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Krise 

Wie Nationen sich erneuern können

von Jared Diamond

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Übersetzung: Sebastian Vogel
Übersetzung: Susanne Warmuth
Verlag: S. FISCHER
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 464 Seiten
Erscheinungsdatum: 22.05.2019
Preis: € 26,80
 
Kurzbeschreibung des Herstellers:

Nach den Bestsellern »Arm und Reich« und »Kollaps« zeigt der Pulitzer-Preisträger Jared Diamond in seinem neuen und bisher persönlichsten Buch, wie Nationen mit den gegenwärtigen Krisen – Klimawandel, soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Polarisierung – erfolgreich umgehen können. Sie müssen Krisen bewältigen wie Menschen persönliche Schicksalsschläge! Anhand der deutschen Nachkriegsgeschichte, Chiles Umgang mit der Diktatur Pinochets, Japans erzwungener ökonomischer Öffnung 1853 und weiterer historischer Beispiele zeichnet Diamond die Muster nach, wie sich Staaten von tiefgreifenden Erschütterungen erholen. Dabei wird deutlich: Bei der Bewältigung von Krisen sind ähnliche Faktoren entscheidend wie beim Umgang mit individuellen Traumatisierungen: sich eingestehen, dass man in einer Krise steckt; eine ehrliche Bestandsanalyse betreiben, statt sich als Opfer zu stilisieren; die Probleme eingrenzen; Hilfe annehmen und bereit sein, aus Krisen anderer zu lernen. Letztlich gilt es, sich zu verändern, ohne alles infrage zu stellen. Ein Buch zur rechten Zeit, das erklärt, wie Nationen an Krisen wachsen und Hoffnung für die Zukunft macht. Jared Diamond Jared Diamond, 1937 in Boston geboren, ist Professor für Geographie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Evolutionsbiologie. In den letzten 25 Jahren hat er rund ein Dutzend Expeditionen in entlegene Gebiete von Neuguinea geleitet. Für seine Arbeit auf den Gebieten der Anthropologie und Genetik ist er mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Pulitzer-Preis. Nach ›Der dritte Schimpanse‹, ›Arm und Reich‹, ›Warum macht Sex Spaß?‹ und seinem Bestseller ›Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen‹, hat er zuletzt 2013 im FISCHER Taschenbuch ›Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können‹ (17732) veröffentlicht. Literaturpreise: Britain's Rhône-Poulenc Prize for Science Books 1998, Pulitzer-Preis 1998, Lannan Literary Award 1999, Dickson Prize für Wissenschaft 2006, Wolf-Preis für Agrarwissenschaft 2013
Posted by Wilfried Allé Sunday, July 14, 2019 11:42:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Die Gesellschaft des Zorns 

Rechtspopulismus im globalen Zeitalter

von Cornelia Koppetsch

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Verlag: transcript
Format: Taschenbuch
Genre: Soziologie/Politische Soziologie
Umfang: 288 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.05.2019
Preis: € 19,99
 
Kurzbeschreibung des Herstellers:

Was noch in den 1990er Jahren undenkbar war, ist mittlerweile Alltag: Ganze Bevölkerungsgruppen verlassen den Boden der gemeinsamen Wirklichkeit, kehren etablierten politischen Narrativen zornig den Rücken oder bestreiten gar die Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens. Der Aufstieg des Rechtspopulismus markiert nach Dekaden der Konsenskultur eine erneute Politisierung der Gesellschaft.
Gängige Erklärungen für die Entstehung des Rechtspopulismus ziehen die Ereignisse der Fluchtmigration von 2015 oder vorgebliche Persönlichkeitsdefizite seiner Anhänger als Ursachen heran. Cornelia Koppetsch dagegen sieht die Gründe in dem bislang unbewältigten Epochenbruch der Globalisierung. Wirtschaftliche, politische oder kulturelle Grenzöffnungen werden als Kontrollverlust erlebt und wecken bisweilen ein unrealistisches Verlangen nach der Wiederherstellung der alten nationalgesellschaftlichen Ordnung. Konservative Wirtschafts- und Kultureliten sowie Gruppen aus Mittel- und Unterschicht, die auf unterschiedliche Weise durch Globalisierung deklassiert werden, bilden dabei eine klassenübergreifende Protestbewegung gegen die globale Öffnung der Gesellschaft. Cornelia Koppetsch, geb. 1967, ist seit 2009 Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie und promovierte in Soziologie bei Martin Kohli und Wolf Lepenies am Graduiertenkolleg »Gesellschaftsvergleich« der Freien Universität Berlin. Weitere wissenschaftliche Stationen waren die University of Chicago, die Universität Jena und die HU Berlin. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialen Ungleichheiten, der Geschlechterverhältnisse in Paarbeziehungen, der Biografieforschung sowie des Aufstiegs der neuen Rechtsparteien.

Cornelia Koppetsch im Gespräch mit Joachim Scholl in deutschlandfunkkultur.de  ->

Posted by Wilfried Allé Sunday, July 14, 2019 9:59:00 PM Categories: Soziologie/Politische Soziologie
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Die Honigbiene 

von Kirsten Hall

Die Honigbiene

Illustrationen: Isabelle Arsenault
Übersetzung: Anna Schaub
Empf. Lesealter: ab 4 Jahre
Verlag: NordSüd Verlag
Format: Hardcover
Genre: Kinder- und Jugendbücher/Erzählerische Bilderbücher
Umfang: 48 Seiten
Erscheinungsdatum: 07.03.2019
Preis: € 16,50

Rezension aus FALTER 26/2019

Das Leben der wilden Bienen scheint nur idyllisch

Das Leben der Biene ist ein Fest: Das äußert sich hier verbal in Reimen und illustratorisch in der Dominanz der Bienenfarben Gelb und Schwarz. Man sieht nicht nur, wie die Bienen Nektar ernten und nach Hause tragen, sondern auch, wie sie Honig machen und ihn in Waben verstauen. "Wir müssen ihn schützen. Er wird uns noch nützen", sagen sie. Dass diese Idylle von Menschen gestört wird, die den Honig mopsen und den Bienen dafür schnöden Zucker geben, kommt in dieser reizenden Geschichte nicht vor, denn offenbar handelt es sich um wilde Bienen, ihr Stock hängt hoch in einem Baum. Und auf der letzten Seite wendet sich die Autorin an die kleinen Leser und erklärt ihnen auch, dass diese gefährdet sind und wie sie ihnen helfen können: indem sie zum Beispiel Wildblumen pflanzen oder einen Brief an Lokalpolitiker schreiben.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 26/2019 vom 28.06.2019 (S. 46)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, June 26, 2019 7:46:00 PM Categories: Erzählerische Bilderbücher Kinder- und Jugendbücher
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Rettet den Boden! 

Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen

von Florian Schwinn

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Verlag: Westend
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 240 Seiten
Erscheinungsdatum: 04.06.2019
Preis: € 24,70

 

Rezension aus FALTER 25/2019

Am Boden bleiben, erdverbunden oder geerdet sein: Durch die Sprache wird uns bewusst, wie wichtig die Ressource Boden ist. Beim Strukturwandel der Landwirtschaft zur Industrie habe die Branche an Bodenhaftung verloren, meint Florian Schwinn, mit drastischen Folgen für Klima, Pflanzen, Tiere und Bauern. Der Bauernbund sei kein guter Partner, um das zu ändern. Er warne immer nur vor einer Preissteigerung bei den Lebensmitteln. Doch genau die wäre im Sinne der Bauern, um nicht von Krediten abhängig zu sein. Die derzeitigen europäischen Agrarsubventionen seien inspirationslos und kontraproduktiv, moniert Schwinn.

