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Das Wunder von Mals 

Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet
Posted by Wilfried Allé Friday, June 4, 2021 11:35:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Alexander Schiebel

ISBN 9783960060147
Verlag: oekom verlag
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 256 Seiten
Erscheinungsdatum: 04.09.2017
Preis: € 19,60

Kurzbeschreibung des Verlags:

Pestizide! Überall auf der Welt sind sie auf dem Vormarsch. Überall? Nein! Ein von unbeugsamen Vinschgern bewohntes Dorf in Südtirol hört nicht auf, diesem Eindringling Widerstand zu leisten. Umgeben von industriellem Apfelanbau will Mals zur ersten pestizidfreien Kommune Europas werden. In einer Volksabstimmung entscheiden sich 76 Prozent der Bewohner gegen Glyphosat & Co. und für biologische Landwirtschaft und Naturschutz.
Eine 5000-Seelen-Gemeinde, angeführt von einem Dutzend charismatischer Querdenker, fordert damit eine übermächtige Allianz aus Bauernbund, Landesregierung und Agrarindustrie zum Kampf heraus. Alexander Schiebel erzählt die Geschichte dieses Aufstandes und enthüllt dadurch das streng geheime Rezept jenes Zaubertrankes, der die mutigen Malser unbesiegbar macht. Eine Inspirationsquelle für Aufständische in aller Welt – und ein lebendiges Porträt jenes kleinen Dorfes, das sein Schicksal selbst in die Hand nehmen möchte.

FALTER-Rezension

Giftige Klagen

Franz Sölkner ist schon sein Leben lang politisch aktiv. 20 Jahre lang stritt der heute 71-Jährige für die Grünen im Gemeinderat von Thal bei Graz. An der Uni war er Fachschaftsvertreter für Theologie, er engagierte sich gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf und ist heute in der Steirischen Friedensplattform aktiv. Bei Gerichtsverhandlungen ist er als interessierter Beobachter anzutreffen. Dass er selbst einmal als Angeklagter vorn im Gerichtssaal stehen würde, damit hat er nicht gerechnet.

Sölkner arbeitet auch in der „IST – Initiative SteirerInnen gegen Tierfabriken“ mit, wo vor allem Bewohner der Süd- und Oststeiermark gegen den Gestank aus und das Tierleid in großen Schweine- und Hühnerställen mobilmachen. Im April 2019 stellt die IST in Gleisdorf und Leibnitz je ein Großplakat auf. Auf dem Foto sieht man einen Traktor Flüssigkeit auf ein Feld aussprühen. Darüber der Schriftzug: „Gott schütze uns vor giftspritzenden Bauern! Keine Keime und Antibiotika auf den Tellern unserer Familien!“ Darunter: „Schluss mit der Gefährdung von Mensch, Tier und Umwelt durch die giftunterstützte Landwirtschaft!“ Sölkner erklärt sich bereit, mit seinem Namen dafür geradezustehen.

Das Motiv für die Aktion erklärt er so: „Ich halte die Industrialisierung der Landwirtschaft für eine verhängnisvolle Sackgasse. Und bei Sackgassen kommt man irgendwann an ein Ende und muss dann elendsweit zurückhatschen.“ Bald nach Aufstellen der Plakate stellt die Landwirtschaftskammer Steiermark eine Klage in den Raum, setzt die Ankündigung aber nie um. Aus der Kleinen Zeitung erfährt Sölkner jedoch, dass der Bauernbund, eine Teilorganisation der ÖVP, ihn klagt. Sie sieht alle steirischen Landwirte in ihrer Ehre beleidigt und in ihrem wirtschaftlichen Fortkommen geschädigt. Das Bezirksgericht Graz-Ost folgte der Argumentation des Bauernbundes in allen Punkten und hat Sölkner zu Unterlassung und Widerruf verurteilt.

Die Klage ist kein Einzelfall: Immer wieder landen Auseinandersetzungen um Umweltthemen, besonders über Spritzmittel, vor Gericht. Es geht um den Vorwurf von Ehrenbeleidigung und übler Nachrede auf der einen Seite, um den von Einschüchterung auf der anderen. Für die Aktivisten sind die Klagen oft existenzbedrohend. Schon hat sich ein eigener Begriff eingebürgert: Slapp-Klagen, Strategic Lawsuit Against Public Participation. Gemeint ist die juristische Form von David gegen Goliath: Klagen wie Ohrfeigen mit dem Ziel, unliebsame Kritik zu unterdrücken.

Erst vergangenen Freitag kam es im Südtiroler Bozen zu einer Wendung in einem Aufsehen erregenden Fall: Dort hatte sogar ein Landesrat, Arnold Schuler von der Südtiroler Volkspartei, gemeinsam mit Obsterzeugerorganisationen und 1376 Bauern Klagen gegen den Salzburger Autor und Dokumentarfilmer Alexander Schiebel und den Agrarwissenschaftler Karl Bär vom Umweltinstitut München erhoben. Mehr als 100 NGOs wie Greenpeace hatten daraufhin in den führenden italienischen Tageszeitungen eine Solidaritätserklärung abgegeben. Schiebel hatte in seinem Buch und Film „Das Wunder von Mals“ den hohen Pestizideinsatz auf Südtirols Apfelplantagen kritisiert. Am Freitag wurde er freigesprochen.

Weiter geht der Strafprozess jedoch für Karl Bär. Der Grund ist eine Kampagne im Sommer 2017: Auf dem Stachus, einem der prominentesten Plätze im Stadtzentrum Münchens, hatte sein Institut auf einem Plakat die Südtiroler Tourismuswerbung verfremdet, es warb für „Pestizidtirol“. Bär drohen eine Gefängnisstrafe und Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe.

Die Beispiele für Knebelklagen häufen sich: So stehen mehrere Organisationen in Europa vor Gericht, weil sie Palmölkonzerne kritisierten. Der deutsche Energiekonzern RWE will auch von einem Pressefotografen eine Entschädigung in Millionenhöhe, der dokumentiert hat, wie Umweltaktivisten die Förderbänder des Braunkohlekraftwerks Weisweiler besetzten, wodurch das Kraftwerk stillstand. Im März wurde die Französin Valérie Murat in erster Instanz zu einer Strafe von 125.000 Euro vergattert: Sie hatte Zahlen zu Pestizidrückständen in Bordeaux-Weinen veröffentlicht.

Aber fallen die inkriminierten Aussagen unter Tatbestände wie Verleumdung und Ehrenbeleidigung – oder sind sie vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt? Wer gewinnt am Ende?

„Das Plakat impliziert, dass alle Bäuerinnen und Bauern Giftspritzer sind. Unsere 40.000 Mitglieder wollen das nicht hinnehmen“, begründete der Steirische Bauernbund seine Klage. Viele erboste Bauern hätten deswegen angerufen. „Dieser Herr hat mit seiner Kollektivbeleidigung auch viele Bauernbundmitglieder tief im Inneren berührt und verletzt“, hieß es in der steirischen Bauernbund-Zeitung Neues Land.

„Absolute Empörung“ rufe die Aussage hervor, bäuerliche Produkte seien „keimverseucht“. Sölkner meine damit „zweifellos, dass Bauern eine Gesundheitsschädigung der Bevölkerung für möglich halten und sich damit abfinden“.

Juristen sind jedoch schon in der Frage uneinig, ob der Bauernbund überhaupt berechtigt ist, Klage im Namen „der Bauern“ zu führen. Schließlich vertritt er nur jene Bauern, die freiwillig bei ihm Mitglied werden.

In der Klagsschrift argumentiert er damit, dass die Beleidigung „jeden einzelnen Bauern schädigt“ und „der überwiegende Anteil der Bauern“ bei ihm Mitglied sei. Mehr noch: „Kein anderer Verein oder andere Organisation weist eine derart enge Identifizierung bzw. Beziehung zum Bauernstand auf wie die klagende Partei.“ Die meisten Menschen würden sogar mit dem Bauernstand den Bauernbund „assoziieren“. Auch die Richterin schrieb im Urteil, es sei „nicht erforderlich, dass die klagende Partei direkt der Adressat der Äußerung ist“.

Sölkners Anwalt wandte ein, dass per Gesetz nur die Landwirtschaftskammer für die Vertretung aller Landwirte zuständig sei. Auch Michael Rami, Richter am Verfassungsgerichtshof, führender Medienrechtler und Autor des Wiener Kommentars zum Mediengesetz, sagt: „Das Plakat wendet sich lediglich ganz allgemein gegen ,giftspritzende Bauern‘ und nicht gegen konkrete Landwirte. Meines Erachtens ist der Bauernbund nicht berechtigt, derartige allgemeine Äußerungen im Namen des ,Bauernstandes‘ zu verfolgen.“

Was aber darf man über Spritzmittel, Antibiotika in der Tierhaltung und andere Entwicklungen in der Landwirtschaft sagen – über die sich auch viele Wissenschaftler besorgt zeigen und gegen die sich explizit der Green Deal der EU-Kommission richtet?

