprochen:

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