Sein eindrücklicher Appell für eine „Humuswende“ zur Rettung der noch verbleibenden fruchtbaren Böden wartet nebenbei auch noch mit spannenden Geschichten über den Landraub in Rumänien, die Selbstmordrate unter französischen Bauern oder das Sexualleben des Regenwurms auf.

Juliane Fischer in FALTER 25/2019 vom 21.06.2019 (S. 34)

Posted by Wilfried Allé Thursday, June 20, 2019 10:05:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Erziehung prägt Gesinnung 

Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte - und wie wir ihn aufhalten können

von Herbert Renz-Polster

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Verlag: Kösel
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 320 Seiten
Erscheinungsdatum: 25.03.2019
Preis: € 20,60

 

Rezension aus FALTER 22/2019

„Harter Erziehung folgt härtere Politik“

Herbert-Renz Polster analysiert den Zusammenhang von autoritärer Erziehung und Rechtspopulismus

Das weltweite Erstarken von autoritären Parteien und Führern wird zumeist auf äußere Faktoren zurückgeführt: soziale und wirtschaftliche Benachteiligung sowie die Globalisierung. Der deutsche Kinderarzt Herbert Renz-Polster, der mit seiner Familie sieben Jahre in den USA gelebt hat, gibt sich damit nicht zufrieden. Denn den Verlockungen von rechts, lautet seine These, erliegen von den USA über Europa bis in die Türkei auch Gutsituierte, während viele „Abgehängte“ populistischen Angeboten widerstehen.

Der Falter sprach mit Herbert Renz-Polster am Telefon über die Wurzeln des Autoritarismus in der Kindheit, über die Frage, wie man dessen Erstarken entgegenwirken kann und über den Unterschied zwischen der rechtspopulistischen deutschen AfD und der heimischen FPÖ.

Falter: Was hat Erziehung mit Politik zu tun?

Herbert Renz-Polster: Erziehung ist eminent politisch, denn sie hat immer auch damit zu tun, wie wir Kinder auf die Gesellschaft vorbereiten.

Warum sind immer mehr Menschen gerade jetzt anfällig für autoritäre Haltungen und Parteien?

Renz-Polster: Wir hatten ja zunächst eine sehr ruhige Fahrt durch die Nachkriegszeit mit einer Liberalisierung und Öffnung der Gesellschaft. Dann, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, haben wir für die globalisierte Konsumökonomie ein Betriebssystem gewählt, das Investoren beglückt, die Gemeinschaft aber vernachlässigt. Die letzten 15 Jahre waren geprägt vom Fallout einer ungehemmten Globalisierung. Die Ungleichheit nimmt zu, und die wenigen, die weltweit entscheiden, tragen keine soziale Verantwortung. Wenn die Nationalstaaten vor globalen Investoren zittern, entsteht bei vielen Bürgern eine tiefgreifende Verunsicherung: Moment einmal, wer sorgt hier eigentlich für meine Zukunft?

Entsteht die neue Unsicherheit also aus der sozioökonomischen Situation?

Renz-Polster: Nicht allein, das zeigt sich an der schizophrenen Programmatik der neuen rechten Protestbewegung. Wir steuern ökonomisch auf einen neuen Feudalismus zu, und die ökologische Situation spitzt sich zu. Aber um was geht es in den rechten Parteiprogrammen? Nicht um soziale Fragen oder die Umwelt. Es geht um Identität: um Kopftücher, Religion, Genderfragen, Homosexualität, Juden – um Dinge, von denen wir dachten, die seien abgehandelt. Bei so viel Irrationalität sollten wir tiefer bohren. Und wo wir suchen müssen, zeigt sich für mich an den Grundmotiven, die nun von den Rechten verhandelt werden.

Welche Themen sind das?

Renz-Polster: Im Rechtspopulismus geht es im Wesentlichen um drei Fragen: Anerkennung, Sicherheit und Heimat. Bei der Ankennung geht es darum, eine Stimme zu haben, bei der Sicherheit um die böse Welt da draußen, vor der wir uns schützen müssen: vor Flüchtlingen etwa, und jetzt sogar vor Wölfen. Beim Thema Heimat geht es um die Frage: Wo gehöre ich dazu? Damit sind wir mittendrin in Kindheitsfragen: Anerkennung, Sicherheit und Zugehörigkeit sind ja das dreigestaltige Grundmotiv der Kindheit! Wahlslogans wie „Make America great again!“ oder „Take back control“ in Großbritannien zeugen von der Sehnsucht, Kontrolle zurückzuerlangen. Dahinter steckt das Gefühl, klein und ausgeliefert zu sein. Die typisch autoritäre Sehnsucht nach Struktur, Ordnung und Reinheit, nach Hierarchie und einem Führer hat hier ihren Grund.

Was bedeutet Autoritarismus?

Renz-Polster: Unter Autoritarismus versteht man die Neigung, sich Normen und Konventionen zu unterwerfen, und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht zu dieser Ordnung gehören. Charakteristisch für autoritäre Persönlichkeiten sind erhöhte Ängstlichkeit, Stressbereitschaft und negative Bewertungen. Daraus resultiert eine Anfälligkeit für die Versprechen autoritärer Führer von Kontrolle, Macht und Stärke und Feindbildern.

Was hat das konkret mit Kindheit zu tun?

Renz-Polster: Wenn die innere Sicherheit aus der Kindheit fehlt, werden äußere Angebote umso wichtiger: Hautfarbe, Ethnie, Nation, das Versprechen von zukünftiger oder vergangener Größe. Wenn man einen groben Raster über die Erde wirft und die autoritären Regimes aufleuchten lässt, dann deckt sich das stark mit den Regionen, in denen Kinder gewaltsam unterdrückt werden. In der westlichen Welt stellt die USA einen Vorreiter dar, weil hier autoritäre Haltungen deutlich stärker ausgeprägt sind als in Europa. Die 22 Bundesstaaten, in denen sich die meisten Menschen für die Züchtigung von Kindern aussprechen, sind alle an US-Präsident Trump gegangen. Das bedeutet, dass dort, wo harte Erziehungshaltungen vorherrschen, auch die Anfälligkeit für autoritäre politische Entscheidungen hoch ist.

Sie sagen, dass wir in der Politik „Familie spielen“. Was bedeutet das?

Renz-Polster: Das erste Gesellschafts- und Herrschaftsmodell, das Kinder kennenlernen, ist die Familie. Dort sind Kinder abhängig und lernen zum ersten Mal den Umgang mit Macht und Beziehungen kennen: Wie es ist, regiert zu werden – und was eine „normale Regierung“ bedeutet. Wer eine Ordnung kennenlernt, in der er nicht zu Wort kommt oder bei seinem Aufwachsen beständig Scham und Kränkung erlebt, wird sich als schwach, als machtlos empfinden – und auf eine lebenslange Reise geschickt, dieses Vakuum zu füllen.

Beruht eine strenge Erziehung auf Gehorsam und körperlicher Züchtigung?

Renz-Polster: Es ist ein bisschen komplizierter. Das lässt sich am Unterschied zwischen den alten und neuen Bundesländern in Deutschland gut zeigen. Nach dem Mauerfall stellten Forscher fest, dass Jugendliche aus der DDR deutlich stärker autoritäre Meinungen hatten. In der DDR war aber körperliche Züchtigung vom Staat ausdrücklich nicht erwünscht, da man die Kinder ja auf den Sozialismus vorbereiten wollte. Aber Kinder waren in der DDR sehr früh in nach heutigen Standards unzureichenden Einrichtungen untergebracht, wo die eigene Stimme nicht zählte und sie lernten, sich unterzuordnen. Auch eine programmierte Kindheit ist autoritär. Der Zulauf zur rechtspopulistischen AfD in den neuen Bundesländern hat auch mit diesem Erbe zu tun.