Sölkner argumentierte mit Büchern und Medienbeiträgen, die den Begriff „Gift“ für Pestizide verwenden. Etwa das Buch des Wiener Ökologen Johann G. Zaller „Unser täglich Gift“. Er zitierte Berichte von Fleischtestkäufen durch NGOs, die auf einem erheblichen Teil der Proben antibiotikaresistente Keime fanden. Er führte die Dokumentation des Fernsehsenders Arte „Killerkeime – Gefahr aus dem Tierstall“ an. Die Plakate, so sieht es Sölkner, würden nur breit diskutierte Forderungen wiedergeben. Für das Totalherbizid Glyphosat habe ja gar der Nationalrat ein Totalverbot beschlossen.

Sölkner vermochte die Richterin aber nicht zu überzeugen. Sie folgte den Argumenten des Bauernbundes. „Es ist der beklagten Partei nicht gelungen, einen Nachweis für die Gesundheitsschädlichkeit von Pflanzenschutzmitteln (…) zu erbringen“, schreibt sie in der Beweiswürdigung. Auch den „Nachweis für eine Gefahr für Flora und Fauna“ habe Sölkner nicht erbracht.

Lange Passagen des Urteils befassen sich mit dem umstrittenen Glyphosat. „Namhafte Europarechtsexperten kamen zum Schluss, dass ein Totalverbot von Glyphosat nicht möglich ist. Sohin ist die Bezeichnung ,Gift‘ für Glyphosat jedenfalls unzulässig.“ Überdies sei Sölkner „jeglichen Beweis schuldig geblieben, dass sich die Bauernschaft nicht an die gesetzlichen Vorgaben“ halten würde.

In Summe sei Sölkner „kein Wahrheitsbeweis“ für die Äußerungen auf den Plakaten gelungen: „Auch nur die Richtigkeit eines Tatsachenkerns wurde nicht bewiesen.“ Die kritischen Berichte von Wissenschaftlern, die etwa Antibiotika als Gefahr für die menschliche Gesundheit sehen oder Pestizide als Bedrohung für die Artenvielfalt, anerkannte die Richterin also nicht.

Jedenfalls würden die Behauptungen „die von der Judikatur zugebilligte Polemik bei weitem übersteigen“. Summa summarum: „Die klagende Partei hat vollständig obsiegt.“

Das Bezirksgericht Graz-Ost verurteilte Sölkner somit zur Unterlassung und zum Widerruf der Aussagen auf ebenfalls zwei Großplakaten, zum Veröffentlichen einer Gegendarstellung in der Kleinen Zeitung und zur Übernahme der gegnerischen Anwaltskosten von rund 3300 Euro. Das war im März. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Sölkner hat berufen. Österreichs Bauernbund-Präsident Georg Strasser, der als Zeuge geladen war, hofft nun, dass man sich bei „weiteren ähnlich gelagerten Agitationen gegen die Bauernschaft“ an dem Urteil orientiere.

Im italienischen Bozen hat der Richter am Freitag die Beweisaufnahme gegen den Salzburger Alexander Schiebel gar nicht erst eröffnet: Der Tatbestand der üblen Nachrede liege schlicht nicht vor.

m zweiten Prozess gegen Karl Bär haben Landesrat Schuler und die Vertreter der Obstgenossenschaften ihre Nebenklägerschaft zurückgezogen. Schuler kündigte zudem an, alle Anzeigen zurückziehen und dafür die Vollmachten aller klagenden Bauern einsammeln zu wollen – zwei Bauern weigern sich jedoch bis heute. Damit geht der Prozess weiter wie gehabt.

„Wir haben uns den Gerichtssaal als Bühne nicht ausgesucht“, sagt Bär: „Aber da wir dorthin gezwungen werden, werden wir sie auch nutzen.“ Mit 88 Experten als Zeugen will er „beweisen, dass der hohe Pestizideinsatz auf Südtiroler Apfelplantagen negative Auswirkungen auf die Natur und die Gesundheit von Menschen hat“.

Mehrere der kritisierten Spritzmittel sind inzwischen verboten, und die Gerichtsverfahren haben dem Thema enorme Aufmerksamkeit gebracht. 250.000 Menschen haben für die Einstellung der Prozesse unterschrieben, das Buch über „Das Wunder von Mals“ hat zusätzliche Leser gefunden.

Immer wieder verlieren die Kläger solche Prozesse nach Jahren in letzter Instanz. Die Angeklagten werden dennoch durch die jahrelang im Raum stehende Drohung geschwächt und zermürbt. Nach einem Appell von NGOs und 32 Europaabgeordneten an die EU-Kommission arbeitet diese nun an einer EU-Richtlinie, die Justizmissbrauch durch Slapps verhindern soll.

Wie es für Franz Sölkner ausgeht, darüber muss nun der Oberste Gerichtshof (OGH) entscheiden. Der Verfassungsrichter Michael Rami sagt: „Ich kann mir kaum vorstellen, dass das Urteil dort inhaltlich Bestand haben wird. Nach gesicherter, jahrzehntelanger Rechtsprechung ist nämlich – im Lichte der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit der Äußerung – gerade in Fragen des Umweltschutzes eine besonders scharfe Ausdrucksweise zulässig.“

So sei laut OGH mit der Behauptung, wonach PVC ein „Umweltgift“ sei, lediglich ausgedrückt, dass PVC umweltschädlich sei, nicht aber, dass es giftig im Sinne der Chemikalienvorschriften sei.

In einem anderen Fall interpretierte das Höchstgericht den Vorwurf, jemand sei dafür verantwortlich, dass eine Wasserquelle „vergiftet“ worden sei, so: Er bringe damit bloß zum Ausdruck, dass wesentlich bessere Umweltstandards wünschenswert seien. „Die Rechtsprechung gibt also in derartigen Fällen dem Grundrecht auf freie Äußerung in aller Regel den Vorrang vor den Interessen des Betroffenen“, sagt der Verfassungsrichter.

Franz Sölkner verfolgt die Entwicklungen von Bozen bis Frankreich ganz genau. Was macht er, wenn er nicht recht bekommt? „Dann starte ich zur Abdeckung der Kosten eine Spendensammelaktion.“

Gerlinde Pölsler in Falter 22/2021 vom 04.06.2021 (S. 60)


Ein Dorf gegen Glyphosat

Das Südtiroler Dorf Mals will zur ersten Gemeinde Europas werden, die den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft verbietet. Bei einem Bürgerbeschluss stimmten die Malser, mitten in ihrer Apfelmonokultur, für eine Zukunft ohne Glyphosat & Co. Die Leser erfahren, wie ein paar charismatische Querdenker gegen eine Allianz aus Bauernbund, Landesregierung und Agrarindustrie ankämpfen. Autor Alexander Schiebel, der auch einen Film darüber drehte, erzählt die Geschichte klar subjektiv: „Ich will einen medialen Schutzschirm über dieses Tal und seine Menschen spannen.“ Der Südtiroler Landesrat Arnold Schuler zeigte Schiebel an – wegen „übler Nachrede“ und „Verbreitung von Falschinformationen zum Nachteil der Südtiroler Landwirtschaft“. Was das Interesse an dem Buch nicht schmälert.

Gerlinde Pölsler in Falter 49/2017 vom 08.12.2017 (S. 19)

Wie Demokratien sterben 

Und was wir dagegen tun können
Posted by Wilfried Allé Friday, May 14, 2021 8:33:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Steven Levitsky, Daniel Ziblatt

Übersetzung: Klaus-Dieter Schmidt
Verlag: Pantheon
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.08.2019
Preis: € 14,40

Rezension aus FALTER 38/2020

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt analysieren in ihrem Bestseller aus dem Jahr 2018 Stationen auf dem Weg ins Autoritäre. Sie bringen historische und aktuelle Beispiele wie Hugo Chávez in Venezuela und Viktor Orbán in Ungarn, sie nennen die Philippinen, Polen oder die Türkei und Deutschland der 1930er. Solide, gute Verfassungen sind immens wichtig, ebenso wichtig sind aber die ungeschriebenen Regeln und Normen der politischen Auseinandersetzung. Dazu gehört etwa, den politischen Gegner zwar scharf zu kritisieren, ihm aber nicht die grundsätzliche Legitimität, am politischen Prozess teilzunehmen, abzusprechen. Dazu gehört auch, schiedsrichterartige Institutionen wie Höchstgerichte nicht infrage zu stellen. Aber auch die Presse, Interessenvertretungen und die Geheimdienste. „Wer ein Fußballspiel manipulieren will, nimmt sich zuerst die Schiedsrichter vor“, schreiben die Autoren. Mainstream-Parteien, also Volksparteien der Mitte, kommt dabei eine „Wächterfunktion“ zu. So loben die Autoren etwa jene hochrangigen ÖVPler, die sich in der überparteilichen Wahlbewegung für Bundespräsident Alexander Van der Bellen engagierten, um den Extremisten Norbert Hofer zu verhindern.

Barbaba Tóth in FALTER 38/2020 vom 18.09.2020 (S. 21)

Die Verlockung des Autoritären 

Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
Posted by Wilfried Allé Sunday, April 11, 2021 11:00:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Anne Applebaum

Übersetzung: Jürgen Neubauer
Verlag: Siedler
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 12.03.2021
Preis: € 22,70


Kurzbeschreibung des Verlags:
Das neue Buch der Pulitzer-Preisträgerin Die Erschütterung der liberalen Demokratie überall auf der Welt wird gern mit der Schwäche der westlichen Werteordnung erklärt. Die Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum geht dem Phänomen auf andere Weise auf den Grund. Sie fragt: Was macht für viele Menschen die Rückkehr zu autoritären, anti-demokratischen Herrschaftsformen so erstrebenswert? Was genau treibt all die Wähler, Unterstützer und Steigbügelhalter der Anti-Demokraten an? An vielen Beispielen – von Boris Johnson über die spanischen Nationalisten bis zur Corona-Diktatur in Ungarn – und aus persönlicher Erfahrung zeigt sie, welche Bedeutung dabei soziale Medien, Verschwörungstheorien und Nostalgie haben, welche materiellen Interessen ins Spiel kommen und wie nicht zuletzt Elitenbashing und Aufstiegsverheißungen die Energien der vermeintlich Unterprivilegierten befeuern. Ein brillanter Streifzug durch ein Europa, das sich auf erschreckende Weise nach harter Hand und starkem Staat (zurück)sehnt.

Klappentext
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Die Erschütterung der liberalen Demokratie überall auf der Welt wird gern mit der Schwäche der westlichen Werteordnung erklärt. Die Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum geht dem Phänomen auf andere Weise auf den Grund. Sie fragt: Was macht für viele Menschen die Rückkehr zu autoritären, anti-demokratischen Herrschaftsformen so erstrebenswert? Was genau treibt all die Wähler, Unterstützer und Steigbügelhalter der Anti-Demokraten an? An vielen Beispielen - von Boris Johnson über die spanischen Nationalisten bis zur Corona-Diktatur in Ungarn - und aus persönlicher Erfahrung zeigt sie, welche Bedeutung dabei soziale Medien, Verschwörungstheorien und Nostalgie haben, welche materiellen Interessen ins Spiel kommen und wie nicht zuletzt Elitenbashing und Aufstiegsverheißungen die Energien der vermeintlich Unterprivilegierten befeuern.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung
Rezensent Thomas Ribi schätzt den Ansatz aus persönlichen Erfahrungen, historischem Weitblick und theoretischer Analyse, mit dem sich Anne Applebaum in ihrem Buch der Verschiebung des politischen Diskurses nach rechts widmet. Wer hinter Machtmenschen wie Putin, Erdogan, Orban und Kaczynski die Strippen zieht, erkundet die Autorin laut Ribi anhand von ehemaligen Weggefährten, Journalisten, Bloggern, Intellektuellen, Medienleuten. Was diese Menschen bewegt, sich dem Populismus zu verschreiben, macht der Band deutlich, ebenso die "Fluchtpunkte" ihrer Ideen, meint Ribi.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung
Rezensent Günther Nonnenmacher vermisst in Anne Applebaums Analyse des Rechtsrucks in Mitteleuropa, in England und den USA den Blick auf die Wähler. Applebaum konzentriert sich laut Nonnenmacher allzu sehr auf ihr eigenes Milieu, die politische Rolle der Intellektuellen, Politiker, Journalisten und Wissenschaftler, der "clercs", findet er. Deren Weg in den Nationalpatriotismus in Polen oder Ungarn kann ihm die Autorin anhand vorwiegend persönlicher Eindrücke nachvollziehbar machen. Die strukturellen Gründe für das Abrutschen in den Autoritarismus aber findet Nonnenmacher im Buch zu wenig beachtet.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur
Rezensent Marko Martin liest Anne Applebaums Einlassungen zur neuen Lust am Autoritarismus mit Bauchschmerzen. Nicht etwa, weil die Autorin zu wenig auf die Gründe für den Erfolg rechter Populisten eingeht (für Martin der einzige Einwand gegen das Buch), sondern weil sie das Milieu der intellektuellen Spindoctors hinter Trump oder Viktor Orban so genau kennt und ihren Einfluss auf die Politik differenziert und genau herauszuarbeiten weiß. Welche Folgen die von diesem Milieu propagierte Umwertung aller Werte haben könnte, zeigt die Autorin laut Martin in solcher Deutlichkeit, dass einem angst und bange wird.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Rezensentin Julia Encke sieht schwarz mit Anne Applebaums Analyse zur Frage, wie sich antidemokratische Verhältnisse in der Weltpolitik immer weiter ausbreiten konnten. Wie Applebaum am Beispiel von ehemaligen Weggefährten die Radikalisierung in der polnischen Heimat ihres Mannes schildert, findet Encke erschreckend, weil klar wird, dass die betreffenden Akteure keine Verlierer sind, sondern eine grundsätzliche "autoritäre Veranlagung" zu haben scheinen. Die strippenziehende Bildungselite hinter den politischen Akteuren in Polen, Ungarn, Spanien und den USA und ihre Methoden, die Applebaum im Buch identifiziert, machen Encke Angst, auch wenn die Autorin am Ende ihres Buches optimistisch zum Widerstand aufruft.

Digitale Jäger 

Ein Insiderbericht aus dem Recherchenetzwerk Bellingcat
Posted by Wilfried Allé Monday, February 22, 2021 11:34:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Eliot Higgins

Von nun an wird die Geschichte nicht nur mehr von den Siegern geschrieben. Auch die Besiegten, die zufälligen Passanten, die Nachbarn - sie haben Handys. Und die Flut an Nachrichten und Neuigkeiten, die aus dem Internet hereinströmt, scheint unermesslich zu sein. Aber es muss auch sorgsam sortiert uns strukturiert werden. Das erfordert zwangsläufig Vernunft und Verantwortung.

Verlag: Quadriga
Übersetzung: Wolfgang Seidel
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.02.2021
Preis: €  18,5 0
Rezension aus FALTER 7/2021

„Uns geht es darum, zur Wahrheit beizutragen“

Für einen digitalen Jäger hat die Corona-Pandemie auch Vorteile. Das Interview mit dem Falter findet automatisch auf Zoom statt. Eliot Higgins braucht sich nicht mit Sicherheitsvorkehrungen abzuplagen. Außerdem hat er seine Reisetätigkeit fürs Erste eingestellt – in England herrscht Lockdown. Weniger Auftritte im Ausland heißt auch: mehr Zeit mit seiner Familie in Leicester. Doch sorgenfrei ist Higgins deshalb nicht. Erst vor kurzem ist er aus Sorge um die Sicherheit seines Clans umgezogen. Da seine Adresse automatisch im britischen Wahlregister veröffentlicht wird, wenn er als Wähler regis­triert ist, hat er gerade für seinen Job sein demokratisches Recht geopfert, die eigene Regierung mitzubestimmen.

Falter: Herr Higgins, im Video „Ich rufe meinen Mörder an“ sitzt neben dem russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny einer Ihrer Mitarbeiter. Christo Grosev hat Nawalny geholfen, das Giftkomplott des FSB aufzuklären. Ist er jetzt auch in Lebensgefahr?

Eliot Higgins: Christo wohnt in Wien. Gerade schrieb er mir, dass ein Typ damit droht, seine volle Adresse zu veröffentlichen. Wir überlegen, ob wir die österreichische Polizei einschalten. Wir versuchen, uns immer so gut zu schützen, wie wir können. Ich habe schon bisher in Hotelzimmern nie die Mini­bar angefasst.

Seit der Recherche von Nawalny und Bellingcat zu seiner Vergiftung durch das Nervengift Nowitschok weiß man, dass auch Unterhosen nicht vor dem russischen Geheimdienst FSB sicher sind.