Warum hat der Autoritarismus auf dem Land und bei Männern einen Überhang?

Renz-Polster: Das hat damit zu tun, dass das Land im kulturellen Wandlungsprozess immer ein bisschen hinterherhinkt, weil die Liberaleren und Jüngeren abwandern und die weniger Weltoffenen, Ängstlicheren zurückbleiben. Das sind zumeist Männer, denn die jungen Frauen gehen weg. Dazu kommt, dass auf dem Land das Movens des kulturellen Wandels fehlt: die Begegnung mit dem Anderen, und zwar in einem förderlichen, kooperativen Kontext. Dasselbe Problem wie bei der Landflucht haben wir bei der Binnenmigration in der EU, der Abwanderung von Ost nach West.

Insgesamt gehen wir heute besser mit Kindern um. Trotzdem gibt es einen Rechtsruck?

Renz-Polster: Wir haben heute zwar neue rechtspopulistische Parteien, und doch leben wir gerade in Mitteleuropa in den liberalsten, offensten Gesellschaften, die es auf diesem Boden jemals gab. Der AfD und der FPÖ zum Trotz haben autoritäre Haltungen abgenommen! Würden wir etwa die „Gastarbeiter“ heute so behandeln wie in der Zeit des Wirtschaftswunders? Nie und nimmer! Aber damals wurde der Autoritarismus politisch kaum aktiviert, weil es sozioökonomischen Rückenwind gab: gute Jobs, Aufstiegschancen, eine stabile Mittelschicht mit gemeinsamen Interessen. Heute aber wankt diese Anerkennungs- und Sicherheitsarchitektur: Im Zuge der Globalisierung hat der Staat an Sicherungskraft verloren, aus Facharbeitern sind Leiharbeiter geworden, die Männer fühlen sich durch Jobverlust und den Feminismus bedroht. Das führt dazu, dass Ängste stärker ansprechbar sind. Der Kettenhund, der keinen Anlass hatte zu bellen, ist erwacht.

Der Autoritarismus beginnt also sowohl innen als auch außen?

Renz-Polster: Genau, innen und außen sind hier untrennbar verbunden. Die Verletzlichkeit gegenüber externen Verlockungen wie den Sicherheitsangeboten rechter Parteien wird in der Kindheit angelegt. Ob sie zum Tragen kommt, hängt von äußeren Umständen ab. Ich verstehe die Kindheitsthese deshalb nicht als „neue Erklärung“ für den Autoritarismus, sondern als Ergänzung: Äußere Umstände sind Auslöser, die Ursache aber liegt in der Kindheit.

Wenn alles aus der Kindheit kommt, kann man dann nichts für seine Gesinnung?

Renz-Polster: Die Wege von der Kindheit zu unseren Gesinnungen sind vielfältig und haben viele Abzweigungen. Manche Menschen erleben später Beziehungen, die die ursprünglichen überschreiben, oder machen positive Erfahrungen in neuen Rollen. Manche Menschen, die eine harte Kindheit hatten, ziehen sich zurück und wollen nichts mit Politik zu tun haben. Andere suchen sich Menschen aus, die sie ausgrenzen können, wie etwa die Migranten. Erziehung begründet keinen Determinismus.

Welches Kindheitsgepäck bringen Migranten seit dem Herbst 2015 mit?

Renz-Polster: Da begegnet uns ein Paradox. Diese Migranten sind, als Gruppe betrachtet, selbst stark geprägt durch autoritäre Sozialisation, sodass es zu der fast schon kafkaesken Situation kommt, dass diejenigen, die die Flüchtlinge am meisten kritisieren, ihnen am ähnlichsten sind in punkto Homophobie, Antisemitismus oder Antifeminismus. Aber wenn zwei Fraktionen, die von Feindbildern leben, aufeinandertreffen, kommt es schwer zu Verbrüderungen. Dazu kommt: Wer in der Kindheit keine „Willkommenskultur“ erfahren hat, ist natürlich neidisch, wenn andere diese erleben. Auch hier zeigt sich das irrationale Moment, wenn am meisten kritisiert wird, dass die Flüchtlinge zum Beispiel Handys besitzen.

Wie sehen Sie die Situation des Rechtspopulismus in Österreich?

Renz-Polster: Österreich hat ein Problem. In Deutschland haben „nur“ 13 Prozent die AfD gewählt. Schwach abgeschnitten hat sie dabei vor allem bei den jungen Wählern. Auch Donald Trump hatte bei den unter 35-Jährigen nicht mal den Hauch einer Chance. Österreich hingegen macht mir Sorgen, weil die rechtspopulistische FPÖ sehr stark ist, aber auch die konservative ÖVP die Normen nach rechts verschiebt. Dazu kommt: Die Jungen stehen hinter der Programmatik beider Parteien! Die FPÖ war bei den Nationalratswahlen 2017 gar die beliebteste Partei unter den Jungen. Ich habe viele Studien angeschaut und darüber nachgedacht, warum das in Österreich so ist. Vielleicht ist die ländliche Struktur daran beteiligt, dass Erziehungshaltungen konservativer sind als etwa in Deutschland.

Sehen Sie auch bei den Protagonisten des aktuellen Ibiza-Skandals ein „Kindheitsmuster“?

Renz-Polster: Wenn man die Vergangenheit des zurückgetretenen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache recherchiert, stößt man auf eine von Beziehungsabbrüchen und autoritären Mustern belastete Kindheit: Der Vater verlässt die Familie, als der Bub gerade drei ist, mit sechs kommt er auf ein strenges Internat, mit 15 Schulabbruch, mit 17 findet er neue Väter in den Burschenschaften, deren Ideologie ihn anspricht. Zu Johann Gudenus habe ich vergleichsweise wenig gefunden, aber schon die Tatsache, dass er einen Vater hatte, der KZ-Überlebende offen verhöhnte, lässt tief blicken.

Mit welcher Erziehung vermeidet man die Entstehung autoritärer Persönlichkeiten?

Renz-Polster: Indem man die Kinder die bereits angesprochenen Grundlagen erfahren lässt: Anerkennung, Sicherheit und Zugehörigkeit. Die Botschaft muss lauten: Du bist okay! Du wirst nicht beschämt! Du darfst mitreden! Ich bringe dich nicht in Not! Wenn du Kummer hast, bin ich für dich da! Ich überlasse dich nicht emotionalen Stresssituationen, die du nicht bewältigen kannst!

Und wie bekämpft man Autoritarismus im institutionellen Bereich?

Renz-Polster: Kinder, die diese Sicherheiten in ihrer Familie nicht vorfinden, müssen sie in Einrichtungen wie Krippen, Kindergärten und Schulen erhalten mit der Botschaft: Wir stehen zu dir! Du kannst uns vertrauen! Wir haben verlässliche Beziehungen! Kinder verbringen heute mehr Zeit in Institutionen. Hier darf es deswegen nicht mehr nur um die Vermittlung von formaler Bildung und die Auslese von Gewinnern gehen, sondern muss den Kindern ein emotionales Fundament vermittelt werden: mit sich klarzukommen, mit anderen auszukommen, kreativ zu werden, eine Stimme auszubilden. Nur durch eine solche Erziehung zur Mündigkeit ist man geschützt vor autoritären Verlockungen.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 22/2019 vom 31.05.2019 (S. 44)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 29, 2019 9:13:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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Klare, lichte Zukunft 

Eine radikale Verteidigung des Humanismus

von Paul Mason, geb. 1960 in Leigh, ist ein englischer Autor und vielfach ausgezeichneter Fernsehjournalist. Er arbeitete lange für die BBC und Channel 4 News und schreibt regelmäßig für den Guardian.