Higgins: Meine Unterhose muss jetzt auch in den Safe. Im Ernst, wenn mir ein nettes Hotelmanagement zur Begrüßung eine Torte ins Zimmer stellt, rühre ich die nie an. Statt in Restaurants zu essen, kaufe ich meistens traurige Sandwiches im Supermarkt.

Wieso machen Sie diesen lebensgefährlichen Job?

Higgins: Ich bin zwischen dem Ende des Kalten Krieges und der Invasion im Irak 2003 aufgewachsen. Ich verbrachte viel Zeit online. Während des Arabischen Frühlings fiel mir auf, dass sehr oft etwas gepostet wird, das weder verifiziert noch in Zusammenhang mit anderen Informationen gebracht wird. Also begann ich mir Satellitenbilder anzuschauen und sie mit den Videos zu vergleichen, die zum Beispiel auf den Liveblog des Guardian hochgeladen wurden. So begann ich zum Beispiel, den Frontverlauf in Libyen zu verstehen. Es war wie Sudokulösen oder Puzzlelegen.

Also waren Sie nicht unbedingt von journalistischem Interesse getrieben?

Higgins: Es ging mir nicht um Journalismus, ich wollte nur verbreiten, was ich an interessanten Fakten fand. Es störte mich, dass die Leute, die sich Internetquellen ansahen, oft Verschwörungstheorien anhingen. Die haben eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die Dinge. Die Irak-Invasion 2003 hat den Nahen Osten traumatisiert, viele Leute sehen bis heute alles nur durch dieses Prisma. Denen geht es nur um eine Konfrontation zwischen Ost und West und nicht um die Zivilisten, die dabei sterben. Die Mission von Bellingcat ist deshalb: Identifizieren, Bestätigen, Amplifizieren. Unsere Recherchen können dann in Artikeln oder vor Gerichten verwendet werden. Uns geht es darum, zur Wahrheit beizutragen.

Das klingt ein wenig wie Wikileaks.

Higgins: Bellingcat ist ein wohltätiger Verein, der in den Niederlanden registriert ist. Ich bin nicht der König von Bellingcat, das Board kann mich jederzeit feuern. Es geht also nicht wie bei Wikileaks um eine Person. Außerdem machen wir keine Leaks. Wir verifizieren Material, das in offenen Quellen allen zugänglich ist. Wir veröffentlichen nur, was gegengecheckt ist.

Julian Assange hat zumeist etwas veröffentlicht, was den USA geschadet hat. Sie dagegen scheinen Ihre Aufdeckungen oft gegen Putin zu richten. Ist Bellingcat eine Art Anti-Wikileaks?

Higgins: Wir haben auch die Waffenverkäufe der Briten und Amerikaner an Saudi-Arabien veröffentlicht. Mit diesen Waffen wurden im Jemen Zivilisten bombardiert. Wir sind keine leidenschaftlichen Anwälte einer Seite. Ich bin auch nicht antirussisch. Ich habe vielleicht etwas gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, weil er seinen Leuten Schreckliches antut. Ich finde, die Russen verdienen eine freie und demokratische Gesellschaft.

Wieso bekommen gerade die russischen Recherchen so viel Aufmerksamkeit?

Higgins: Vielleicht weil es oft so lächerlich ist, was der russische Geheimdienst FSB tut, dass es fast nicht zu glauben ist. Wir drehen jetzt eine Dokumentation über das Unterhosenkomplott gegen Nawalny. Dann können die Leute nachvollziehen, wie wir arbeiten. Wir bekamen die Passdaten von den Attentätern nicht vom britischen Geheimdienst MI5 oder von der CIA. Die kann man im Darknet erstehen, dort kann man sie für ein paar Rubel kaufen.

Dann sind Sie also kein CIA-Agent?

Higgins: Ich wurde schon beschuldigt, ein Agent jedes einzelnen Geheimdienstes der Welt zu sein – auch des russischen FSB. Nein, Bellingcat wird nicht von der CIA bezahlt. Begonnen haben wir mit Crowdfunding mit einem Budget von 60.000 Pfund. Seitdem verdoppelt sich das Funding jedes Jahr. Im Moment sind wir bei zwei Millionen und 20 Angestellten.

Man kann Ihre Methode – Open Source Intelligence – schon selbst lernen. Sie geben selbst Workshops?

Higgins: Genau. Wir wollen, dass Leute lernen, sich die offenen Quellen zunutze zu machen, um Verschwörungstheorien entgegenzuwirken.

Sind Regierungen Ihrer Arbeit gegenüber hellhörig geworden?

Higgins: Wir haben im EU-Parlament gesprochen. Dort sagten viele Leute zu uns, dass wir uns gegen Falschinformation aus Russland wehren müssten. Ich sagte: Nein, es geht nicht nur um Russland, was uns wirklich gefährlich werden kann, ist QAnon­. Es beunruhigt mich, wie sehr die kontrafaktischen Gemeinschaften sich in den Diskurs des Mainstreams eingeschlichen haben. Ein paar Wochen später stürmten die Trump-Anhänger das Kapitol in Washington. Das hat etwas verändert. Es ist jetzt allen klar, was passiert, wenn wir nicht gegen Fake News angehen. Russische Desinformation ist nur ein kleiner Teil dessen, wogegen wir ankämpfen müssen.

Und wie?

Higgins: Hier in Britannien habe ich gesehen, wie leicht Verschwörungstheorien über chemische Waffen in Syrien geglaubt wurden – auch vom ehemaligen Labour-Chef Jeremy Corbyn übrigens. Und in Amerika denken, habe ich gerade gelesen, 50 Prozent der Republikaner, dass die Antifa-Bewegung die gewalttätigen Ausschreitungen im Kapitol angeführt hat. Die Antifa? Ich habe Stunden mit diesen Videos aus dem Kapitol zugebracht. Es ist sonnenklar, dass das nicht die Antifa war. Das waren die Proud Boys.

Diese weißen, neofaschistischen Nationalisten kann man für ihre Gewalttaten einsperren, man kann sie auch auf Twitter sperren. Ist das aus Ihrer Sicht ausreichend?

Higgins: Nur weil Twitter und Facebook in Amerika zu Hause sind, konnte man Trump und diese Leute überhaupt sperren. Wenn Facebook eine chinesische Firma wäre, hätte man diese Konten gelöscht? Wäre Trump von einem russischen Twitter geblockt worden? Die sozialen Medien müssen natürlich auch im Westen große Schritte machen, um verantwortungsvoller mit ihrer Macht umzugehen. Wenn wir das alles nicht jetzt sofort angehen, gehen wir in unseren Problemen unter.

Tessa Szyszkowitz in FALTER 7/2021 vom 19.02.2021 (S. 24)

Das Geld gehört uns allen! 

Statt Paypal, »Libra«, AliPay: Alternativen zur digitalen Überwachung und Kontrolle
Posted by Wilfried Allé Tuesday, December 8, 2020 3:03:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Johannes Priesemann, Alfred Eibl

Kurztext: Wem steht in unserer Rechtsordnung der Nutzen des Netzwerkgutes Geld zu? Wie antworten wir auf die Überwachung und Datenausbeutung durch IT-Giganten und Staaten? Der AttacBasisText zeigt Alternativen zu digitalen Geldformen – von PayPal über »Libra« und WeChat bis AliPay –, für eine sichere und allgemein zugängliche neue Geld­ordnung.

Verlag: VSA
Format: Buch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 128 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.11.2020
Preis: € 9,30

Kurzbeschreibung des Verlags:

Geld ist ein öffentliches Gut. Seinen Nutzen eignen sich gegenwärtig zum allergrößten Teil jedoch private Akteure an. Neben die bekannten Banken treten mehr und mehr Fintechs und die großen digitalen Plattformunternehmen wie Google, Facebook, Apple, WeChat oder Alipay aus China. Das Facebook-Projekt Libra steht prototypisch für die neue Form eines Weltgeldes.

Die Informationstechnologie bringt dabei eine vollkommen neue Verteilung von Wissen und Macht über Daten menschlichen Verhaltens mit sich. Wenn Private sich den Netzwerknutzen des Geldes und – über die Kontrolle der Geldbewegungen – zugleich die Daten über das Verhalten der Nutzer*innen aneignen, wird das Risiko zur brennenden Gefahr für Würde und Freiheit.

Die Zentralbanken als Hüterinnen des öffentlichen Gutes haben es bisher nicht geschafft, auf diese Entwicklungen überzeugende Antworten zu finden. Die Alternativen sind jedoch klar: Die gesetzlichen Zahlungsmittel müssen der Anker allen Geldes bleiben. Politik und Zentralbanken haben die Verpflichtung, den dezentralen Zugang zu analogen (Bargeld, Filialbanken) Zahlungsmitteln und Dienstleistungen zu bewahren. Zugleich sind sie aufgerufen, digitale Angebote unter öffentlicher Kontrolle zu schaffen.

Das ist technisch gut möglich. Zentralbankgeld kann als elektronisches Zahlungsmittel zirkulieren und von Banken auf konkursfesten Girokonten wie bisher verwaltet werden. Der exklusive Zugriff von Banken auf digitales Zentralbankgeld ist hingegen überholt und delegitimiert. Dabei sollte jedem Menschen klar sein, dass es in der Welt der Informationstechnologie keinen absolut geschützten privaten Raum mehr geben wird. Jeder Einzelne ist zu verantwortlichem Verhalten angehalten.

Die Autoren:
Johannes Priesemann ist Jurist,
Alfred Eibl ist Finanz­experte bei Attac.

Die Kraft der Demokratie 

Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre
Posted by Wilfried Allé Friday, November 20, 2020 12:33:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Roger de Weck

Roger de Weck ist Publizist. Er hat als Journalist und Redakteur für Zeitungen wie Die Zeit und Die Weltwoche gearbeitet und war Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft.

Dies ist ein wichtiges Buch für Demokraten. Der Schweizer Publizist Roger de Weck zeigt, welche Kräfte die Demokratie gefährden und welche schmutzigen Tricks Demagogen, Rechtspopulisten und Reaktionäre anwenden, um ihre Sache voranzutreiben. Der Autor arbeitet aber auch heraus, was Demokratien widerstandsfähig macht und wie ihre Bürger und Politiker sie stärken können. Die Kraft der Demokratie ist ein wohltuendes Gegengewicht zu dumpfen Parolen und Fake News – ein lesenswertes Buch, das Optimismus weckt.

Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 326 Seiten
Erscheinungsdatum: 08.03.2020
Preis: € 24,70

Kurzbeschreibung des Verlags:
Liberale Demokratie macht unfrei, Grüne legen Waldbrände, Feministinnen sind totalitär, Reiche werden diskriminiert – das ist die verkehrte Welt der rechten Propaganda. Und während wir hitzig über solche Verdrehungen diskutieren, mutiert die Markt- zur Machtwirtschaft: Big Data und Big Money haben die demokratische Ordnung auf den Kopf gestellt. Die Wirtschaft reguliert den Staat. Rundum bedrängen Autoritäre die Demokratie. Doch warum bleiben Liberale und Linke so defensiv? Kippen die Konservativen nach rechts? Die Schwäche der Demokraten ist viel gefährlicher als die Lautstärke der Reaktionäre, warnt Roger de Weck. Sein Buch zeigt die Methoden und Schwachstellen der Rechten. Wer will, kann sie sehr wohl stoppen in ihrem Kulturkampf wider die Liberalität. Damit Gestrige nicht die Zukunft kapern, müssen Demokraten an der Demokratie von morgen arbeiten, sie aktionsfähig machen. Nur so können wir auf die Autoritären antworten, gemeinsam mit der aufstrebenden Generation Greta. Denn die Natur, sagt Bestseller-Autor de Weck, muss zur Teilnehmerin an der Demokratie werden. Sein Buch schafft Übersicht – und Zuversicht.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 29.08.2020
Was die Demokratie unter Druck setzt, erfährt Rezensent Stefan Reinecke beim Publizisten Roger de Weck. Dass der Autor in der Art eines "ausgeruhten Leitartikels" über die digitale Marktwirtschaft und den sozialen Ausgleich schreibt und im Epilog, den Reinecke für den interessantesten Teil des Buches hält, Vorschläge zur Rettung der Demokratie macht, gefällt dem Rezensenten gut. Doch so oft er einverstanden ist mit den Ausführungen im Band, so oft hätte er sich statt knapper Skizzen mehr Tiefenbohrungen gewünscht.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 17.08.2020
Rezensent Cord Aschenbrenner vergleicht zwei Verteidigungsschriften der Demokratie, die gleichermaßen idealistisch argumentieren und das Primat der Politik gegenüber der entfesselten Ökonomie wieder herstellen wollen. Während Julian Nida-Rümelin mit ruhiger Klarheit an die Sache gehe, entfalte Roger de Weck in seinem Plädoyer ein mitreißendes Temperament, freut sich der Rezensent. De Weck zufolge hat sich die Politik gegenüber der Ökonomie selbst entmachtet und die Menschen ohne Schutz den globalen Mächten der Ökonomie überlassen: Kein Wunder also, dass die Reaktionären mit ihrem "Missmutsdiskurs" punkten können. Aschenbrenner gefällt, wie de Weck das Programm der neuen Reaktionäre zerpflückt, zumal er sie sorgsam von Konservativen unterscheidet.

In der ORF-TVthek steht ein Video "Wiener Vorlesungen: Kraft und Krisen der Demokratie" sieben Tage nach Ausstrahlung (Do, 19.11.2020, 23:35 Uhr, ORF III) zur Verfügung.
https://tvthek.orf.at/profile/Wiener-Vorlesungen/13886324/Wiener-Vorlesungen-Kraft-und-Krisen-der-Demokratie/14072101

Die Rettung der Arbeit 

Ein politischer Aufruf
Posted by Wilfried Allé Wednesday, September 30, 2020 5:29:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Lisa Herzog

Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 224 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.02.2019
Preis: € 22,70


Rezension aus FALTER 40/2020

„Raus aus dem darwinistischen Dschungel“

Lisa Herzogs Karriere kennt viele „Die Erste“- und „Die Jüngste“-Momente. Sie war eine der jüngsten Philo­sophie­pro­fes­sorinnen Deutsch­lands (mit 32), sie war die erste Frau, die den Trac­ta­tus-Preis des Phi­lo­sophi­cum Lech erhielt (mit 35, im Jahr 2019). Herzogs Schwer­punkte sind po­li­tische Phi­lo­so­phie und Öko­nomie, ihr Buch „Die Zu­kunft der Ar­beit“ stand wochen­lang auf der Sach­buch-Besten­lis­te und machte sie zur Vor­den­kerin einer so­zi­aleren, ge­mein­ ohl­orien­tier­ten, fairen Ar­beits­welt.

Falter: Frau Professor Herzog, Ihr Buch „Die Rettung der Arbeit“ könnte nicht aktu­eller sein, über­all in Eu­ro­pa be­mühen sich Re­gie­rungen, Ar­beits­plätze zu ret­ten, mit im­mer neu­en Hilfs­pa­ke­ten, mit der Ver­län­ge­rung der Kurz­ar­beit – sind es am Ende die fal­schen In­stru­mente?

Lisa Herzog: So pauschal lässt sich das nicht sagen. Die Poli­tik ver­sucht vor allem, Be­ste­hen­des zu be­wahren. Sie agiert im Not­fall­modus und ver­sucht, Schäden zu mini­mieren. In mei­nem Buch schla­ge ich da­ge­gen vor, Ar­beit an­ders zu ge­stal­ten, bes­ser, ge­rech­ter. The­men wie Demo­kra­ti­sie­rung, Be­fähi­gung der Ar­bei­ten­den oder alter­na­tive Fir­men­mo­del­le sind im Mo­ment lei­der nicht auf der po­li­ti­schen Agen­da.

Sind Krisenzeiten nicht auch Zeiten, auf die ge­sell­schaft­liche Um­brüche fol­gen?

Herzog: Am Ende von Krisen­phasen stehen oft größere poli­ti­sche Ver­schie­bungen. Nehmen Sie zum Bei­spiel die Ein­führung des Frauen­wahl­rechts am Ende des Ers­ten Welt­kriegs. In Kri­sen­pha­sen wer­den Selbst­ver­ständ­lich­keiten, die vor­her un­hinter­fragt wa­ren, als ver­änder­bar er­lebt, man merkt, es könnte auch ganz an­ders sein. Da­mit fal­len ge­wis­se Ta­bus, und das kann Macht­ver­hält­nis­se ver­än­dern. Ich habe die Hoff­nung noch nicht auf­ge­geben, dass wir auch aus die­ser Kri­se etwas ler­nen und nach­hal­tige Ver­ände­rungen an­ge­stoßen wer­den. Den­ken wir nur an den Ap­plaus und die Mu­sik für die system­rele­van­ten Be­rufe. Bis dato gab es für die­se Grup­pe aber allen­falls ein­ma­li­ge Boni, keine struk­turel­len Ver­bes­se­rungen.