Übersetzung: Stephan Gebauer
Verlag: Suhrkamp
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 415 Seiten
Erscheinungsdatum: 13.05.2019
Preis: € 28,80

Kurzbeschreibung des Herstellers:

Stellen Sie sich vor, Sie geben die Kontrolle über große Teile Ihres Lebens an ein Computerprogramm ab, von dem es heißt, es regele das Zusammenleben effektiver als jeder Staat. Was vielen als undenkbar erscheinen mag, erweist sich als bittere Realität, wenn man »Computerprogramm« durch »Markt« ersetzt. Ging der Kapitalismus bislang mit liberalen Freiheitsrechten einher, so nimmt er unter Herrschern wie Putin oder Trump zunehmend autoritäre Züge an. Können diese nun auch noch auf die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz und digitaler Überwachung zurückgreifen, ist der Mensch als autonomes Wesen in Gefahr.

Um die Werte der Aufklärung in die Zukunft zu retten, legt Paul Mason eine radikale Verteidigung des Humanismus vor. Ausgehend von Karl Marx’ Frühschriften entwirft er ein Bild vom Menschen, das ihn als ein selbstbestimmtes und zugleich gemeinschaftliches Wesen zeigt. Mason begleitet uns an die Orte vergangener und gegenwärtiger Kämpfe um Würde und Gerechtigkeit, von der Pariser Kommune über das von der Sparpolitik gebeutelte Griechenland bis hin zum Protest indigener Aktivisten auf der Inselgruppe Neukaledonien. Die Erben der Frauen und Männer auf den Barrikaden von damals, so Mason, sind die vernetzten Individuen von heute. Paul Mason, geboren 1960 in Leigh, ist ein englischer Autor und vielfach ausgezeichneter Fernsehjournalist. Er arbeitete lange für die BBC und Channel 4 News und schreibt regelmäßig für den Guardian.

Posted by Wilfried Allé Friday, May 24, 2019 12:48:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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Herrschaft der Niedertracht 

Warum wir so nicht regiert werden wollen!

von Robert Misik

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Verlag: Picus Verlag
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Politik
Umfang: 144 Seiten
Erscheinungsdatum: 01.03.2019
Preis: € 15,00


Rezension aus FALTER 20/2019

Misiks Handreichung

Robert Misik – der auch regelmäßig für den Falter schrieb – gehört zu Österreichs „linken“ politischen Publizisten. Jährlich legt er ein Buch vor, das den Stand der Debatten seines Milieus brillant und kurzweilig auf den Punkt bringt. Im Wien der vorletzten Jahrhundertwende wäre er einer der mit spitzer Feder bewaffneten Haudegen gewesen, deren Kritiken und Feuilletons in den Cafés der Hauptstadt debattiert wurden. Im Wien der Nuller- und Zehnerjahre folgten ihm Tausende auf seinem Videoblog FS Misik auf Standard Online, den er mittlerweile über seine Homepage betreibt, und über 80.000 Menschen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Misik kann mit den neuen, sozialen Medien, Misik kann aber vor allem Buch und da vor allem politisches Feuilleton. Sein neues Buch „Herrschaft der Niedertracht“ bilanziert pointiert und bewusst polemisch den politischen Stand der Dinge in Österreich im europäischen Kontext. Kanzler Sebastian Kurz wird von ihm auf wenigen Seiten ebenso als inhaltsleerer Machtpragmatiker analysiert wie sein Autoritarismus, ebenso aber auch die Schwächen seiner politischen Gegner, der „Identitäts-Linken“. Das macht es zur Lesefreude für Anhänger wie Kritiker der herrschenden Umstände.

Denn auch wer Misiks Haltung nicht teilt, wird sich an seinem Stil erfreuen. Misik schreibt in der Tradition eines Josef Haslinger oder frühen Robert Menasse. 1987 hatte Haslinger mit seinem Essay „Politik der Gefühle“, 1996 Menasse mit „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist“ die verdichtete Auseinandersetzung mit Österreichs Vergangenheit, Gegenwart und Politik zur literarischen Form erhoben. „Politik mit Gefühlen, aber mit miesen“, schreibt nun Misik. „Die Rohheit ist im Amt und der Zynismus an der Macht. Dabei ist es eine Angstkultur, die benutzt und ausgebeutet wird. Angst vor dem Abstieg. Angst, dass der Boden unter den Füßen nicht mehr sicher ist. Diese Angst ist der Stoff, aus dem die Politik der Rohheit ihre täglichen Kampagnen schmiedet und ihre Gemeinheiten zusammenknetet.“

Barbaba Tóth in FALTER 20/2019 vom 17.05.2019 (S. 19)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, May 15, 2019 7:24:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Politik
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Karl Polanyi 

Wiederentdeckung eines Ökonomen

von Armin Thurnher (Hg.), Brigitte Aulenbacher (Hg.), Andreas Novy (Hg.), Markus Marterbauer (Hg.)

EAN: 9783854396277
Verlag: Falter Verlag
Format: Gebundene Ausgabe
Umfang: 216 Seiten
Erscheinungsdatum: 29.04.2019
Preis: € 19,90


Karl Polanyi (1886–1964) gilt als einer der großen Denker der Sozialwissenschaft und Ökonomie. Geboren in Wien, aufgewachsen in Budapest, kehrte er nach dem Ersten Weltkrieg in seine Geburtsstadt zurück. 1933 emigrierte er nach England und ging später in die USA. Dort verfasste er während des Zweiten Weltkriegs sein bekanntestes Werk „The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen“, das heute zu den Klassikern der Soziologie zählt.
Polanyi betätigte sich als Sozialwissenschaftler, Ökonom, Journalist, Historiker und Anthropologe. Er prägte Kategorien wie jene von der „Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft“ oder der „Doppelbewegung“, die längst Standard im sozialwissenschaftlichen Diskurs sind. Die Tatsache, dass seine Arbeiten auch fünfzig Jahre nach seinem Tod immer noch aktuell sind, resultiert auch aus der Bedeutung, die marktfundamentalistische Ideen erneut gewonnen haben.
Mit Beiträgen u.a .von Michael Brie, Sabine Lichtenberger, Peter Rosner, Elisabeth Springer, Claus Thomasberger u.v.a. sowie einem Interview mit Kari Polanyi Levitt, der Tocher Karl Polanyis, geführt von Michael Burawoy.

Wir verzichten bei diesem Buch im Sinne der Umwelt auf die Verpackung mit Plastikfolie.
 

Rezension aus FALTER 18/2019

Schlag nach bei Karl Polanyi

Eine Konferenz und ein Buch widmen sich dem bedeutenden Ökonomen

Es gehört zu den typischen Wendungen im Gespräch mit rechten Partnern, dass sie einem Linken sogleich unterstellen, er sei ein Feind der Freiheit. Der Neoliberalismus, die seit den 1970er-Jahren im atlantischen Westen dominierende Ideologie, führt sie ja schon im Namen, libertas, die Freiheit, und er bezieht einen guten Teil seiner Attraktivität aus dem Versprechen, das er vermeintlich bietet: mehr Freiheit.

Die Linke aller Schattierungen befindet sich dagegen in der Defensive. Es gibt genug am Neoliberalismus zu kritisieren, seine falsche Voraussetzung (das rational handelnde Individuum), seine überbordende Ungerechtigkeit (allzu ungleich verteilte Einkommen), seine offensichtlich falsche Verteufelung alles Staatlichen (man denke an all die privat verantworteten Desaster, von der Reaktorkatastrophe in Fukushima über den Börsenkrach von 2008 bis zur eingestürzten Autobahnbrücke in Genua). Aber was immer die Linke kritisiert, wird durch die stereotype Behauptung entkräftet, sie sei die Feindin der Freiheit.