Das Beispiel der Super­markt­kas­sie­rerin brin­gen Sie ger­ne – aber nicht, um Aus­beu­tung zu zei­gen, son­dern dass Men­schen auch in die­sen Be­ru­fen glück­lich sind, wenn die Rahmen­be­din­gungen pas­sen. Was braucht es also?

Herzog: Es gibt eine sehr spannende Stu­die dazu, die zeigt, dass auch Super­markt­kas­siererinnen ihren Job gerne machen. Es geht ihnen nicht nur ums reine Geld­ver­dienen, son­dern auch da­rum, aus dem rein pri­va­ten Um­feld heraus­zu­kom­men, in eine Art von Öffent­lich­keit, und da­rum, einen Bei­trag für die Ge­sell­schaft zu leis­ten. Wenn Sie etwas be­klagen, dann nicht die Ar­beit an sich, son­dern die Be­din­gungen: zu wenig Mit­spra­che, Wert­schätzung, Rück­griff auf ihre Er­fah­rungen und Wis­sen. Das ist auch mein An­satz. Ar­beit ist mehr als ka­pi­ta­lis­tisches Geld­ver­dienen, es ist ein so­zia­ler Akt, den wir mit an­deren Men­schen tei­len wol­len.

Deswegen sind Sie auch gar keine flammende Befür­wor­terin eines be­dingungs­losen Grund­ein­kommens?

Herzog: Genau. Ich finde es wichtiger, um es mal in ein Wort­spiel zu fassen, statt Leute von der Ar­beit zu be­frei­en, die Ar­beit zu be­freien. In dem Sin­ne, dass sie ge­rech­ter und stär­ker parti­zi­pa­tiv und demo­kra­tisch ge­stal­tet wird. Der über­ra­schendste Zu­spruch zum Grund­ein­kom­men kommt ja aus den Vor­stands­etagen des Silicon Valley. Da deuten sich aber sehr düstere Sze­na­rien an: Stel­len wir uns vor, es gibt ein be­din­gungs­loses Grund­ein­kom­men auf einem nied­rigen Niveau, das alle an­deren So­zial­leis­tungen er­setzt und den Fir­men er­laubt, sich aus aller Ver­ant­wor­tung heraus­zu­stehlen mit dem Ar­gu­ment: Wer nicht bei uns ar­bei­ten will, kann ja mit dem be­dingungs­losen Grund­ein­kommen le­ben. Die wirt­schaft­liche Macht kon­zen­triert sich dann ganz stark auf der Ka­pi­tal­seite, die Kon­trol­le der Pro­duk­tions­mit­tel ist in der Hand ganz weni­ger, wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung sind da­von ab­hän­gig, dass Fir­men weiter­hin be­reit sind, ihre Steu­ern zu zah­len. Das würde die po­li­ti­schen Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis­se doch noch ein­mal mas­siv ver­ändern.

Was ist Ihre Alternative?

Herzog: Interessanter als das bedingungs­lose Grund­ein­kommen finde ich die Idee einer Job­ga­ran­tie. Also öffent­liche Be­schäf­ti­gungs­opti­onen zu­sätz­lich zur Grund­si­che­rung, zum Bei­spiel im So­zial- oder Um­welt­bereich. Wer seinen Job ver­liert, kann sich dann dort ein­brin­gen und weiter­ent­wickeln.

Klingt ein wenig nach real existierendem Sozia­lis­mus, würde eine Markt­libe­rale jetzt sagen.

Herzog: Das stimmt aber nicht, denn es käme ja zu keiner Ver­staat­lichung, die Pri­vat­wirt­schaft bliebe ja be­stehen. Um­ge­kehrt kommt von lin­ker Sei­te oft die Kri­tik, meine Vor­schläge würden nicht weit genug gehen, weil ich nicht da­für bin, alle Pro­duk­tions­mit­tel kom­plett zu ver­staat­lichen und ganz auf die Pri­vat­wirt­schaft zu ver­zich­ten. Aber ich glau­be, dass Märkte mas­siv ein­ge­hegt wer­den müs­sen, dass immer das Pri­mat der Poli­tik gel­ten muss und dass durch­aus mehr in der öffent­lichen Hand pas­sie­ren kann, als wir das in den letz­ten Jahr­zehnten an­ge­nom­men ha­ben.

Ist eine 35-Stunden-Woche für Sie eine Ant­wort?

Herzog: In der besten aller mögli­chen Wel­ten wäre es so, dass Men­schen fle­xi­bel ent­schei­den könn­ten, wie vie­le Wo­chen­stun­den oder auch wie viele Wo­chen im Jahr sie ar­bei­ten wol­len. Aber de facto ist es so, dass bei die­sen Fra­gen oft star­ker so­zi­aler Druck herrscht. Des­wegen sind all­gemein ver­bindl­iche Re­geln wie die 35-Stun­den-Woche sinn­voll, auch weil sie die Fra­gen nach der Ver­ein­bar­keit von Er­werbs­ar­beit und an­deren For­men von Ar­beit und damit die Ge­schlech­ter­ge­rech­tig­keit po­si­tiv be­ein­flus­sen könnten.

Wenn wir Arbeit nur als sozial und als wechsel­sei­tiges Ge­mein­schafts­pro­jekt ver­stehen, wo bleibt dann der An­trieb durch Kon­kur­renz und Ehr­geiz?

Herzog: Wir haben in vielen Be­ru­fen eher das um­ge­kehrte Pro­blem, dass es zu viel Wett­be­werb und zu viel Druck gibt. Aus der For­schung heraus ist un­klar, ob uns Wett­be­werb po­si­tiv an­treibt oder eher dazu führt, Wege ab­zu­kür­zen oder Kon­kur­ren­ten zu schaden – klar ist aber, dass ge­rade für krea­tive Tä­tig­kei­ten und für alle Ar­beiten, die in­trin­sische Mo­ti­va­tion be­nö­tigen, Druck von außen eher schäd­lich ist. Ohne ein ge­wis­ses Maß an Wett­be­werb wird es in vielen Be­rei­chen so­wie­so nie ge­hen, allein schon des­wegen, weil es mehr Be­wer­ber für be­gehr­te Po­si­­tionen gibt, als wir tat­säch­lich Leu­te in be­stimm­ten Jobs brau­chen. Das kann pro­duk­tiv sein, wenn es da­rum geht, die bes­ten Be­wer­ber für be­stimmte Po­si­tio­nen zu fin­den. Aber so wie Wett­be­werb in vie­len Be­rei­chen in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­stan­den und ge­lebt wurde, war es ein all­um­fas­sen­der Kampf aller gegen alle, wie in einem dar­wi­nis­tischen Dschun­gel, und das ist we­der pro­duk­tiv noch ge­recht.

Ein Rezept dagegen, das Sie zur Ein­hegung vor­schla­gen, nennt sich „Work­place Demo­cra­cy“. Unter­nehmen sollen sich digi­tal selbst or­ga­ni­sieren, Mit­ar­beiter ihre Chefs wählen kön­nen. Aber wol­len das auch die Chefs?

Herzog: Gute Chefinnen und Chefs sollten eigent­lich keine Angst da­vor ha­ben, von ihren Mit­ar­beiten­den auch ge­wählt zu wer­den! Digi­tale Mit­tel kön­nen ein­fach die Trans­aktions­kos­ten sen­ken und Ab­stim­mungen er­leich­tern und damit hierar­chi­sche Struk­turen an vielen Stel­len un­nötig ma­chen. Im All­tag er­lebt man das in­zwi­schen stän­dig: dass man sich über Chats schnell ab­stimmt, In­for­ma­tionen aus­tauscht, Auf­gaben ver­teilt. Das wird in vie­len Fir­men längst ge­macht. Die Fra­ge ist aber immer, wer letzt­lich das Sagen hat. Die Digi­tali­sierung führt sicher nicht auto­ma­isch zu mehr Demo­kra­ti­sie­rung und Par­ti­zi­pa­tion. Aber wenn man die Fra­ge um­ge­kehrt stellt und fragt, was hin­dert uns denn da­ran, Fir­men demo­kra­ti­scher zu ge­stal­ten, heißt es oft: Das funk­tio­niert nicht, Ent­scheidungs­pro­zes­se dauern viel zu lang. Da kommt die Digi­ta­li­sie­rung ins Spiel, denn sie bie­tet so vie­le Mög­lich­kei­ten des Tei­lens von Infor­mati­onen und der Trans­pa­renz. Das wäre zu Zei­ten der Papier­akten­sta­pel so gar nicht ge­gan­gen. Wir unter­schätzen da viel­leicht auch manch­mal, wie an­ders die Ar­beits­wei­sen schon sind.

Sie stehen gedanklich linken Parteien sicher näher als kon­ser­va­ti­ven, aber wie ste­hen Sie zu tra­di­tio­nel­len Mit­be­stim­mungs­kon­zep­ten wie Be­triebs­räten und Ge­werk­schaf­ten?

Herzog: Das sind unglaublich wichtige his­to­rische Errungen­schaften, die aber auch weiter­ent­wickelt wer­den müssen und können. Ich glau­be, wir brau­chen eine Zu­sammen­füh­rung von unter­schied­lichen Din­gen, die im Mo­ment neben­einan­derher exis­tieren: einer­seits die eta­blier­ten Mit­be­stim­mungs­struk­turen und anderer­seits all diese neu­en An­sätze wie Holo­cracy, die sich oft auch di­gi­tal unter­stützen las­sen. Der große Wert der tra­di­tio­nel­len Mit­be­stim­mung und des Ge­werk­schafts­wesens ist, dass sie wirk­lich Rechte ein­ge­for­dert ha­ben. Und ohne ge­sicherte Rechte, die man auch ein­klagen kann, wer­den auf Dauer all diese di­gi­talen, schönen par­ti­zi­pa­ti­ven Me­tho­den unsere Welt nicht wirk­lich ver­ändern, weil die Ge­schäfts­lei­tung im­mer dann, wenn es irgend­eine heikle Ent­schei­dung zu tref­fen gibt, sagen kann: An der Stel­le machen wir das nicht so.

Für Sie sind anonyme Whistleblower Helden, große Wirt­schafts­kapitäne aber nicht. Wieso?

Herzog: Wenn man sich anschaut, wie über bestimmte Leute aus der ­High­tech­in­dus­trie be­rich­tet wur­de, ist das, als wären das die neuen Royals. Die Art und Wei­se, wie Ein­zel­ne heraus­ge­hoben wer­den, ver­kennt, dass Men­schen ihre Rolle nur ­ein­nehmen können, weil andere Men­schen ­an­dere Auf­ga­ben er­fül­len und ihnen den Rücken frei­hal­ten. Wir ar­bei­ten in ­so­zi­alen ­Kon­tex­ten und bauen auf dem auf, was andere schon ge­macht ha­ben. In der Wissen­schaft wurden viele Durch­brüche ­his­to­risch ­pa­ral­lel von mehre­ren Per­so­nen er­reicht. Wenn Mark Zucker­berg Face­book nicht ­ge­star­tet ­hät­te, bin ich mir ziem­lich si­cher, dass andere etwas Ähn­liches ge­star­tet hät­ten. Und Whistle­­blower sind für mich die ­wahren Hel­den, weil sich in großen, ­kom­plexen, ar­beits­tei­ligen Sys­temen For­men von Miss­brauch sehr lange hal­ten kön­nen. Es kommt zu Kompli­zen­schaft und ­Grup­pen­den­ken. Es ist oft sehr viel ein­facher, da mit­zu­schwim­men, als zu sa­gen: „Hej, das ist ein­fach falsch und ich sage das jetzt öffent­lich.“

Warum profitieren sozialdemokratische Parteien so wenig von den Kri­sen der letzten Jahr­zehnte?

Herzog: Die Sozialdemokratie hatte sich in vielen euro­pä­ischen Län­dern auf ein eher markt­freund­liches Pro­gramm ein­ge­las­sen, damit ging der so­zial­demo­kratische Mar­ken­kern ver­loren. Viel­leicht ist auch ein Fak­tor, dass die Sozial­demo­kra­tie immer auch da­ran er­innert, dass man als Mensch ein Gemein­schafts­wesen ist und dass es auch den gemein­schaft­lichen Ein­satz für die eige­nen Rechte braucht. Da steckt viel­leicht für manche Men­schen eine ge­wis­se Kränk­ung ihrer Eitel­keit drin. Nach dem Mot­to: Du schaffst es nicht alleine. Das ist ja das, was uns der neo­li­be­rale Zeit­geist jahre­lang ein­ge­impft hat: dass man für sich alleine kämpfen müsse. Ich frage mich, ob sich das nicht lang­sam aus­ge­wach­sen hat und diese hyper­in­di­vi­dua­lis­tische Bot­schaft an Attrak­ti­vi­tät ver­loren hat. Bei Co­ro­na war ja auch sehr klar: Wir sind alle Teil einer Ge­sell­schaft. So­gar Boris Johnson hat, als er aus dem Kran­ken­haus ent­las­sen wur­de, fest­ge­stellt, dass der alte Spruch von Mar­garet Thatcher nicht stimmt, und öffent­lich ge­sagt: „There is such a thing as society.“

Barbaba Tóth in FALTER 40/2020 vom 02.10.2020 (S. 20)

Wie Demokratien sterben 

Und was wir dagegen tun können
Posted by Wilfried Allé Thursday, September 17, 2020 2:09:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Steven Levitsky, Daniel Ziblatt

Übersetzung: Klaus-Dieter Schmidt
Verlag: Pantheon
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 26.08.2019
Preis: € 14,40

Rezension aus FALTER 38/2020

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt analysieren in ihrem Bestseller aus dem Jahr 2018 Stationen auf dem Weg ins Autoritäre. Sie bringen historische und aktuelle Beispiele wie Hugo Chávez in Venezuela und Viktor Orbán in Ungarn, sie nennen die Philippinen, Polen oder die Türkei und Deutschland der 1930er. Solide, gute Verfassungen sind immens wichtig, ebenso wichtig sind aber die ungeschriebenen Regeln und Normen der politischen Auseinandersetzung. Dazu gehört etwa, den politischen Gegner zwar scharf zu kritisieren, ihm aber nicht die grundsätzliche Legitimität, am politischen Prozess teilzunehmen, abzusprechen. Dazu gehört auch, schiedsrichterartige Institutionen wie Höchstgerichte nicht infrage zu stellen. Aber auch die Presse, Interessenvertretungen und die Geheimdienste. „Wer ein Fußballspiel manipulieren will, nimmt sich zuerst die Schiedsrichter vor“, schreiben die Autoren. Mainstream-Parteien, also Volksparteien der Mitte, kommt dabei eine „Wächterfunktion“ zu. So loben die Autoren etwa jene hochrangigen ÖVPler, die sich in der überparteilichen Wahlbewegung für Bundespräsident Alexander Van der Bellen engagierten, um den Extremisten Norbert Hofer zu verhindern.

Barbaba Tóth in FALTER 38/2020 vom 18.09.2020 (S. 21)
 