Voller Verzweiflung blickt die Linke auf eine „Neue Rechte“, die sich in Gestalt des französischen Intellektuellen Alain de Benoist oder der amerikanischen Alt-Right neuerdings wieder antikapitalistisch gibt. Deren Galionsfigur Steve Bannon versuchte sogar, den Erzschwindler Donald Trump als Antikapitalisten zu verkaufen. Selbst hier schüttelte die Linke besorgt das Haupt, als die Menschen an den Kohlegruben und im Rust Belt den Donald wählten. Dessen Antikapitalismus hat sich als kolossaler Humbug herausgestellt, keine Rede von der versprochenen Regulierung der Wall Street und der Trockenlegung der Washingtoner Lobbyistensümpfe. Aber er besetzte erfolgreich linke Themen bis hin zum Protektionismus.

Was soll die Linke tun, wenn die Rechte nun beginnt, Liberalismus und Kapitalismus zu kritisieren oder gar darangeht, linke Theoretiker wie Antonio Gramsci linkisch einzugemeinden? Sie sollte sich nach Karl Polanyi umsehen. Dieser in Wien geborene, 1933 nach London emigrierte Österreicher war Ökonom und Historiker und publizierte in den USA ein Buch, das die Londoner Times 1977 zu den „größten Büchern des 20. Jahrhunderts“ zählte. „The Great Transformation“, so heißt es auch auf Deutsch, handelt von der großen Umwandlung, die alles dem Markt unterwirft. Und es erzählt von der Gegenbewegung gegen diese Vermarktlichung von allem, die alles zur Ware machen möchte. Diese Gegenbewegung fällt immer doppelt aus, als Doppelbewegung. In den 1930er-Jahren bildeten die Totalitarismen Faschismus und Stalinismus und zugleich auch die Versuche, sich auf nichttotalitäre Weise vom Marktzwang zu befreien, wie etwa das Rote Wien, das Polanyi zeitlebens als prägend betrachtete, eine solche Gegenbewegung.

Das Wichtigste an Polanyis Thesen: Es geht ihm immer um Freiheit. Sein Buch sollte als Gegenbuch zu dem eines anderen Österreichers gelesen werden, zu Friedrich August Hayeks „Weg zur Knechtschaft“. Beide Werke erschienen 1944, beide standen unter dem Eindruck von Faschismus und Kommunismus. Hayek setzte sein Werk als Ausgangspunkt einer durchchoreografierten intellektuellen Offensive in die Welt, die zuerst in akademischen Kreisen Anerkennung finden sollte, ehe sie politisch zu wirken begann.

Ab Anfang der 1970er-Jahre war es dann so weit. Polanyi hingegen, zeitlebens mehr als Volksbildner und akademischer Lehrer denn als Ideologe unterwegs, fand seine Vorstellungen im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsjahre ansatzweise verwirklicht und wollte sich nicht vorstellen, dass diese sozialstaatliche Einhegung des Kapitalismus je wieder zurückgenommen werden würde. Er gehört in die Bretton-Woods-Ära (1945–73) und zum Keynesianismus. Vielleicht hat nicht nur das verspätete Erscheinen einer deutschen Übersetzung (erst 1977!) die Rezeption seines Werks hierzulande behindert und verzögert. Im angelsächsischen Raum war das anders; dort wird Polanyi seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. In den letzten Jahren ist sogar eine deutliche Belebung dieser Debatte zu verzeichnen.

Polanyis Konzept einer in das Wirtschaftsleben eingebetteten Gesellschaft (statt einer in die Gesellschaft eingebetteten Wirtschaft) ist Ausgangspunkt zahlreicher kritischer Diskurse. Das Programm der britischen Labour Party beruft sich ebenso auf Polanyi wie der demokratische Präsidentschaftskandidat und Senator Bernie Sanders. Das konservative Magazin Economist widmete Polanyi ebenso große Artikel wie der New Yorker oder die New York Times. Diese erklärte dessen Buch zu den bedeutendsten Werken der Emigration. Dass Polanyis Tochter Kari Polanyi-Levitt in Kanada lehrte und den Nachlass und das Werk ihres Vaters betreute, trug vielleicht zu diesem Überwiegen der Polanyi-Rezeption im angelsächsischen Raum bei.

Österreich wird nun zum Ausgangspunkt einer europäischen Polanyi-Renaissance. Die Soziologin Brigitte Aulenbacher, Professorin an der Johannes Kepler Universität Linz, organisierte 2017 einen Polanyi-Kongress in Linz; 2018 wurde in Wien im Rahmen eines zweiten Polanyi-Kongresses die International Karl Polanyi Society gegründet. Ort der Gründung war die Wiener Arbeiterkammer, als Reverenz an das von Polanyi so sehr geschätzte Rote Wien. Präsident der Gesellschaft wurde der Ökonom Andreas Novy, Professor am Department für Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien; Aulenbacher wurde Vizepräsidentin.

Angeregt durch diesen Kongress erschien im Falter die Beilage „Transformation des Kapitalismus?“, die Werk und Wirkung Polanyis dokumentierte. Pünktlich zum dritten Polanyi-Kongress, der von 1. bis 5. Mai in Wien und Budapest stattfindet, erscheint diese Beilage, überarbeitet und um einige Texte erweitert, nun als Buch.

Zum Kongress selbst, der ab 3. Mai im Wiener Radiokulturhaus Station macht, werden Kari Polanyi-Levitt und der in Harvard lehrende Ökonom Dani Rodrik mit Keynotes erwartet. Der ehemalige EU-Kommissar László Andor wird ebenso sprechen wie Polanyis englischer Biograf Gareth Dale (mit einem Essay auch im Buch vertreten), der in Vancouver lehrende Geograf Jamie Peck und Marguerite Mendell, Direktorin des Karl Polanyi Institute of Political Economy in Montreal.

„Wenn die Wirtschaft und der Markt zu Taktgebern der Gesellschaft werden und alles zur Ware gemacht wird, werden die Lebensgrundlagen zerstört. Karl Polanyi hat dies für die bloß ‚fiktiven Waren‘ Land (Natur), Arbeit, Geld eindringlich beschrieben. Statt das Leben zu ‚vermarkten‘, muss Wirtschaft lebensdienlich sein“, stellt Brigitte Aulenbacher gleichsam als Motto der Polanyi-Konferenz voran.

Armin Thurnher in FALTER 18/2019 vom 03.05.2019 (S. 16)

Posted by Wilfried Allé Thursday, May 2, 2019 8:21:00 AM Categories: Politische Ökonomie Wirtschaftssoziologie
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Haltung 

Flagge zeigen in Leben und Politik

von Reinhold Mitterlehner

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Verlag: Ecowin
Format: Hardcover
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Umfang: 208 Seiten
Erscheinungsdatum: 17.04.2019
Preis: € 24,00

Rezension aus FALTER 16/2019

Der Kronzeuge der Kurz-Revolution

Zwei Jahre nach seinem Rücktritt legt Reinhold Mitterlehner offen, wie er die Machtübernahme der ÖVP durch Sebastian Kurz erlebt hat. Ein Kapitel politischer Zeitgeschichte gehört neu geschrieben

Es waren über 500 SMS, die Reinhold Mitterlehner auf seinem Handy fand, nachdem er die für ihn wohl schwierigste Pressekonferenz seines Lebens gegeben hatte. „Sagen Sie einmal: ‚Ich trete von all meinen Ämtern zurück‘, und zwar Wort für Wort“, hatte ihm sein Pressesprecher wenige Minuten davor noch geraten, bevor er am 17. Mai 2017 in der ÖVP-Parteizentrale in der Wiener Lichtenfelsgasse vor die Kameras trat. „Darüber sind schon viele gestolpert.“

Mitterlehner stolperte nicht, weder über den einen noch über die anderen Sätze, mit denen er sich als ÖVP-Chef und bis dato letzter Vizekanzler einer großen Koalition verabschiedete. Er wolle kein Platzhalter sein, keiner, der an einem Amt klebe, erst recht nicht, wenn in der Koalition „Regierungsarbeit und gleichzeitig Opposition“ betrieben werde.

Fast zwei Jahre sind seither vergangen, und oft wurde Mitterlehner gefragt, was denn die wirklichen Gründe gewesen seien, aus denen er sich damals zurückgezogen habe. Jetzt sind sie in Buchform nachzulesen. „Haltung“ hat Mitterlehner seine biografische Skizze genannt, in der er nicht nur seine Sicht des Machtwechsels in der ÖVP offenlegt, sondern auch erzählt, warum gerade er, der Sohn eines Mühlviertler Gendarmen und einer Hausfrau, erstes von fünf Geschwistern, bis zum Schluss an die große Koalition als bessere Regierungsform geglaubt hat und immer noch glaubt. Er sieht sich als Kind der Aufstiegsgesellschaft der Zweiten Republik, die er immer noch schätzt und warnt vor der „Dritten Republik“, vor dem Rechtspopulismus Sebastian Kurz’ und der Digitalisierung der ÖVP-Parteienstruktur.

Abrechnung, Rache, Richtigstellung – das sind die Schlagworte, unter denen Mitterlehners Werk in den Medien eingeordnet wird. Dabei ist es mehr als das. Mitterlehner schreibt im Bewusstsein, Zeitzeuge einer historischen Umbruchsphase zu sein. Die Finanzmarktkrise 2008, die Flüchtlingskrise 2015 und natürlich die Machtübernahme Sebastian Kurz’ in der ÖVP im Jahr 2017 sind drei Schlüsselmomente, die er aus nächster Nähe miterlebt hat. Er berichtet darüber nicht mit Schaum vor dem Mund, sondern mit der ihm eigenen trockenen Nüchternheit, die ihn schon als Politiker auszeichnete und ihm zwar über die Jahre viel Respekt, aber keine große Empathie eintrug.

Berichten, wie er es erlebt hat, aufzeichnen, was aus seiner Sicht passiert ist. Die Hoheit des Erzählers nicht jenen überlassen, die jetzt an der Macht sind, das sind Mitterlehners Motive. Sein Buch soll Zeugnis und historische Quelle zugleich sein, vor allem für die Jahre 2016 und 2017, die Österreichs Politik durcheinanderwirbelten wie kaum zwei andere und, historisch gesehen, den Wechsel von der Zweiten zur Dritten Republik markierten.

2016 fanden nicht nur die Präsidentschaftswahlen statt, bei denen erstmals keiner der beiden großkoalitionären Kandidaten eine Mehrheit bekam, sondern letztlich, nach einer zuerst aufgehobenen und dann auch noch verschobenen Stichwahl, Alexander Van der Bellen, der von den Grünen, im zweiten Wahlgang dann auch von der SPÖ, Teilen der Neos und einigen Bürgerlichen unterstützt wurde.

2016 wurde auch der damalige SPÖ-Chef und Bundeskanzler Werner Faymann vom ÖBB-Boss Christian Kern unfreiwillig abgelöst. Mitterlehner war damals ÖVP-Chef und Vizekanzler, Kurz Außenminister. Mitterlehner sei für Kurz völlig überraschend zurückgetreten, weil er mit dem neuen SPÖ-Chef Kern nicht zurande gekommen sei, so lautet die türkise Version der Geschichte. Die große Koalition sei gescheitert, Kurz habe sie überwunden und regiere jetzt mit „neuem Stil“.

Mitterlehner erinnert sich an diese Phase in seinem Buch entschieden anders. Kurz wollte schon im Mai 2016, gleich nachdem Kern SPÖ-Chef und Kanzler geworden war und in den Umfragen abhob, in Neuwahlen gehen. Bereits im März gab er beim Meinungsforscher Franz Sommer eine Meinungsumfrage in Auftrag, um seine Chancen als ÖVP-Spitzenkandidat auszuloten. Plus 15 Prozent seien drinnen. Als ihm die ÖVP damals jedoch den Absprung in Neuwahlen verweigerte, begann er damit, die Koalitionsarbeit systematisch zu zermürben und seine Machtübernahme vorzubereiten.

Was ihm die ganze Zeit über fehlte, war einer, der ihm die undankbare Rolle des Sprengmeisters der Koalition abnahm, also die SPÖ so sehr sekkierte, bis vielleicht Kern von sich aus das Handtuch werfen würde. Selber wollte er das keinesfalls, das hätte sein wohl gehütetes Image als Messias, der sich „am gegenseitigen Anpatzen nicht beteiligt“, zerstört. Mit diesem Slogan zog Kurz später in den Wahlkampf.

Mitterlehner erinnert sich an ein entscheidendes Gespräch zwischen ihm und Kurz am 11. Mai 2016, am Tag nach dem Parteivorstand, als die Partei sich gegen die von Kurz gewünschten Neuwahlen entschied. Es war der Wendepunkt in ihrer politischen Beziehung. Mitterlehner solle die Koalition sprengen, er habe die dafür notwendige Glaubwürdigkeit, bot Kurz ihm an. Als Dankeschön könne er sich dann aussuchen, was er werden wolle. Parlamentspräsident oder etwas Ähnliches.

Mitterlehner erbat sich Bedenkzeit und sagte ihm dann sinngemäß mit folgender Begründung ab. „Wenn ich den Koalitionsbruch provoziere und es geht schief, hält mich jeder in der Partei für einen Wahnsinnigen. Wenn wir die Wahlen verlieren oder wieder Zweiter werden, die Konstellation also gleich bleibt oder wir gar nicht mehr in der Regierung sind, genauso. Gewinnst du tatsächlich und ist richtig, was du sagst, dann bleibt über, dass du der Sieger bist, der Mitterlehner aber der Sprengmeister war. Also was soll das für eine Option sein?“ Dafür zeigte Kurz Verständnis, sagte seinem Parteichef aber auch, dass er ab jetzt mit seinen „Problemen alleine bleibe und die volle Verantwortung tragen müsse. Er würde die Rolle des Außenministers wahrnehmen und sonst nichts.“

Letztlich war es der damalige Innenminister – und nunmehrige Nationalratspräsident – Wolfgang Sobotka, der im Frühling 2017 den Sprengmeister für Kurz machte.

Mitterlehner weigerte sich bis zum Schluss, jene Regierungsform zu vernichten, mit der sich der gelernte Sozialpartner am meisten identifizierte: die große Koalition. Im Gegenteil, er kämpfte bis zuletzt um sie. Anfang 2017 hatten Kern und Mitterlehner noch versucht, das Regierungsübereinkommen nachzubessern. Die Verhandlungen Ende Jänner wurden zum Polit-Krimi, weil Sobotka seine Unterschrift unter den neuen rot-schwarzen Pakt verweigerte. Es war aber nicht nur Sobotka, der in diesen brenzligen Wintertagen die Regierungsarbeit sabotierte, sondern auch Kurz höchstpersönlich, schildert Mitterlehner.

Über Kurz’ Rolle beim Bruch der Koalition ist bislang nur spekuliert worden, einige Details, die Mitterlehner schildert, sind komplett neu. Noch am vorletzten Verhandlungstag, Samstag, dem 28. Jänner 2017, kündigte Kurz dem engsten ÖVP-Verhandlerkreis an, ebenfalls nicht zu unterzeichnen. Kurz nach Mitternacht bat der Außenminister Mitterlehner und dessen Staatssekretär Harald Mahrer ins Ringstraßenhotel Le Meridien und forderte vom Vizekanzler erneut, nicht abzuschließen. Mitterlehner erinnert sich unter anderem so genau an die Begegnung, weil er seine Brieftasche mitten am Tisch vergaß, auf dem auch einige leere Gin-Tonic-Gläser standen.