Rezension von: Timo Brandt

25.10.2018

"Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder Ministerpräsidenten, die eben jenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht gebracht hat. […] Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne. […] Wenn die Zusammenbrüche von Demokratien in der Geschichte uns eines lehren, dann, dass extreme Polarisierung für Demokratien tödlich ist.” Aus dem Vorwort des Buches “So geht also die Freiheit zugrunde – mit donnerndem Applaus.” Padmé Amidala, Star Wars Episode III Wenn man popkulturelle Referenzen nicht scheut, dann könnte man die letzten 20 Jahre als palpatinische Periode bezeichnen. Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin, Hugo Chávez und nicht zuletzt Donald Trump – dies nur die populärsten Beispiele für Staatschefs, die demokratisch gewählt wurden und danach begangen, die demokratischen Strukturen so zu schwächen oder zu verbiegen, dass sie ihren Machterhalt sichern und keine offene, pluralistische Demokratie mehr gewährleisten. Auch in Ländern, in denen noch keine Autokraten regieren, gibt es verstärkt autokratische Bewegungen. Noch ist die Welt nicht so düster wie das Titelblatt, aber wer wirklich in einer offenen Gesellschaft leben will, der hat es dieser Tage in vielen Ländern der Welt immer schwerer. Von einer Krise der Demokratie zu reden ist also angebracht, aber letztlich steckte die Demokratie schon immer in der Krise – nur weil sie das fairste und vernünftigste, ja sogar beste politische System ist, heißt das nicht, dass sie auch das einfachste ist oder das am wenigsten anfällige. Ganz im Gegenteil. Demokratien sind komplex und stets bedroht. Schon kleinste Ungleichgewichte oder kurzfristige Veränderungen können sie aus der Bahn werfen. Und die Demokratie ist zwar oft gegen Angriffe von außen, aber meist sehr schlecht gegen Angriffe von innen gewappnet. Was einmal demokratisch legitimiert ist, kann die Demokratie an empfindlichen Stellen erreichen und ihr dort schaden. “Wer nicht aus der Geschichte lernt, der ist gezwungen, sie zu wiederholen” – dieser Aphorismus könnte in fetten Lettern als Credo auf der ersten Seite dieses Buches stehen. Denn die Autoren unternehmen nicht nur eine Analyse der Gegenwart, die sich vor allem auf Trump und seine Gefahr für die amerikanische Rechtsstaatlichkeit konzentriert, sondern greifen viele anschauliche Beispiele aus der Historie auf, um zu zeigen, wie Demokratien in den letzten 100 Jahren “gestorben” sind, wie es dazu kommen konnte. Dabei werden im Akkord Nägel auf dem Kopf getroffen. Zu sagen, dieses Buch sei schlicht gut, wäre eine Untertreibung und doch könnte man es eigentlich dabei belassen: es ist schlicht ein gutes Buch, im Schreibstil, in der Argumentation, in der Anschaulichkeit. Die Autoren argumentieren keinen Moment lang ideologisch, sondern stellen lediglich fest, führen an, belegen. Sie weisen undemokratisches Verhalten nicht nur in den faschistischen Regimen der 20er, 30er und 40er Jahre oder den heute von Autokraten regierten Staaten nach, sondern auch in den US-amerikanischen Südstaaten der 1880er und 1890er Jahre und an anderen, teilweise überraschenden Orten. Das ganze Buch erarbeitet ein klares Spektrum antidemokratischer Instrumentarien und ermittelt viele alarmierende Beispiele für ihre Anwendung in unserer Zeit. Dabei ergeben sich (zumindest für mich) wie von selbst Parallelen zu anderen Erscheinungen, auch in der eigenen Demokratie. So martialisch der Titel auch klingen mag – er ist gerechtfertigt. Demokratien können sterben und wer ihre drohende Anfälligkeit nicht bemerkt oder sich nicht dagegen wehrt, sie als krank oder als angeschlagen zu betrachten, der hilft durchaus dabei sie zu töten. Donald Trump kam an die Macht, obgleich er in vielerlei Hinsicht als problematische Figur bekannt war – viel zu selten wurde er als antidemokratisch wahrgenommen und von diesem Aspekt geht die eigentliche Gefahr bei ihm aus. Wieder mal so ein Buch, das eigentlich jeder lesen sollte. Es werden wohl wieder nur die lesen, die eh schon ahnen, was auf uns zurollt. Vielleicht ist dies hier nur ein weiteres Testament. Ich hoffe, dem ist nicht so.

Volksaufstand und Katzenjammer 

Zur Geschichte des Populismus
Posted by Wilfried Allé Wednesday, June 17, 2020 8:03:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Kolja Möller

Verlag: Wagenbach, K
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 160 Seiten
Erscheinungsdatum: 12.03.2020
Preis: € 18,50

 

Kurzbeschreibung des Verlags:

Schon Niccolò Machiavelli, Friedrich Schiller, Richard Wagner, Friedrich Engels und Karl Marx haben die Probleme von populistischen Bewegungen nachgezeichnet. Kolja Möller nutzt die historischen Erkenntnisse für eine Gegenwartsanalyse, die zeigt, wie der Populismus als Politikform funktioniert: Was ist unter »Populismus« zu verstehen? Wie schwankt der Appell ans Volk zwischen demokratischer und autoritärer Politik? In welchem Verhältnis steht der Populismus zur Verfassungsordnung, und welche Kommunikationstechniken wenden rechtspopulistische Bewegungen heute an? Das Buch skizziert die Hoffnung, dass ein guter Aufstand, der sich an den Widersprüchen unserer Zeit – wie Klimawandel und Globalisierung – orientiert, die autoritäre Welle noch einholen könnte. Kolja Möller forscht am Zentrum für europäische Rechtspolitik der Universität Bremen zur Verfassungs- und Staatslehre sowie zur politischen Theorie und Soziologie. Zuvor arbeitete er unter anderem am Exzellenzcluster ››Normative Ordnungen‹‹ der Universität Frankfurt, war Research Fellow an der Universität Brasilia und der University of New South Wales in Sydney. Bei Wagenbach außerdem lieferbar: »Globale soziale Rechte«, gemeinsam mit Andreas Fischer-Lescano.

Mythos Bildung 

Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft
Posted by Wilfried Allé Wednesday, June 3, 2020 7:36:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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von Aladin El-Mafaalani

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 13.02.2020
Preis: € 20,60

 

Rezension aus FALTER 23/2020

Vom Start weg nicht mit gleichen Chancen unterwegs

Seit es internationale Bildungsvergleichsstudien gibt, vor allem seit der ersten PISA-Testung im Jahr 2000, wissen wir, dass hierzulande die Bildungsungerechtigkeit größer ist als in den meisten vergleichbaren Ländern. Daran hat sich seither wenig geändert. In den letzten Wochen hat uns die Coronakrise mit aller Vehemenz darauf hingewiesen. Einige Wochen vorher ist dazu ein Buch erschienen, das aktueller nicht sein könnte. Der Erziehungswissenschaftler und Soziologe Aladin El-Mafaalani, der an der Universität Osnabrück den Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft innehat, behandelt zwar die Situation in Deutschland, doch lässt sich fast alles eins zu eins auf Österreich übertragen, mit Ausnahme der weitaus höheren Kompetenzen der deutschen Länder. El-Mafaalani weist anhand von zahlreichen Studien (beeindruckende 20 Seiten Literaturverzeichnis) nach, dass der Zusammenhang zwischen Herkunft und Zukunftschancen in kaum einem anderen vergleichbaren (OECD-)Land so hoch ist wie in Deutschland. Von Chancengleichheit könne aber nach wie vor keine Rede sein. Diese Ungleichheit ist strukturell zugrunde gelegt. Ein in den Grundzügen meritokratisches System wie das deutsche fokussiert auf die tatsächlich entwickelten Kompetenzen und Leistungen und sieht Chancengleichheit dann gegeben, wenn jeder Mensch nach seinen Fähigkeiten in der Gesellschaft positioniert ist. Inwieweit aber wirklich gleiche Startchancen vorlagen, wird nicht gefragt. Hier beginnen aber genau die Probleme, denn Kinder mit schlechten Startchancen kommen bereits mit erheblichen Entwicklungsrückständen in die Grundschule, an deren Ende sind es zwei Jahre. Aber nicht nur das: Studien (auch für Österreich) weisen nach, dass diese Kinder selbst bei gleichen Leistungen strenger beurteilt werden. Besonderes Gewicht hat auch die Rolle der Eltern, deren aktive ­Mitarbeit an der ­Leistungsentwicklung der Schüler und Schülerinnen im System vorausgesetzt wird, wodurch sich die Tendenz zur „Vererbung“ von Bildungsaffinität und sozialer Ungleichheit weiter verstärkt. ­Gleichzeitig wird das traditionelle Familienbild konserviert, klassische Rolle der Frau inbegriffen. Scharf kritisiert El-Mafaalani auch das Festhalten an der Halbtagsschule, die die Institution Schule bis heute prägt und die Gleichstellung von Mann und Frau nachhaltig beeinträchtigt. Die frühe Trennung im Alter von zehn Jahren hat klar belegbare Effekte hinsichtlich sozialer Ungleichheit, wenngleich keine Wirkung auf die Leistungsfähigkeit eines Schulsystems insgesamt nachgewiesen werden konnte. Wie kann man es besser machen? Dazu bringt der Autor im letzten Kapitel eine Reihe von sehr brauchbaren Ansatzpunkten, wie die Fokussierung auf den Bereich der Frühkindförderung und die Grundschule sowie darauf, was er die „Mikrosysteme“ von Schulen nennt. Interdisziplinäre und multiprofessionelle Teams arbeiten an den jeweiligen Standorten in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Elterngespräche müssen verstärkt stattfinden, allerdings anlasslos und niederschwellig. Das Ziel, die Chancen von Kindern aus benachteiligten Elternhäusern und Milieus zu verbessern, darf nicht gegen die Eltern verfolgt werden, sondern muss mit ihnen umgesetzt werden. Dafür braucht es einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Nicht nur in Deutschland, sei mit Nachdruck angemerkt. Fazit: „Mythos Bildung“ ist ein ausgesprochen wichtiges Buch und nicht nur allen Interessierten zur Lektüre empfohlen, sondern vor allem den politisch Verantwortlichen. Höchste Zeit nämlich, dass das Thema Gerechtigkeit und Chancengleichheit in der Bildung endlich zum vorrangigen Bildungsziel wird.

Heidi Schrodt in FALTER 23/2020 vom 05.06.2020 (S. 15)

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