Mitterlehners Vergangenheitsaufarbeitung kommt für Sebastian Kurz zur Unzeit. Der 32-jährige ÖVP-Chef und Bundeskanzler ist ungebrochen populär, aber die in den ersten 17 Monaten zur Schau gestellte Harmonie in der türkis-blauen Koalition schwindet. Vizekanzler Heinz-Christian Strache ist mit der Identitären-Affäre in die internationalen Schlagzeilen geraten. Ein Regierungspartner mit rechtsextremen Kontakten, das passt so gar nicht in Kurz’ Drehbuch.

Und es regt sich etwas im christlich-sozialen Lager. Die Proteste sind überschaubar, aber in Summe trotzdem nicht zu übersehen. Da ist die breite Bürgerbewegung „Uns reicht’s“ in Vorarlberg, die sich gegen die Ausländerpolitik der FPÖ in der Regierung stellt. Der Städtebund protestiert gegen das Regierungsvorhaben, Asylwerbern, die in Gemeinden Gärten pflegen, Schüler lotsen oder andere gemeinnützige Dienste tun, nur mehr maximal 1,50 Euro „Arbeitslohn“ auszuzahlen. Letzten Sonntag sprach Kardinal Christoph Schönborn in der ORF-„Pressestunde“ aus, was sich viele Bürgerliche bisher nur im Stillen gedacht haben. Er mache sich „Sorgen um die Asylpolitik“. Asylwerber werden unter Generalverdacht gestellt, das Schild „Ausreisezentrum“ am Tor der Erstaufnahmestelle Traiskirchen sei „einfach unmenschlich“.

Und jetzt steht auch die immer wieder wiederholte Erzählung seiner unbefleckten Obmann-Empfängnis in Zweifel. War Kurz wirklich der edle Retter aus der Not, der sich aufopferte und die darniederliegende Volkspartei, von Mitterlehners Rücktritt überrascht und überrumpelt, übernahm und bei den darauffolgenden Neuwahlen zum Sieg führte?

Tatsächlich lag die ÖVP unter Mitterlehner im Frühjahr 2017 in den Umfragen mal knapp unter, mal knapp über der 20-Prozent-Marke. Kaum übernahm sie Kurz im Mai, schnellte sie auf stabile 30 Prozent und gewann die Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017 mit 31,5 Prozent. Nicht einmal Mitterlehner glaubt mittlerweile, dass er bei Wahlen als Obmann dieses Ergebnis hätte einfahren können.

Aber das mit dem Überrascht- und Überrumpelt-Sein, das wird spätestens nach der Lektüre von Mitterlehners Erinnerungen nicht mehr haltbar sein. Das Image des makellosen Messias ebenso wenig. Stattdessen zeigt sich im Rückblick ein Machtpolitiker erster Güte, dem Risiko nicht fremd ist. Und der die Wahrheit auch nur eine Tochter der Zeit nennt, wie einst der rechtskonservative ÖVP-Vordenker Andreas Khol.

Erste Zweifel an Kurz’ unschuldiger Version der Machtübernahme hätten genaue Beobachter schon am 14. Mai 2017 haben können, als Kurz nach dem ÖVP-Parteivorstand das erste Mal als designierter neuer ÖVP-Chef vor die Presse trat. Vom neuen Parteinamen über die neue Parteifarbe bis zum Social-Media-Auftritt wirkte alles wie aus einem Guss. Keine Spur von Improvisation, sondern perfekt vorbereitet.

Im September 2017 tauchte dann ein ganzes Konvolut von Dokumenten aus dem Umfeld Kurz’ auf, das nahelegte, dass Kurz seine Machtübernahme lang vorher minutiös vorbereitet hatte. Der Falter veröffentlichte die „Kurz-Leaks“ fast vollständig auf seiner Homepage im Original. Inzwischen sind sie im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte nachzulesen – als historisches Dokument und Quellenmaterial für Historiker, die später einmal über die Ära Kurz forschen wollen. Seine Wahlkampf- und mittlerweile Regierungsstrategie, als eine Art höflicherer Strache aufzutreten, findet sich dort ebenso wie „FPÖ-Themen, aber mit Zukunftsfokus“ als Grundlinie des Wahlprogramms. Teil der Unterlagen ist auch das Projekt „GSK“, das Kurz im Mai 2016 startete, also kurz nachdem er damit gescheitert war, die ÖVP in schnelle Neuwahlen zu treiben. Damals verhandelten Vertraute der Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss, Kurz’ und des damaligen Neos-Chefs Matthias Strolz über eine mögliche Wahlplattform nach dem Vorbild von Emmanuel Macrons En Marche!

Wie lief das konkret ab? Da bereitet der eine, die Zukunftshoffnung, die Machtübernahme vor, während der andere, der offizielle Amtsinhaber, so tut, als wäre nichts? Im Idealfall ist so eine Doppelstrategie abgesprochen und damit sehr professionell, eine ideale Amtsübergabe. Im schlimmsten Fall ist sie „systematische Illoyalität“, wie es Mitterlehner in „Haltung“ nennt, mit einem Fragezeichen. Denn Mitterlehner überlässt es seinen Lesern, sich ein Urteil zu bilden über jene Monate, in denen er zwar noch formal Parteichef war, aber Kurz schon die Geschicke der Partei lenkte. „Faktisch gab es in dieser Phase zwei ÖVP-Chefs, mich, den offiziellen, und einen inoffiziellen, gewissermaßen heimlichen, nämlich Sebastian Kurz. Er baute eine Art Parallelimperium auf mit wöchentlichen Parallelbesprechungen, meistens sonntags. Bei unseren regulären Sitzungen war dann deutlich spürbar, dass Dinge vorbesprochen und anders akkordiert worden waren und ich mehr oder weniger ein Potemkin’sches Dorf führte. Für mich wäre es ein Befreiungsschlag gewesen, auch öffentlich sagen zu können, dass Kurz unser Spitzenkandidat sei. Das wollte er jedoch partout nicht, denn ab dem Zeitpunkt wäre er natürlich sofort dem Feuer der Opposition ausgesetzt gewesen.“

Wie belastend das alles gewesen sein muss, ließ Mitterlehner nur einmal kurz durchschimmern, als er zu Jahresanfang 2017 bei Claudia Stöckls „Frühstück bei mir“ auf Ö3 zu Gast war und dabei auch erstmals öffentlich über die schwere Krankheit seiner ältesten Tochter aus einer früheren Beziehung sprach, die im Herbst zuvor gestorben war. Mit einem Mal war Mitterlehner, der unnahbare Wirtschaftskämmerer, der sich als ÖVP-Chef mit seinem Cartellverbands-Spitznamen „Django“ als cooler Macher inszeniert hatte, auch ein Mensch zum Mitfühlen und Angreifen.

Schon damals begann Mitterlehner ein Interesse an sich als Person zu spüren, das er so in der Politik nicht kannte. Menschen kondolierten ihm zum Tod seiner Tochter, nach seinem Rücktritt wollten sie wissen, wie alles wirklich war mit Kurz und den Türkisen. Trotzdem beschloss Mitterlehner nach seinem Rücktritt, sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Interviewanfragen lehnte er ab, stattdessen ließ er sich von einem Coach dabei unterstützen, den Schritt in sein neues Leben als Unternehmer und Privatperson besser hinzukriegen.

Prozesse mit Unterstützung besser zu organisieren, Verwaltung bürgernäher machen, den Staat optimieren – das waren immer schon Lieblingsthemen des promovierten Juristen, der es nur dank seiner Tante, die gleichzeitig seine Volksschullehrerin war, ans Gymnasium und dann auf die Universität Linz schaffte. Mitterlehners wilde Jahre währten kurz, dazu gehörten lange Haare, Schlaghosen und die Geburt seiner ersten Tochter, da hatte er gerade erst zu studieren begonnen. Dass sich das Leben nicht in festgefügte Schemata pressen lässt, erfuhr Mitterlehner früh, und entsprechend unorthodox und gleichzeitig pragmatisch positionierte er sich dann auch als Nationalratsabgeordneter.

Er trat für eine gemeinsame Schule ein, als das in der ÖVP noch ein No-Go war, dafür, dass sich Österreich endlich als Einwanderungsland verstehen und das Potenzial der „Ausländer“ nutzen soll und für eine modernere Frauenpolitik. Für einen ÖVPler forderte er so progressive Dinge wie ein einkommensabhängiges Karenzgeld und bessere Kinderbetreuung, auch für die Kleinsten. Das brachte ihm den Ruf ein, ein wenig unberechenbar und mitunter stur zu sein, und verzögerte seine politische Karriere.

Erst mit 53 wurde Mitterlehner 2008 Wirtschaftsminister, und dass er 2014 ÖVP-Chef wurde, war auch mehr Zufall. Sein Vorgänger Michael Spindelegger schmiss alles hin, ohne einen Nachfolger zu designieren, Mitterlehner ergriff die verspätete Chance. Er war nie der Herzenskandidat seiner Partei, er war von Anfang an als Übergangsobmann punziert, schließlich war der um 31 Jahre jüngere Kurz seit 2013 als Staatssekretär für Integrationsfragen der heimliche Star.

Mitterlehner und Kurz trennt nicht nur eine ganze Generation, sie haben auch ein völlig anderes Politikverständnis. Mitterlehner ist Großkoalitionär und Sozialpartner durch und durch, sozialisiert im mitunter mühseligen, aber aus seiner Sicht sinnvollen Suchen nach dem gesellschaftspolitischen Konsens, der die Zweite Republik prägte. Entsprechend kritisch fällt in „Haltung“ sein Blick auf seinen Nachfolger aus.

Er sieht Kurz als letztlich sachpolitisch desinteressierten Marketingpolitiker, der nur umsetzt, was Umfragen gerade als beliebt prognostizieren. Und weil sich derzeit mit Stimmungsmache gegen Fremde gut regieren lässt, werden alte Wertmaßstäbe bedenkenlos beiseite geschoben. Egal ob Familienbeihilfe, Mindestsicherung oder Auszubildende: Menschen erhalten unter Türkis-Blau vom Staat unterschiedlich hohe Zuwendungen, je nachdem, ob sie Migrationshintergrund haben oder nicht, schreibt Mitterlehner. Die Sorge, dass sich Österreich auf dem Weg in eine autoritäre, illiberale Demokratie befinde, bewegte Mitterlehner am Ende auch dazu, seinen Rückzug zu beenden und als Buchautor in die öffentliche Debatte zurückzukehren. „Demokratie heißt nicht zentrale Führung, Demokratie lebt von freier Meinung, Partizipation und der Vielfalt in unserer Gesellschaft“, schreibt er. „Genau dazu, zum Nachlesen und Nachdenken, möchte mein Buch ein Beitrag sein.“

Die türkisen Kommunikatoren beeilten sich, Mitterlehners Werk bereits im Vorfeld als Elaborat eines Gekränkten abzustempeln. „Mitterlehner und Christian Kern haben sich wiederholt getroffen. Kern steckt hinter der Idee, dass Mitterlehner ein Abrechnungsbuch“ schreibe, wurde ein „hochrangiger Türkiser“ in der Gratis-Boulevardzeitung Österreich Anfang Februar zitiert. Die Kronen Zeitung spekulierte, dass es wohl kein Zufall war, dass sich Mitterlehner eine Redakteurin des kanzlerkritischen Falter als „Schreibhilfe“ holte.

Dabei ist es gängige Praxis, dass Politiker oder Prominente ihre Autobiografien oder Erinnerungen mit Hilfe eines Publizisten verfassen. Politiker zu sein und lange Texte zu schreiben sind kaum vereinbar, die Kultur des geschriebenen Wortes hat im zerstückelten und durchgetakteten Alltag der Spitzenpolitik keinen Platz. Auch für Mitterlehner war das Buchschreiben eine neue Erfahrung. Der 1955 geborene hat seine Karriere stets mit Assistenten, Sekretären und Sprechern verbracht und wenn, dann Reden, Buchbeiträge oder Vorworte diktiert. Mittlerweile tippt er selber, und das ganz schön flott.

Barbaba Tóth in FALTER 16/2019 vom 19.04.2019 (S. 11)

Posted by Wilfried Allé Wednesday, April 17, 2019 12:18:00 PM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft
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"Was genau war früher besser?" 

Ein optimistischer Wutanfall

von Michel Serres

Übersetzung: Stefan Lorenzer
Verlag: Suhrkamp
Format: Taschenbuch
Genre: Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Umfang: 80 Seiten
Erscheinungsdatum: 10.03.2019
Preis: € 12,40

Rezension aus FALTER 11/2019

Die gute alte Zeit war meistens eher schrecklich

Die Franzosen scheinen den Österreichern und besonders den Wienern nicht unähnlich zu sein. Glaubt man dem Philosophen und Mitglied der renommierten Académie française Michel Serres, sind sie ein Volk von Nörglern, besonders, wenn sie älter werden. Also potenziert sich das Phänomen mit dem Ansteigen der Lebenserwartung.

Worüber raunzen die Franzosen? Über alles! Denn früher, da war alles besser. Diese Haltung lässt dem selbst bereits 88-Jährigen nun den Kragen platzen. Unter dem Titel „Was genau war früher besser?“ leistet er sich einen genussvollen Wutanfall. Denn das meiste war seiner Meinung nach entschieden schlechter: die Lebensdauer, die Medizin, Arbeit, das Reisen, die sozialen Beziehungen, die Kommunikation – und vor allem: der Krieg.

Serres wuchs in einer Schifferfamilie an der südwestfranzösischen Garonne auf. Seine Familie hatte jahrhundertelang nichts als Krieg gekannt. Dieser kostete nicht nur Millionen Tote, sondern brachte auch eine ungesunde Erregung und Misstrauen in das private Leben. Dagegen lobt Serres die „neutrale Beiläufigkeit“ und „zivile Unaufgeregtheit“ der heutigen Beziehungen.

Als Gegenpart zum von ihm so genannten „Meckergreis“, der der guten alten Zeit und vergangener nationaler „Größe“ nachtrauert, dient ihm eine Vertreterin der Enkelgeneration namens „Däumelinchen“. Sie verteidigt Serres so entschlossen wie wortgewaltig gegen die Anschuldigungen von Verweichlichung und des überzogenen Handykonsums.

Plastisch erzählt er von seiner Kindheit: dem Wäschewaschen zweimal im Jahr, dem schweißtreibenden Steineschaufeln, dem lebensgefährlichen Transport eines neuen Krans durch halb Frankreich, vom Spott, den ihm sein okzitanischer Akzent in Paris eintrug, von der mangelnden sexuellen Aufklärung und den Maden im selbstgemachten Speck. Nur eines hat im Laufe der Zeit gelitten: „unser Schönheitssinn“, etwa in der Zone zwischen Stadt und Land. Eine erfrischende, Hoffnung machende Lektüre, die auch dazu geeignet wäre, „Däumelinchen“ das Jammern abzugewöhnen.

Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2019 vom 15.03.2019 (S. 34)

Posted by Wilfried Allé Sunday, March 31, 2019 10:24:00 AM Categories: Gesellschaft Sachbücher/Politik Wirtschaft/Gesellschaft
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